»Wenn es nichts gibt, gibt es alles zu tun«
Über die Gewalt der Gegenwart, die verbindende Kraft der Kultur und die Zukunft Haitis sprechen Eliezer Guérisme, Sephora Monteau und Stéphane Saintil
Interview: Lisa Brunke
Derzeit beschäftigen sich auch deutsche Medien wieder verstärkt mit der Situation in Haiti. Haitianer*innen kommen dabei selten zu Wort, stattdessen werden vielfach aus der Kolonialzeit vererbte rassistische Klischees reproduziert. Wir haben drei Haitianer*innen gefragt, wie sie die Lage vor Ort oder als Teil der Diaspora erleben.
Welchen Einfluss hat die politische Lage in Haiti auf euren Alltag?
Eliezer Guérisme: Was mich am meisten erschüttert, ist die Brutalität der Gewaltakte, die sich in Port-au-Prince ereignen. In den Whatsapp-Gruppen, über die wir Informationen teilen, werden täglich Todesmeldungen veröffentlicht; jeden Morgen entdecken wir Leichen auf den Straßen.
Séphora Monteau: Ich bin dankbar dafür, nicht in Port-au-Prince zu sein. Vor ungefähr einem Jahr bin ich mit meiner Familie nach Jacmel im Süd-Osten gezogen. Ich bin aus der Hauptstadt geflohen, weil ich nicht länger in täglicher Angst leben konnte.
Stéphane Saintil: Ich bin in Port-au-Prince geboren und habe bis 2020 dort gelebt. Im August 2023 wurde das Viertel Carrefour feuilles, aus dem ich komme, zu einem Schlachtfeld. Im Zuge einer neuen Offensive, deren Logik mir weiterhin undurchsichtig ist, sind die Gangs dort einmarschiert: Personen wurden umgebracht und Häuser angezündet, 310.000 Menschen wurden vertrieben. Beim Anblick der abgebrannten Häuser, der fliehenden alten Menschen, die das wenige, was sie retten konnten, mit sich tragen, ist etwas in mir zerbrochen. Seitdem scheint mir alles schwammig, und ich blicke auf mein Land mit einem schrecklichen Gefühl von Ohnmacht.
Eliezer Guérisme
ist ein haitianischer Schauspieler, Autor und Regisseur. Er ist künstlerischer Leiter des Festivals En Lisant und seit 2017 Programmdirektor des Nationaltheaters von Haiti. Als Schauspieler hat er unter der Regie mehrerer haitianischer und ausländischer Regisseure gespielt.
Séphora Monteau
ist eine in Haiti lebende Filmemacherin und Fotografin. Sie wurde in Port-au-Prince und Paris ausgebildet. Sie ist Mitbegründerin Filmemacherinnenkollektivs des Collectif L’Autre Regard. Außerdem ist sie Vizepräsidentin des Vereins SineNouvèl, wo sie das internationale Filmfestival Nouvelles Vues Haïti und den Workshop Femmes et Cinéma koordiniert.
Stéphane Saintil
ist ausgebildeter Soziologe. Von 2014 bis 2020 arbeitete er als Bibliotheksbetreuer im Kulturzentrum Katherine Dunham in Martissant (das wegen der Bedrohung durch Gangs schließen musste). Er ist Redakteur der haitianischen Zeitschrift für kreolische Kulturen DO-KRE-I-S und verließ Haiti 2020. Derzeit promoviert er an der Universität Basel.
Wie sieht es jenseits der Hauptstadt aus?
EG: Die anderen Regionen des Landes sind viel geringer betroffen. Mit Ausnahme von Artibonite, das weitestgehend unter der Kontrolle der Gangs und eines der am stärksten bevölkerten Departements ist. Dort werden die fruchtbaren Böden der Landwirt*innen geraubt, ihre Lastwägen mit Waren in Richtung der Hauptstadt und andere Regionen abgefangen und von den Banditen geplündert.
SM: Die Lage in Port-au-Prince verdeckt alles, was in den anderen Städten des Landes passiert und wofür die lokalen und internationalen Medien sich nicht interessieren. Es ist unbestreitbar, dass die Krise einen Einfluss auf die anderen Regionen hat, insbesondere auf die Lebenshaltungskosten. Doch wie lässt sich Hoffnung inmitten des Chaos schaffen, wenn man nicht auch von den anderen Städten, den Gemeinschaften, die Widerstand leisten, spricht? Ich bin Teil eines Kollektivs weiblicher haitianischer Filmschaffender. Wir filmen den Widerstand entlang der inspirierenden Geschichten, die sich in Jacmel ereignen. Dort, wie in den meisten anderen Städten der Provinz, gehen die Kinder weiterhin zur Schule, man kann in Ruhe seinen Geschäften nachgehen und leben, ohne Angst zu haben, getötet oder gekidnappt zu werden. In den abgelegenen Gemeinschaften im Süden und Südosten Haitis gibt es Basisorganisationen, denen ich sehr nahestehe. Wir führen dort soziokulturelle Projekte durch und dokumentieren das Leben und die Arbeit der Landwirt*innen vor Ort. Trotz der Abwesenheit von Staat und Infrastrukturen organisieren diese Gemeinschaften sich.
Ihr seid alle drei aktiv in der Kulturlandschaft. Welche Bedeutung haben Literatur, Kino und Kultur in Zeiten politischer Krisen?
EG: Die Künstler*innen sind von der Krise direkt betroffen. Orte der Kultur, religiöse Stätten, Schulen und Universitäten sind von den Kriminellen geplündert und/oder in Brand gesetzt worden, andere Orte waren gezwungen zu schließen. Die Kultur wurde mitten ins Herz getroffen. Wie kann man weiteratmen in einer Stadt, in der die Orte der Kultur nur noch Asche sind oder ihre Türen schließen mussten?
StS: Eine negative Antwort auf die Frage zu geben, was Literatur, Film, Musik angesichts einer derart schweren Krise leisten können, würde bedeuten, unsere lange Geschichte zu verkennen. Ob nun die Gruppe Kouidor, die während der Duvalier-Diktatur aktiv war, die Theaterstücke von Frankétienne oder auch die Lieder von Manno Charlemagne – Künstler*innen haben immer versucht, den Forderungen der Bevölkerung eine Form zu geben. Mehr noch: Kultur besitzt die Fähigkeit, Menschen zusammenzubringen.
Séphora, in deiner Arbeit setzt du dich auch mit patriarchalen Strukturen auseinander. Es wird nun von einem starken Anstieg sexualisierter Gewalt gegen Mädchen und Frauen berichtet. Wie können die Betroffenen unterstützt werden?
SM: Die Geschlechterungleichheit hat sich in dieser Krise verschlimmert. Frauen und Mädchen sind sehr vulnerabel und doppelt Opfer der Gewaltakte durch die bewaffneten Banden: Sie müssen aus ihren Häusern flüchten, verlieren ihre wirtschaftlichen Einnahmequellen. Zudem werden sie von den bewaffneten Männern angegriffen und vergewaltigt. Frauen stellen mehr als die Hälfte der Bevölkerung dar, aber die Politik war und ist immer noch eine Männersache, Gewalt übrigens auch. Seit einigen Tagen wird von der Einrichtung eines Übergangsrates gesprochen, der die Transition absichern und die nächsten Wahlen organisieren soll. Die einzige Frau in diesem Rat musste zurücktreten, weil sie sexistische Drohungen erhielt.
Die Anstrengungen feministischer Organisationen, um der Situation zu begegnen, müssen gestärkt werden. Es handelt sich dabei vor allem um den Aufbau von Unterstützungsnetzwerken unter Frauen, Aufnahmezentren und Betreuung für Überlebende der Gewalt, sowie um vorbeugende Sensibilisierungs- und Bildungsprogramme. Aber auch um Initiativen, die Druck auf die Autoritäten und Institutionen ausüben.
Ist der Diskurs in den haitianischen Medien eigentlich anders als in den großen internationalen Medien? Und gibt es Aspekte, die euch in der Berichterstattung fehlen?
StS: Eine fundamentale Frage hört man in westlichen Medien selten: Woher kommen die Kriegswaffen, und wie kommen sie in die Arbeiter*innenviertel des Landes? Der Kontrast zwischen dem schlechten Zustand dieser Viertel und den exorbitanten Preisen des Waffenmaterials, das von den Bandenmitgliedern zur Schau gestellt wird, ist frappierend. Und: Wäre die Situation genauso, wenn diese Bewaffneten sich einem echten Befreiungskampf verschrieben hätten? Wäre der Zugang zu diesen Waffen so einfach, wenn ihr Kampf den Interessen einiger westlicher Mächte in Haiti zuwiderlaufen würde?
EG: Wer kann den ausländischen Medien sagen, dass das Problem in Haiti nicht nur eine Frage der bewaffneten Banden ist? Wer kann ihnen sagen, dass der haitianische Zoll von korrupten haitianischen Politiker*innen, den USA und einigen großen haitianischen Exporteuren kontrolliert wird? Selbst die haitianischen Medien thematisieren das kaum. Das Versagen der haitianischen Gesellschaft ist auch das seiner Medien, die die ersten Verteidiger der Demokratie sein sollten, jedoch in ihre Sendungen jene politischen Akteur*innen einladen, die zu der Zerstörung des Landes beigetragen haben.
Die internationale Gemeinschaft hat in Haiti immer die Rolle von Brandstifter und Feuerwehr zugleich gespielt.
Eliezer Guérisme
Seit einigen Monaten diskutiert die internationale Gemeinschaft die Entsendung einer multinationalen Mission nach Haiti – es wäre nicht die erste. Haitianische Intellektuelle, u.a. Edwidge Danticat, betonen die Notwendigkeit eines von Haitianer*innen angeführten Ausweges aus der Krise. Wie seht ihr diese Debatte?
EG: Jacky Lumarque, Rektor der Quisqueya Universität in Haiti, sagte: »Der Haitianer ist heute allein. Allein, zuerst, in seinem eignen Land. Exiliert. Verlassen.« Diese Worte reflektieren die Wahrnehmung einer existenziellen Einsamkeit, ein Gefühl des Verlassenseins, das viele Haitianer*innen teilen. Die internationale Gemeinschaft hat in Haiti immer die Rolle von Brandstifter und Feuerwehr zugleich gespielt. Sie legt Feuer, in Komplizenschaft mit von ihr unterstützen korrumpierten und illegitimen haitianischen Regierungen, und kommt danach als Superheld angelaufen, um es zu löschen unter dem Vorwand, uns zu retten. Der einzige Weg für Haiti, um aus diesem Schlammloch rauszukommen, besteht darin, dass Haitis Bevölkerung ihre eigene Führung mit Hilfe von ehrlichen und glaubwürdigen Wahlen selbst bestimmt.
StS: Die Präsenz ausländischer Kräfte in Haiti hat eine lange Geschichte. Die Folgen dieser Interventionen für die haitianische Gesellschaft waren immer schädlich. Die letzte UN-Operation in Haiti verursachte eine Choleraepidemie mit knapp 20.000 Opfern. Eine bewaffnete Intervention kann vielleicht eine kurzfristige Lösung für die Krise in Haiti sein, doch eine echte Lösung kann nur eine sein, die sich aus einem Konsens der verschiedenen haitianischen Akteure über ein gemeinsames Gesellschaftsprojekt ergibt. Auffällig ist ein koloniales Kontinuum in der Art und Weise, wie die westlichen Mächte das haitianische Problem behandeln, indem sie jeder endogenen Lösung der Krise feindlich gegenüberstehen, da ihr System nicht vorsieht, dass Schwarze für sich selbst Entscheidungen treffen können.
SM: Ich habe trotz allem Vertrauen in die Zukunft. Wir durchleben einen sehr schwierigen Moment. Wir müssen uns mehr als jemals zuvor neu verknüpfen mit unseren bürgerschaftlichen Werten von guter Nachbarschaft, Respekt, Liebe und der Bereitschaft, uns umeinander zu kümmern. Wir sind kein gewalttätiges Volk, wir sind ein großzügiges, solidarisches und freies Volk. Die Geschichte wird uns daran immer erinnern, denn wir haben im Schmerz gelernt, dass Armut und soziale Ungerechtigkeit nichts anderes als Gewalt und Entmenschlichung hervorbringen und dass wir uns gemeinsam dazu entschließen müssen, mit diesem politischen System reinen Tisch zu machen, denn das, was in Haiti passiert, ist das Resultat langer Jahre von Interessensverflechtung, Korruption, Straflosigkeit und sozialer Ungerechtigkeit. Ich wünsche mir für meine und die nachkommenden Generationen, dass wir den Glauben wiederfinden, um uns für einen tiefgreifenden Wandel einzusetzen. Wenn es nichts gibt, gibt es alles zu tun, das mag utopisch klingen, und es wird sicherlich viel Zeit brauchen, aber es ist der Moment für uns, Verantwortung gegenüber Haiti zu übernehmen.