Europas Atommachtsfantasien
In Deutschland und der EU wird laut über nukleare Aufrüstung nachgedacht – ein realistisches Szenario?
Von Axel Gehring
Wäre Donald Trump nicht schon einmal US-Präsident gewesen, wäre seine markige Ankündigung im Vorwahlkampf wohl folgenlos geblieben: Der Präsidentschaftsbewerber hatte im Februar gedroht, jenen europäischen Staaten militärischen Schutz zu verweigern, die das Zwei-Prozent-Ziel der Nato in Sachen Aufrüstung nicht erfüllen. Das provokante Statement löste hierzulande erneut eine Debatte um die Verlässlichkeit der Nato-Sicherheitsgarantien im Falle eines Angriffs von außen aus. Schon wenig später zeigte sich, dass in puncto Rüstungs- und Verteidigungsfragen derzeit fast alles möglich scheint. Denn schnell ging es nicht mehr nur um gegenseitige Beistandspflichten, sondern um die Frage nach der Notwendigkeit einer eigenständigen europäischen Nuklearbewaffnung oder gar um Nuklearwaffen für die Bundesrepublik Deutschland.
Schon 1957 hatten Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) versucht, eine Vereinbarung mit den Nato-Staaten zu erzielen, die Bundeswehr über Frankreich mit eigenen Atomwaffen auszustatten. Die Westmächte trauten dem Ansinnen nicht. So gilt für Deutschland bis heute das Konzept der »nuklearen Teilhabe«, bei der von US-Truppen bewachte US-Atomwaffen auf deutschem Boden unter bestimmten Voraussetzungen von der Bundeswehr eingesetzt werden können. Angesichts der Wahlerfolge Donald Trumps und der neuen Bedrohungslage infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022 wird dieser sicherheitspolitische Kompromiss nun vermehrt infrage gestellt. Und das, obwohl die Waffen der nuklearen Teilhabe gerade jetzt wieder in einigen Nato-Staaten durch modernisierte ersetzt werden sollen.
Was, wenn der Schutz der USA schwindet?
Ging es in der deutschen Debatte damals um taktische Nuklearwaffen von begrenzter Reichweite, die für den Einsatz unmittelbar auf dem Gefechtsfeld bestimmt gewesen wären, so geht es heute um die Fähigkeit zum eigenständigen nuklearen Zweitschlag – um Kompensation des von Trump mit seinen Äußerungen offen infrage gestellten Schutzes der EU und Deutschlands durch die USA. Es lohnt, diese Debatte auf ihren materiellen Gehalt hin zu betrachten.
Die technische Frage, was die Voraussetzungen für eine nukleare Bewaffnung wären, die tatsächlich das Versprechen einer größeren strategischen Eigenständigkeit einlösen kann, ist relativ simpel zu beantworten: Wer sich heute atomar bewaffnen möchte, denkt diese Frage zunächst einmal von der Fähigkeit zum »Zweitschlag« her. Nötig wären also nicht nur eigene Raketen, um einen atomaren Sprengkopf an seinen Bestimmungsort zu verbringen, sondern auch Verteidigungssysteme, die nach einem atomaren Gegenschlag noch einsatzfähig sind. Für einen solchen Zweitschlag kommen primär Raketen in Betracht, die auf mobilen Systemen stationiert sind. U-Boote gelten für das relativ kleine Europa als die einzig realistische Option. Dies setzt eine eigenständige Luft- und Raumfahrtindustrie für die Raketen und eine Werftindustrie für die U-Boote mit einem breiten Netz von Zulieferindustrien voraus.
Für die Herstellung atomarer Sprengköpfe wären zudem der Zugang zu Uran sowie eigene Anreicherungsanlagen und Reaktoren, kurz der Aufbau einer komplett eigenständigen Nuklearindustrie notwendig. Denn einmal angeschafft, müssen Sprengköpfe nicht nur regelmäßig gewartet, sondern nach ein paar Jahrzehnten auch komplett ersetzt werden. Die Bundesrepublik verfügte einst über sie, Frankreich hat sie noch heute – militärische Fertigungskapazitäten inklusive. Auch wenn der Zugang zu Uran aus Niger politisch prekärer geworden ist, so ist er nicht alternativlos.
Importierte Atomwaffen vergrößern die reale strategische Autonomie eines Staates allenfalls bedingt, weil sie von den strategischen Interessen der Lieferanten abhängig machen. Ihr machtpolitischer Nutzen ist folglich sehr begrenzt. Die industriell-technischen Probleme schränken die politischen Möglichkeiten also erheblich ein, selbst bei entsprechendem politischen Willen wären die ökonomischen Anstrengungen enorm und der Vorlauf lang.
Eine andere Frage ist die, ob die EU zumindest mit Blick auf ihre Zweitschlagfähigkeit nicht schon heute eine Nuklearmacht ist. Denn mit Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrages existiert bereits eine Verpflichtung zu militärischem Beistand: »Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats«, so heißt es dort, »schulden die anderen Mitgliedsstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung …« Zum Zeitpunkt der Fassung des Beistandsparagrafen Mitte der 2000er Jahre galt ein Angriff auf einen Mitgliedsstaat der Union als äußerst unwahrscheinlich, von einem atomaren ganz zu schweigen.
Globale Aufrüstung
Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri legt einmal jährlich Zahlen zur weltweiten Aufrüstung vor. Die waren zuletzt weniger eindeutig, als sich angesichts der globalen Konflikteskalation vermuten ließe. So ist das Volumen des weltweiten Waffenhandels in den vergangenen fünf Jahren gegenüber dem vorherigen Untersuchungszeitraum 2014-18 um 3,3 Prozent zurückgegangen. Die Waffenimporte Afrikas etwa halbierten sich und mit drei Prozent fällt auch der weltweite Zuwachs von Waffenimporten eher gering aus. Allerdings: Wo Konflikte schwelen, wird (regional) drastisch aufgerüstet, so zum Beispiel in China, Israel, Saudi-Arabien oder Indien. Europa steigerte seine Waffenimporte um ganze 94 Prozent. Das Bonner Friedensforschungsinstitut BICC spricht davon, dass »ein neuer gefährlicher und ressourcenverschlingender Rüstungswettlauf« in Europa bereits in vollem Gange sei. Knapp ein Viertel der europäischen Importe entfielen laut Sipri allein auf die Ukraine, aber auch die Niederlande, Norwegen oder Polen importierten große Mengen an Waffen. Deutschlands Waffenimporte wuchsen um 188 Prozent gegenüber 2014-18. Den Beginn des europäischen Rüstungswettbewerbs verortet das BICC auf das Jahr 2014, als Russland die Krim besetzte. Die weltweit größten Waffenexporteure sind die USA, Frankreich und Russland, Deutschland ist auf Platz fünf. Auch in Italien stiegen die Waffenexporte um 86 Prozent. Es werde zwar viel über eine unabhängige europäische Waffenindustrie diskutiert, noch sei das aber Zukunftsmusik, so die Forscher*innen vom BICC. Die meisten Waffen europäischer Länder stammen aus den USA.
Die sicherheitspolitischen Diskurse dieser Zeit waren weniger auf Staatenkriege als auf sogenannte asymmetrische Bedrohungen ausgerichtet. Legt man jedoch die Maßstäbe der etablierten Nuklearstrategien an, die in all ihren Varianten zumeist zentral um die Glaubwürdigkeit der Zweitschlagsperspektive herum aufgebaut sind, so müsste Frankreich im Falle eines nuklearen Angriffs auf einen EU-Staat Beistand leisten – in Form eines nuklearen Zweitschlags. Denn der Verzicht auf einen solchen Zweitschlag würde auch die Glaubwürdigkeit der Zweitschlagfähigkeit im Falle eines direkten Angriffs auf französisches Territorium in Frage stellen. Insofern sind die vertraglichen Grundlagen für eine Atommacht EU theoretisch bereits vorhanden. Nach herrschender Rechtsauffassung gilt jedoch: NATO first. Zudem gibt es für diese Beistandsklausel der EU schlichtweg keine etablierte Praxis, da es noch nie einen Atomkrieg zwischen Nuklearmächten gegeben hat.
Konkurrenz in der EU
Die Frage nach Sicherheitsgarantien durch Dritte bewegt sich auch deshalb im Vagen, weil diese immer an die staatlichen Interessen derjenigen gebunden sind, die sie gewähren. Sowohl der Ruf nach nationalstaatlicher Aufrüstung als auch der nach europäischen Atomwaffen speist sich aus dieser Einsicht. Was aber wären die notwendigen politischen Voraussetzungen für eine umfassende Vergemeinschaftung von Sicherheitsstrategien? Diese Frage kann hier nur angedeutet werden und ist mit der Frage verbunden, warum es immer noch keine »echten« EU-Streitkräfte gibt.
Bis heute ist die EU kein Nationalstaat, sondern – seit dem Vertrag von Maastricht – eine spezifische Pluralität von zueinander durch die EU-Verträge in Beziehung gesetzten nationalen Wettbewerbsstaaten. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Formulierung einer einheitlich koordinierten EU-Außen- und Sicherheitspolitik: Die nationalen Wettbewerbsstaaten haben zwar Teile ihrer Souveränität an die europäische Ebene abgetreten; im neoliberalen Modus der europäischen Integration bleiben sie aber gerade deshalb untereinander konkurrierende Wettbewerbsstaaten – mit höchst unterschiedlichen außenpolitischen Interessen, die sowohl historischen Pfadabhängigkeiten als auch den Bedarfen kapitalistischer Leitsektoren oder industriepolitischer Kernprojekte entspringen.
Die lange Zeit sehr unterschiedlichen Positionen der mittelosteuropäischen EU-Staaten und der Bundesrepublik gegenüber Russland waren zum Beispiel nicht unerheblich den deutschen Bestrebungen geschuldet, sich mit Hilfe eines günstigen fossilen Energieinputs industriell auf den Weltmärkten behaupten zu können. Für Großbritannien war als Noch-EU-Mitglied die transatlantische Finanzmarktintegration sehr bedeutend; und für Frankreich fortbestehende postkoloniale Strukturen ebenso wie der Wettbewerb mit Deutschland um eine polit-ökonomische Vormachtstellung in der EU. Dem Versuch, diese innere wettbewerbsstaatliche Konkurrenz zu überwinden, sind unter den Bedingungen der neoliberalen Integrationsweise im Rahmen der EU enge Grenzen gesetzt. Deshalb eilt die Formulierung einer gemeinsamen Außen- und Militärpolitik dem Stand der europäischen Integration nicht voraus. Wichtige militärpolitische Vergemeinschaftungsschritte gab es vor allem auf dem Gebiet der Industriepolitik (im Rahmen der sogenannten Permanent Structured Cooperation; PESCO) und im Rahmen der Einführung sogenannter EU-Battlegroups 2007, die das Bündnis zu klassischen überseeischen Auslandseinsätzen befähigt haben.
Gemeinsame europäische Nuklearwaffen wären einer der letzten Schritte einer vertieften europäischen Integration, die im Rahmen der neoliberalen Integrationsweise aber kaum leistbar ist. Ein geopolitischer Push von außen durch Trump und Putin allein ist dafür nicht hinreichend. Etwaige Abkürzungen durch den nationalstaatlichen Kauf von Nuklearwaffen wären friedenspolitisch verheerend, würden aber den Käufer*innen nicht jenen Grad an strategischer Autonomie geben, der mit ihnen gemeinhin verbunden wird. Eine solche autonome strategische Position hätte in der EU mit Blick auf Atombewaffnung und deren Einsatz weiterhin nur Frankreich.