Long Covid der Linken
Das Scheitern daran, eine solidarische Pandemiepolitik zu entwickeln, hat großen Anteil am aktuellen Gefühl von Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit im progressiven Lager
Kaum besuchte Demonstrationen, geschrumpfte Gruppentreffen, Rückzug ins Private, Hoffnungslosigkeit. Das sind Situationen, die derzeit viele Linke erleben. Egal, ob es gegen das Gemeinsame Europäische Asylsystem, kaum abgefederter Reallohnverluste oder die Aufgabe von Klimaschutzzielen trotz immer neuer beängstigender Temperaturrekorde geht: Auch bei in der gesellschaftlichen Linken eigentlich konsensfähigen Themen scheitert derzeit die doch dringend nötige Massenmobilisierung. Genauer gesagt: Sie kommt gar nicht erst in Gang.
Leicht drängen sich psychologische Erklärungen auf: Rückzug und Resignation erscheinen als tausendfache privat gezogene Konsequenzen aus Isolation, Social Distancing und Versammlungsbeschränkungen zu Beginn der Covid-19-Pandemie. Doch war dies eine unvermeidbare Folge? Der Literaturwissenschaftler Sebastian Schuller erinnert in seinem neuen Buch »Die Freiheit, die sie meinen« daran, dass die Covid-19-Pandemie, die mittlerweile zu Dutzenden Millionen Toten und der langfristigen Etablierung einer weiteren schweren Infektionskrankheit neben Tuberkulose, Grippe, Malaria geführt hat, zunächst auch einen Moment neuer politischer Möglichkeiten jenseits der kapitalistischen Alternativlosigkeit eröffnete: Man denke an die spontanen gesellschaftlichen Reaktionen auf akute Notlagen zu Beginn der Pandemie: Streiks in italienischen Fabriken, die trotz Infektionsgefahr weiterlaufen sollten, kollektiv organisierte Nachbarschaftshilfen, die Besetzung von Fastfood-Restaurants in Frankreich für die Lebensmittelversorgung oder die Kampagne #StayTheFuckHome, die ein von Solidarität getragenes individuelles Handeln dem Scheitern von Regierungen bei der Eindämmung des Virus entgegensetzte.
Doch auf größerer Ebene gelang eine solidarische Politisierung der Pandemiestrategie nicht. Dass es eine politische und nicht bloß technische Frage ist, ob man ein Massensterben von Alten und Vorerkrankten weitgehend hinnimmt, durch »flatten the curve« versucht, auf kurze Sicht fahrend, den Status quo zu stabilisieren, oder ob man durch weitestgehende Unterdrückung der Infektionen und Vermeidung neuer Ausbrüche versucht, so viele Leben wie möglich zu retten, wurde öffentlich kaum debattiert. Ein Vertrauen in die staatliche Verwaltung einerseits und eine prinzipielle Skepsis gegen auf Gesundheit abzielende, sich auf die scheinbar unpolitische Autorität der Epidemiologie berufende staatliche Eingriffe ins Alltagsleben andererseits erscheinen somit als zwei Seiten derselben Medaille: Beide Reaktionen sind Ausdruck einer fehlenden linken Positionierung.
Entpolitisierung der Linken in der Pandemie
Statt den in der Pandemie manifestierten gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur selbst zu politisieren, die neuen Erfahrungen universeller Verletzlichkeit und über die Natur vermittelter globaler Abhängigkeiten zu verarbeiten, zog sich das Gros linker Akteur*innen auf Verteilungsfragen und die Skandalisierung der Lage jener zurück, die aus den Sicherungsnetzen ausgeschlossenen blieben. Unter den gegebenen Umständen der herrschenden Pandemiestrategie hatte beides kaum eine Chance durchzudringen. So entpolitisierte am Ende das Vertrauen in bzw. die Hoffnung auf eine technische Lösung, insbesondere die Impfung, auch die Linke.
Dabei war von Anfang an zu erwarten, dass die gleichzeitig verfrühte Aufhebung von Eindämmungsmaßnahmen die Wirkungen der Impfkampagne konterkarieren, die Bildung neuer, resistenter Covid-Varianten begünstigen und nicht genügend Zeit lassen würde, hinreichende Produktionskapazitäten aufzubauen, um die gesamte Weltbevölkerung mit Impfstoff zu versorgen.
Am Ende entpolitisierte die Hoffnung auf eine technische Lösung der Pandemie durch Impfung auch die Linke.
Als Anfang 2021 – parallel zu Bewegungen in anderen Ländern – in Deutschland von linker Seite die Kampagne ZeroCovid und von liberal-wirtschaftsnaher Seite die Kampagne NoCovid versuchten, Druck für eine Unterdrückungsstrategie zu machen (womit sie letztlich scheiterten), hätten dadurch zwar noch etliche Tote vermieden werden können, doch für vieles war es bereits zu spät. Europa war längst zur Drehscheibe des Virus geworden, die anfängliche Eindämmungserfolge vieler asiatischer oder afrikanischer Länder zunichte machte, bis schließlich noch in den letzten Ländern die Unterdrückungsstrategien in die Knie gezwungen wurden durch die inzwischen im Rest der Welt herangezüchteten Delta- und Omikron-Varianten.
Nächste Krise: Klimakollaps
Diese Erfahrungen bieten mit Blick auf die ungleich schwieriger zu bewältigende Klimakatastrophe kaum Anlass für Optimismus. Hier hat sich ein Teil der Linken, etwa in der Linkspartei, für Rückzug auf Fragen der Sozialverträglichkeit innerhalb gegebener Sachzwänge der Standortverwaltung entschieden; dem stehen verzweifelte Versuche der radikalen Störung, etwa durch die Letzte Generation, gegenüber – allerdings ohne eine revolutionär-realpolitische Perspektive zum Umbau der fossilen Ökonomie. Ökosozialistische Ansätze, die es außerdem gibt, bewegen sich unterhalb der politischen Wahrnehmungsschwelle.
Die Linke besitzt keine gemeinsame Zukunftsvision darüber, wie die Klimakatastrophe aufgehalten werden soll. Jedenfalls keine, die überzeugender wäre als die herrschende Hoffnung auf technologische Lösungen, wahlweise auf grünen Wasserstoff, der aus den ehemaligen Kolonien in die kapitalistischen Zentren importiert werden soll, oder auf neue, kleinere, schneller auslieferbare Kernreaktortypen, die irgendwann einmal technisch ausgereift, effizient und profitabel genug sein könnten, um die versprochene Entkopplung von Wachstum und CO₂-Ausstoß zu ermöglichen, von der auf globaler Ebene bislang nichts zu sehen ist.
Das Ende der Pandemiebekämpfung bedeutet indes keine Rückkehr zur Welt »vor Corona«, nur jetzt mit einer Krankheit mehr. Die durch die Pandemie ausgelöste Krise hat zuvor ungeahnte staatliche Handlungsspielräume offengelegt, ja die Regierungen sogar gezwungen, auf Instrumente zurückzugreifen, die potenziell über den Kapitalismus hinausweisen. Damit setzte eine neue Phase in der Verwaltung der seit 2008 fortwährenden Krise des globalen Kapitalismus ein.
Am Problem fehlender Produktionskapazitäten für Gesundheitsartikel lässt sich das gut veranschaulichen: Die globale Mangelsituation brachte etwa die US-Regierung dazu, auf den Defense Production Act zurückzugreifen, um Unternehmen zur Kooperation bei der Maskenproduktion zu zwingen – also die private Kontrolle über die Produktionsmittel vorübergehend aufzuheben. Die direkten Investitionen in Milliardenhöhe insbesondere der USA in den frühzeitigen Aufbau von Kapazitäten zur Impfstoffproduktion, noch bevor Wirksamkeit und Profitabilität der verschiedenen Vakzine bekannt waren, nahmen bereits die jetzt diskutierte »neue Industriepolitik« vorweg, waren jedoch ebenso widersprüchlich.
Widersprüche der Welt nach Corona
Trotz kurzer Debatte über Zwangslizenzen zur Steigerung der Impfstoffproduktion, überließ man diese in der EU stärker den Marktkräften, während der Staat bloß eine die Industrie unterstützende, statt lenkende Rolle einnahm. Trotz der Notwendigkeit, eine global ausreichende Versorgung zu gewährleisten, stand diese Industriepolitik unter nationalistischen Vorzeichen: Insbesondere Deutschland versuchte, sich als Biotechnologie-Standort zu etablieren. Zudem dienten die Impfstoffe, insbesondere die hochwirksamen mRNA-Impfstoffe, zunächst vor allem der Versorgung der reichsten Nationen, Lieferversprechungen für den Globalen Süden wurden weit verfehlt. Die globale Versorgungslage wurde erst besser, als deutlich wurde, wie viele Menschen in den reichen Ländern sich ohne eine Impfpflicht gar nicht impfen lassen wollten – sei es aufgrund irrationaler Ideologien oder aufgrund von Zweifeln angesichts falscher Versprechungen über die Schutzwirkung der Impfung.
Die maßgeblich an der Entwicklung des Moderna-Impfstoffs beteiligten National Institutes of Health in den USA haben mittlerweile den mRNA-Technologietransferknoten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Südafrika massiv unterstützt, um künftig eigenständige Impfstoffproduktion und -entwicklung in Ländern des Globalen Südens zu ermöglichen. Die Aussetzung von Schutzbestimmungen für geistiges Eigentum an Gesundheitstechnologien in der Welthandelsorganisation (WTO) wurde hingegen insbesondere von der EU, Großbritannien und der Schweiz so lange blockiert, bis viel zu spät ein für die kurzfristige Produktionssteigerung völlig wirkungsloser Kompromiss beschlossen wurde.
Ähnliche Widersprüche erleben wir in der heutigen »neuen Industriepolitik«: Die Kopplung von EZB-Kriseninterventionen an Klimaschutzziele etwa oder Überlegungen zur planwirtschaftlichen Gasrationierung bieten progressive Potenziale, während zugleich mit der Schuldenbremse ein alter Neoliberalismus fröhliche Urständ feiert. Auch diese Investitionsprogramme sind bestimmt von Standortpolitik – unter dem Vorzeichen einer, durch diese Programme noch befeuerten, neuen Blockkonfrontation, der Entkopplung von Russland und teilweise auch China. Gelingt es nicht, diese Widersprüche zu analysieren und von ihnen ausgehend eine linke Antwort zu formulieren, so droht sich die in der Pandemie gemachte Erfahrung der Bedeutungslosigkeit der Linken zu wiederholen – und die Gefühle der Resignation zu verschlimmern.
Die gegenwärtigen Verwerfungen des kapitalistischen Weltsystems treiben hässliche Erscheinungen hervor: Verschwörungsideologen, deren Anhänger*innen hinter jeder dieser Verwerfungen, aber auch hinter jedem kleinen Ansatz zu kollektiven Akten der Solidarität einen Feind am Werk sehen, zu dessen Bekämpfung sie bereit sind, sich jeder Autorität zu unterwerfen. Wie wenig es der Linken gelungen ist, in der Pandemie die Verschwörung zur kollektiven, rational geleiteten Solidarität zu organisieren, zeigt sich aber auch daran, dass in der breiteren Bevölkerung noch die minimale Einsicht, dass es sinnvoll ist, bei Husten in Bahn oder Arztpraxis eine Maske zu tragen, verloren gegangen ist.
In der Linken hat sich in Folge der eigenen politischen Schwäche in der Pandemie ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit breit gemacht. Die drängenden, strukturellen Herausforderungen und Bedrohungen, die mit Beginn der Pandemie zutage traten, bestehen indes auch nach dem Ende der Pandemiebekämpfung fort. Eine Verarbeitung dieser Erfahrung des Scheiterns mit dem Ziel, wieder auf die Füße zu kommen und es in der nächsten Krise besser zu machen, steht noch aus.