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Die Rückkehr des Faschismus

Droht eine neue Epoche entfesselter politischer Gewalt wie vor 100 Jahren?

Von Benjamin Opratko

Donald Trump in selbstgewiesser Pose vor einer Werbewand mit großen Buchstaben.
Machen Trumps Aufruf zur Gewalt, sein Anstacheln des Mobs, den Ex-US-Präsidenten, der dieses Jahr wieder gewählt werden könnte, zu einem Faschisten? Foto: Gage Skidmore/The Star News Network/Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0 DEED

Am 11. November 2023 versprach Donald Trump seinen Anhänger*innen: »Wir werden die Kommunisten, Sozialisten, Faschisten und linksradikalen Verbrecher ausrotten, die wie Ungeziefer in den Ritzen unseres Landes leben.« Die größte Gefahr für die USA gehe nicht vom Ausland aus, sondern sei im Inneren zu finden: »Sie werden alles tun, ob legal oder illegal, um Amerika und den amerikanischen Traum zu zerstören.« Die Rede verfehlte nicht ihren Zweck, sie brachte Trump landesweite Berichterstattung auf allen Kanälen ein.

Wird im November 2024 ein Faschist für das Amt des US-Präsidenten kandidieren? Die Frage, ob es sich bei Trump um einen Faschisten handelt, begleitet seine politische Karriere seit seiner ersten Kandidatur 2015/2016. Neue Dynamik erhielt sie am 6. Januar 2021, als seine Anhänger*innen das Kapitol in Washington stürmten. Der Historiker Robert Paxton, eine Koryphäe der Faschismusforschung, veröffentlichte wenige Tage danach einen Kommentar mit dem Titel: »Ich habe gezögert, Donald Trump einen Faschisten zu nennen. Bis jetzt«. Trumps Aufruf zur Gewalt, sein Anstacheln des Mobs, erinnerten ihn an faschistische Mobilisierungen der 1930er. Die Bezeichnung »faschistisch« sei nun nicht mehr bloß nachvollziehbar, sondern notwendig.

Seit vielen Jahren sind oder waren in praktisch allen Weltgegenden autoritäre Politiker an der Macht, die als faschistisch bezeichnet wurden: Jair Bolsonaro in Brasilien, Rodrigo Duterte auf den Philippinen, Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei, Narendra Modi in Indien, Abd al-Fattah as-Sisi in Ägypten, Benjamin Netanjahu in Israel, Viktor Orbán in Ungarn, Matteo Salvini und Giorgia Meloni in Italien. Auch im Deutschen ist das Wort in die politische Auseinandersetzung zurückgekehrt. Der thüringische AfD-Chef Björn Höcke darf seit 2019 per Gerichtsbeschluss »Faschist« genannt werden, der FPÖ scheint es unter Herbert Kickl weniger wichtig zu sein, den Eindruck der Faschismusnähe zu zerstreuen.

Historische Bezüge

Wovon ist also die Rede, wenn wir heute auf den Faschismusbegriff zurückgreifen? Faschismus ist der Name, den sich eine politische Bewegung in Italien vor mehr als hundert Jahren selbst gab. Das »Bündlertum« – vom »fascio« genannten Rutenbündel – vereinte ab 1919 überwiegend junge Kriegsveteranen, Schläger und Kleinkriminelle, Arbeitslose, Abenteurer und ein paar Intellektuelle unter der Führung des ehemaligen Grundschullehrers Benito Mussolini. In »Strafexpeditionen« fuhren Banden von Faschisten per Lastwagen in die Dörfer und Kleinstädte Norditaliens, wo sie die im Krieg verinnerlichte Brutalität gegen die Feinde im Inneren richteten: Linke, Gewerkschafter*innen und Angehörige der slowenischen Minderheit. Mussolinis Banden, so der 2021 verstorbene Faschismushistoriker Wolfgang Wippermann, hätten dem neuen Begriff »Faschismus« erst »einen Sinn verliehen, und zwar mehr durch ihre brutalen Taten als durch programmatische Erklärungen und sorgfältige Definitionen«.

Der Faschismus gab sich erst Form, dann Programm. Er war männlich und jugendlich, um Rituale nach militärischem Vorbild organisiert. Nach und nach sollte die Bewegung von einigen hundert Mann auf eine der Massen anwachsen. Bankiers, Kapitalisten und Großgrundbesitzer sahen ihren praktischen Nutzen und setzten sie gegen streikende Fabrik- und aufbegehrende Landarbeiter*innen ein, gegen die lokalen Machtzentren der Sozialistischen Partei und der Gewerkschaften, die dem Bürgertum die Kontrolle über die Produktion in Stadt und Land zu entziehen drohten. Hass auf die Linke und Verachtung für die Demokratie, rassistische Überlegenheitsfantasien und Männergewalt verbanden sich nach und nach zu einem eigenständigen politischen Pol. Die Zauberlehrlinge des Kapitals hatten Geister gerufen, die sie nicht mehr loswerden sollten. Dem Vorbild des italienischen Faschismus folgten bald Bewegungen überall auf der Welt, nicht nur in Europa, sondern auch in Australien, Peru, Brasilien, Japan, China und in den USA.

Frühe Erklärungen

Die kritische Analyse des Faschismus begleitete dessen Aufstieg von Anfang an. Georgi Dimitroff gab die These vom Faschismus als einer »terroristische(n) Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« vor, die kommunistischen Parteien noch lange als Leitsatz gelten sollte. Daneben und dagegen standen Analysen, die den massenhaften Charakter, den Zustrom von Teilen des Volkes und des Proletariats zum Faschismus in Rechnung stellten, von Clara Zetkin, Otto Bauer, August Thalheimer, Leo Trotzki, Antonio Gramsci, Angelo Tasca, Wilhelm Reich, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno oder Ernst Bloch. Ihnen ist, über alle Unterschiede hinweg, gemein, dass sie den Aufstieg des Faschismus nicht bloß aus den allgemeinen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus ableiten, sondern aus den Dynamiken der Klassenkämpfe und den spezifischen Krisenbedingungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Drei Faktoren schienen besondere Bedeutung zu haben. Erstens die Welle revolutionärer Erhebungen nach dem Ersten Weltkrieg, die allein in Russland erfolgreich und im Rest Europas gescheitert waren. Für Clara Zetkin galt der Faschismus 1923 als historische Strafe dafür, dass es dem Proletariat nicht gelungen war, den Sozialismus zu erkämpfen. Der zweite Faktor war die globale Krise, die in den 1920er und 1930er Jahren nicht nur die Arbeiter*innen, sondern auch die gesellschaftliche »Mitte« traf: Kleinbürger*innen, Angestellte, Ladenbesitzer*innen und nicht zuletzt die Bauernschaft. Auf ihrem Boden konnte, so der italienische Sozialist Antonio Gramsci, eine Autoritäts- oder Hegemoniekrise entstehen, in der die Verbindungen zwischen etablierten Parteien und ihren traditionellen Unterstützer*innen brüchig wurden. Der dritte Faktor war der Krieg selbst. Er schleuderte, in den Worten des österreichischen Sozialdemokraten Otto Bauer, Massen aus dem bürgerlichen Leben.

Die Zauberlehrlinge des Kapitals hatten Geister gerufen, die sie nicht mehr loswerden sollten.

Die drei Faktoren bildeten eine historische Gelegenheitsstruktur, die sich mit länger bestehenden Prädispositionen in den Menschen selbst verband. Hier setzten psychologische und psychoanalytische Erklärungen an wie jene von Adorno, Horkheimer oder Wilhelm Reich. Autoritäre Familienstrukturen, sexuelle Unterdrückung und der Kult soldatischer Männlichkeit spielten hier ebenso eine Rolle wie Antisemitismus, nationaler Chauvinismus und kolonialrassistische Fantasien, moderne Massenkommunikation und Kulturindustrie.

Den Faschismus weniger als Idee denn als politische Praxis zu verstehen, hat Konsequenzen für das Verständnis unserer Zeit. Unsere Welt unterscheidet sich von jener, in der Mussolini seine Kampfbünde gründete oder Hitler den Reichstag anzünden ließ, ganz grundlegend. Damit der Faschismus als zur Macht strebende politische Kraft existiert, reicht es nicht, dass es Faschisten gibt. Er braucht dafür Bedingungen: objektive Dynamiken in der Welt und das Handeln der anderen, der nichtfaschistischen Akteur*innen.

So gesehen verändert sich die Fragestellung. Nicht: Sind Trump, Höcke oder Kickl faschistisch, sondern: Wie könnte ein Faschismus als globale Kraft in den 20er und 30er Jahren des 21. Jahrhunderts aussehen? Gibt es heute Bedingungen, die jenen ähneln, die vor hundert Jahren zum Aufstieg des Faschismus beigetragen haben?

Als Gewaltpraxis konnte der historische Faschismus in Europa nicht ohne die massenhaften Erfahrungen des Ersten Weltkriegs entstehen, der Generationen junger Männer verrohte. Das Fehlen der Kriegserfahrung als Massenerfahrung in Europa und Nordamerika stellt die erste große Differenz unserer Epoche dar. Die zweite ist das Fehlen einer starken Linken. Ein dritter wesentlicher Unterschied ist der viel geringere Grad an politischer und zivilgesellschaftlicher Organisation, der Unterschied zwischen der Epoche der »Massenpolitik« und der »hyperpolitischen« Gegenwart, wie Anton Jäger sie jüngst beschrieben hat, als extreme Politisierung des Alltags ohne institutionelle oder organisierte Form. Die Gefahr des Faschismus als »Rückkehr« zu beschreiben ergibt also wenig Sinn.

Wahnhafte Grenzüberschreitung

Offensichtlich ist aber, dass wir auch heute in Zeiten tiefer ökonomischer, sozialer und politischer Krisen leben und die Rechte darin erstarkt. Das Kapital braucht keinen Faschismus, um sich vor dem Sozialismus zu retten. Und doch vermitteln rechte Politiker*innen den Eindruck, die Welt würde von Linken beherrscht: von »Political Correctness« und »Woke-Irrsinn«, von Klimaklebern, Gendersternchen, Trans-Ideologie und Critical Race Theory. Der Kulturkampf der Rechten wird überwiegend gegen Phantasmen geführt. Er richtet sich gegen das zaghafte Zurückdrängen heterosexistischer, patriarchaler und rassistischer Gewalt im Alltag. Doch nur weil die links-grün-feministische Diktatur eine Wahnvorstellung ist, heißt das nicht, dass sie nicht mobilisierende Wirkung entfalten kann. Gerade im Wahnhaften liegt das Potenzial zur Grenzüberschreitung, und der Faschismus ist organisierte Grenzüberschreitung.

Im März 2023 tötete ein ehemaliger US-Soldat den obdachlosen Schwarzen Jordan Neely in der U-Bahn von New York. Ron DeSantis, Gouverneur von Florida und (inzwischen aussichtsloser) Konkurrent Trumps im Rennen um die republikanische Präsidentschaftskandidatur, feierte den Mörder als »guten Samariter«, der sich gegen die »linke Pro-Kriminalitäts-Agenda« zur Wehr gesetzt hätte. Donald Trump hatte ein paar Monate zuvor Kyle Rittenhouse in sein Anwesen in Mar-a-Lago eingeladen, um dem »nice young man« zu seinem Freispruch in einem Mordprozess zu gratulieren. Rittenhouse hatte im Sommer 2020 zwei Demonstranten am Rande einer Black-Lives-Matter-Demonstration in Kenosha, Wisconsin, mit einem Sturmgewehr erschossen.

Die großen rechten Parteien Europas halten sich heute keine bewaffneten Verbände. Die Killer von New York und Kenosha waren nicht von DeSantis oder Trump befehligt worden. Aber vielleicht müssen sie das auch nicht mehr. Politische Organisierung funktioniert heute anders als im Zeitalter der Massenpolitik. Was gleich bleibt, ist das Versprechen des Faschismus an seine Anhänger*innen, illegale Gewalt rückwirkend zu legalisieren und zu belohnen. Die Gewalt muss auch nicht gleich mörderisch sein. Wenn Jugendliche auf österreichischen Schulhöfen die offizielle »Deutschpflicht« als Lizenz interpretieren, »ausländische« Mitschüler zu verprügeln; wenn blockierte Autofahrer auf protestierende Klimaaktivist*innen einschlagen; oder wenn »Freiwillige« die Außengrenzen der EU bewachen und Flüchtende jagen: Wie reagiert die politische Rechte dann? Und wie reagieren antifaschistische, linke und demokratische Kräfte?

Der Faschismus ist im Kern eine Form organisierter politischer Gewalt, mit Betonung auf: organisiert. Faschistische Bewegungen der 1920er und 1930er Jahre haben dafür nicht nur ihre eigenen Verbände geschaffen, sondern sich auch zivilgesellschaftliche Institutionen wie Vereine und Klubs einverleibt – noch bevor sie in die Nähe staatlicher Macht gelangt waren. Wie der Historiker Dylan Riley gezeigt hat, ist der Faschismus, anders als gemeinhin angenommen, auf eine starke Zivilgesellschaft angewiesen. Darin unterscheidet er sich vom Rechtspopulismus, der uns seit Jahrzehnten bekannt ist. Dieser gedeiht auf den Ruinen der Zivilgesellschaft. Er will niemanden organisieren und mobilisiert keine Massen als Schlägertrupps, sondern Vereinzelte zur Stimmabgabe. Er verspricht seinen Anhänger*innen Lohn für Passivität und gedeiht deshalb besonders prächtig in Gegenden, in denen das soziale Leben verödet ist.

Das heißt aber nicht, dass ein neuer Faschismus nicht aus den alten Formen des Rechtspopulismus entstehen könnte. Die größte Hürde dafür ist im Grunde die gleiche wie jene für die Entstehung eines neuen Sozialismus: Passivität, soziale Atomisierung, fehlendes Engagement.

Benjamin Opratko

ist Redakteur des Wiener Tagebuch.

Der Artikel erschien ursprünglich und in längerer Fassung im aktuellen Tagebuch zum Thema »Der kommende Faschismus«. Das Heft kann auf tagebuch.at bestellt werden. Für ak wurde der Text gekürzt und leicht redaktionell bearbeitet.

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