Weltweit bewundert
Wie sähe die Gegenwart aus, wenn die DDR sich demokratisiert statt aufgelöst hätte?
Von anna stiede
Vom 4. November 1989 ging eine Gewalt aus: Eine halbe Million Menschen demonstrierte in Berlin, weitere Massen verfolgten die Demo vor dem Fernseher. Zuhause malten wir ein Schild »Eine andere DDR ist möglich!« Und dann? Machten die sich überall gegründeten radikaldemokratischen Gruppen sie möglich: die andere DDR. Nachdem in Erfurt die Stasizentrale besetzt wurde, folgten weitere Besetzungen in Berlin, Frankfurt (Oder) und den Betrieben. Aus Westdeutschland fanden das viele Menschen so spannend, dass sie sich in die DDR einbürgern lassen wollten. Sie besuchten nun regelmäßig den Osten, um mit den Runden Tischen darüber zu debattieren, wie und ob ein sozialistischer Staat ohne Geheimdienst existieren könne. Die Gruppe Frauen für den Frieden hatten eine Umgestaltung der Kindergartenerziehung erwirkt. Endlich wurden wir nicht mehr nur zur Nahrungsaufnahme oder wenn wir aufs Klo mussten von unseren Erzieherinnen angefasst, sondern auch einfach mal so ohne Grund in den Arm genommen. Aus der kleinen Kampagne »Kein Beton auf grüne Wiesen« entpuppte sich ein landesweiter Wettbewerb, welche Wiesen am schönsten blühen und die meisten Insekten anziehen.
In jedem Städtchen sind alte Manufaktur- und Fabrikgebäude zu Begegnungsorten umgestaltet wurden. Menschen können die noch immer voll funktionstüchtigen Maschinen anfassen und einmal die Woche in angeleiteten Workshops sogar bedienen. Das Tolle an diesen Orten ist, dass jedes Städtchen eine lokal ganz eigenwillige Werkstatt geschaffen hat: In Löbau in Sachsen hat sich ein Makerspace entwickelt, und so werden in der ehemaligen Nudelfabrik neben den alten Teigwarenmaschinen heute mit 3D-Druckern Prothesen für die ganze DDR hergestellt. In Apoldas Eiermannbau kann man sich mit einer alten Strickmaschine geschwind einen Schal produzieren und im Anschluss eine Theateraufführung im Saal erleben.
Weltweit wird die kostenfreie Möglichkeit der kulturellen, sportlichen und handwerklichen Weiterbildungsmöglichkeiten der Zirkel bewundert. Beim jährlichen, in allen 15 Bezirken stattfindenden Bezirksfestival wird die Zukunft von Leben und Produktion verhandelt und gefeiert, was geschaffen wurde. Organisiert werden diese von Jugendlichen.
Die 1989/90 an die Macht gekommenen Schüler*innenräte haben in ihren damaligen Streifzügen dafür gesorgt, dass nicht mehr gebrauchte Gebäude zu Debatten- und Partyräumen umfunktioniert wurden. Hier finden täglich Sprachkurse statt, da Menschen aus aller Welt kommen, die Lust haben, in einem Land zu leben, das tatsächlich mitgestaltet werden kann. Höhepunkt der Festivals sind die Streitspiele: Hier kommt auf den Tisch, was nicht funktioniert. Die DDR hat sich einen Modus erarbeitet, wie Konflikte durch kulturelles Erleben produktiv genutzt werden, um den demokratischen Sozialismus beständig weiterzuentwickeln. Dass dabei ständig abgefahrene, neue Musik entsteht, Menschen guten Sex haben und man weltweit die Schärfe und Leidenschaft von Literatur und Theater bewundert, ist vermutlich nur ein Randeffekt dessen.