So viele Potenziale
Literatur könnte mehr sein als Distinktion
Von Pajam Masoumi
Wenn ich Lesungen besuche, fühle ich mich selten, als ob ich dort ins Publikum gehöre. Sind die Bücher nicht gerade von Autor*innen geschrieben, die einer diskriminierten Gruppe angehören, ist das Publikum sehr homogen weiß, studiert, bildungsbürgerlich. Wenn die Autor*innen einem bestimmten Genre zugewiesen werden, etwa »Queerer Literatur«, verändert sich auch das Publikum. Dabei bietet Literatur doch genau das verbindende Potenzial, das in der angeblich gespaltenen Gesellschaft so oft gesucht wird.
Gerade in Zeiten wie diesen, in denen nicht klar ist, welche Fotos und Videos noch wahr sind, welcher Nachrichtensender welches Narrativ vertritt, bietet mir das geschriebene Wort Orientierung. Vor allem, wenn ich den Ansichten der Autor*innen nicht immer zustimme. Die eigene Position schärft sich in der Kritik. Für mich bedeutet zu lesen, sich auf das Gegenüber einzulassen. Einerseits auf die Art des Schreibens, andererseits auf den Inhalt. Erst dadurch lässt sich Kritik formulieren, die über gefühlte Wahrheiten hinausgeht.
Utopien sind für die Weiterentwicklung von Gesellschaften unabdingbar.
Das Sprechen über Konflikte, über Geschichte und Standpunkte, wäre ein anderes, würden sich Menschen auf Literatur einlassen, die ihnen erstmal widerspricht oder sich nicht an sie richtet. Es könnte sich ein Verständnis für das Gegenüber einstellen ohne, und das ist mir wichtig, dass danach eine Position geteilt oder die Meinung des Gegenübers als »richtig« akzeptiert werden muss.
Wenn sich Zugänge zur Literaturproduktion verändern würden, würde Literatur sich inhaltlich und formal verändern. Es könnten sich mehrsprachige deutsche Texte aus deutscher Gebärdenschrift und deutscher Lautschrift entwickeln, die in der Mehrdeutigkeit von Symbolen eine ganz neue Art des Lesens hervorbringen könnte.
Der Papiermangel könnte sich unterschiedlich auswirken: Auf dem freien Markt erscheinen keine neuen Bücher aus Papier, außer, man hat die richtigen Verbindungen und genügend Geld, heimlich in einem Copyshop zu drucken. Vielleicht entsteht eine neue Art der oral history, dem mündlichen Weitertragen von Wissen und Geschichten, für die, die sich keine Bücher mehr leisten können. Eine schönere Zukunft wäre, dass Literatur zu Gemeingut wird und Schreibende, Verlegende, Lektor*innen und viele andere gesellschaftlich abgesichert werden. Veröffentlicht wird online und für alle kostenfrei, in verschiedenen Sprachen, Hörspielen und Gebärdenschrift. Es könnte gedruckte Exemplare in öffentlichen Gemeinschaftsbibliotheken geben, für alle nutzbar aber niemandes Eigentum. Die ersten Schritte zum Aufbauen dieser Utopie wurden bereits gegangen.