Hätte alles anders werden können?
Wahrscheinlich nicht – doch über alternative Gegenwarten nachzudenken, ist überlebenswichtig, wenn linke Ideen noch eine Zukunft haben sollen
Von Nelli Tügel
Alternative Geschichte, auch kontrafaktische Geschichte genannt, kannte man lange vor allem aus erfolgreichen Sitcoms wie »Friends« oder »The Big Bang Theory«. In solchen TV-Klassikern der 1990er und Nuller-Jahre wurde in »Was wäre wenn«-Sonderfolgen durchgespielt, wie die Gegenwart der jeweiligen TV-Realität aussähe, wenn in der Vergangenheit etwas geschehen wäre, das nicht geschehen ist. Schon kleinste Veränderungen im Gestern können – so lernte man da – ein ganz anderes Heute nach sich ziehen. Deutlich elaborierter sind bekannte Alternativgeschichten in Romanform – etwa die Geschichte »Das Orakel vom Berge« des Science-Fiction-Autors Philip K. Dick, in der die Nazis den Krieg gewonnen haben.
In den Geschichtswissenschaften dagegen wurde, zumindest, wo ich sie studierte, kontrafaktische Geschichte als unbelegbar und zwangsläufig quellenlos stets mit Skepsis und Nasenrümpfen bedacht. Das scheint sich etwas gelockert zu haben, denn im zurückliegenden Jahr wurde »Was wäre wenn« hierzulande sogar museal geadelt, und zwar nicht irgendwo: Im Deutschen Historischen Museum ließ sich in der Ausstellung »Roads not taken« anhand ausgewählter Wendepunkte der »deutschen Geschichte« erfahren, was möglicherweise hätte sein können, wenn dieses oder jenes sich anders zugetragen hätte. Etwa, wenn die DDR-Führung sich entschieden hätte, 1989 auf die Demonstrierenden in Leipzig schießen zu lassen. Oder wenn die Stauffenberg-Gruppe 1944 Erfolg gehabt hätte mit ihrem Attentat auf Hitler. Oder wenn es die Wehrmacht 1945 geschafft hätte, eine Brücke bei Remagen zu sprengen und damit die Alliierten aufzuhalten.
Die (inzwischen beendete) Ausstellung verfolgte dabei – trotz der Anregung, über Alternativgeschichten nachzudenken – selbst ein bemerkenswert stumpfes fukuyamaisches Programm. Sie startete 1989 und endete 1848 mit der rührseligen Behauptung: Seht her, seit 150 Jahren sehnen sich die Deutschen nach Demokratie, am Ende (also: mit Ende der DDR) haben sie gewonnen.
Roads not taken – von links gedacht
Wenn eine solch triumphale Erzählung ins Museum gebracht wird, lässt das auf Selbstsicherheit schließen. Es ist die Selbstsicherheit derer, die sich als Sieger*innen der Geschichte wähnen. Die des »guten« Deutschlands, sprich: der demokratisch kapitalistischen Variante desselben. Doch wie wäre es eigentlich, wenn man das Ganze von links her denkt? Roads not taken … Zum Beispiel: Was wäre, wenn Rosa Luxemburg 1919 nicht ermordet worden wäre? Oder: Was wäre, wenn im Herbst 1923, wie von der KPD zunächst angedacht, Betriebsräte, KPD und Teile der SPD zu einem reichsweiten Generalstreik für die Verteidigung der Arbeiter*innenregierung in Sachsen aufgerufen hätten? Oder: Was, wenn die DDR 1989 nicht abgewickelt worden wäre, sondern die Chance gehabt hätte, sich zu demokratisieren? Was, wenn der Mai 1968 in Paris anders ausgegangen wäre? Unsere finstere Gegenwart war einmal eine in weiter Ferne liegende, für manch eine*n hell leuchtende, Zukunft. Von dort aus betrachtet, war sie in viele Richtungen offen, alles Mögliche war vorstellbar und wurde höchstwahrscheinlich von kaum jemandem so gedacht, wie es letztlich eingetreten ist.
In jenem Gegenwartsmoment, da Menschen die Geschichte machen, also die Zukunft bestimmen, ist für sie alles offen und vieles möglich. Wer sich abgewöhnt, so zu denken, gibt auf.
So zu denken, muss man sich leisten können. Die Ausstellungsmacher*innen des DHM können es, als Linke droht man derzeit eher, sich lächerlich zu machen. Dabei wird Marxist*innen doch häufig vorgeworfen, sie hingen einem naiv-hoffnungsvollen Geschichtsdeterminismus an – der Vorstellung einer bestimmbaren zwangsläufigen Abfolge der Geschichte hin zur klassenlosen Gesellschaft. Im Moment, angesichts eines zurückliegenden Jahrhunderts, in dem die Arbeiter*innenbewegung im Wesentlichen global und unterm Strich verloren hat und sich die Gegenwart entsprechend düster und dystopisch gestaltet, scheint doch eher ein umgekehrtes Problem vorzuliegen: Viele Linke können sich nicht einmal mehr vorstellen, dass es auch hätte anders kommen, dass auch »wir« hätten gewinnen können (und was das eigentlich bedeutet, also: wie dann unsere Gegenwart unter Umständen aussähe).
Der Fehler der Vergangenheit
Das ist natürlich nur ein theoretischer Konjunktiv. Es gibt fast unendlich viele Gründe dafür, dass alles genau so gekommen ist. Doch in jenem Gegenwartsmoment, da Menschen die Geschichte machen, also die Zukunft bestimmen, ist für sie alles offen und vieles möglich. Wer sich abgewöhnt, so zu denken, gibt auf. Und kann nur noch darauf warten, dass, wie in Alex Garlands Serie »Devs«, irgendein durchgeknallter Silicon-Valley-Milliardär die notwendige Technik (Computer, die mit unvorstellbar vielen Variablen operieren) entwickelt, mit der sich die unausweichliche Zukunft berechnen lässt.
Wer sich abgewöhnt, »Was wäre wenn …« zu denken – im Sinne von Bini Adamczak: nicht rückwärtsromantisierend –, gibt auch auf, was im Guten (Streit und Debatte) wie im Schlechten (stalinistische Kritik und Selbstkritik) seit jeher zur Arbeiter*innenbewegung und Linken gehört: Dem folgenschweren Fehler sowie der ungenutzten Chance in der Vergangenheit einen großen Platz in strategischen Überlegungen zu Gegenwart und Zukunft einzuräumen, katastrophale Verfehlungen im Namen der eigenen Idee betrauern zu können und verstehen zu wollen. Denn wenn alles kommen musste, wie es ist und sein wird, dann ist das egal: Dann muss keine*r mehr interessiert daran sein, was andere, die sich eine andere Welt wünschten, vor uns getan haben, inwiefern das zu dem beigetragen hat, wie es heute ist – und was sich daraus ableiten, also: lernen lässt.
Mit seinem bekannten und vielzitierten Ausspruch aus dem 18. Brumaire, dass die Menschen ihre eigene Geschichte machten, aber »nicht aus freien Stücken«, beschrieb Karl Marx, wie die Vergangenheit die Gegenwart prägt. Doch auch nicht eingetretene Zukünfte tun dies – im besten Fall im guten Sinne, wenn man das Nachdenken über sie erhält und pflegt. Und damit auch die Zukunft, die noch vor uns liegt.