analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|Thema in ak 697: 1923

Avantgarde der Reaktion

Ein diktatorischer Block unter einem Generalstaatskommissar spitzte den bereits länger vorhandenen Autoritarismus und Antisemitismus in Bayern zu

Von Gerhard Hanloser

Eine Gruppe bewaffneter Männer, einer mit Hakenkreuzbinde am Arm, in Uniform, daneben ein Mann im Anzug, dahinter ein LKW mit behelmten und bewaffneten Männern.
Putsch in München: Der Stoßtrupp Hitler nimmt linke Abgeordnete als Geiseln. Foto: gemeinfrei

Betrachtet man das südöstlichste der insgesamt 17 Länder der Weimarer Republik, so wird deutlich, wie kurz der Weg von 1923 zu 1933 war. Bayern, das 1918 und 1919 noch zwei kurze revolutionäre Räteepisoden in München erlebte, stand weniger Jahre später am rechten Rand der Republik. Bayern war Avantgarde der Reaktion. Der Monarchist Gustav Ritter von Kahr hatte Mitte März 1920 eine Regierung gebildet, die eine Einladung an alle Antirepublikaner gleichkam. Ernst Niekisch, selbst Vordenker des Nationalbolschewismus, schrieb in seiner antifaschistischen Analyse »Das Reich der niederen Dämonen« von 1953: »Alle steckbrieflich gesuchten Feinde der Weimarer Republik gaben sich in München unter dem Schutz der Behörden ein fröhliches Stelldichein. Dagegen hörte die Legalität auf, wo sie dem Proletarier hätte zugute kommen sollen: das brachte Bayern den Ruf ein, die bürgerliche ›Ordnungszelle‹ zu sein.«

Waren im übrigen Deutschland die Freikorpsverbände Ende Mai 1920 verboten worden, konnten sie in Bayern nach wie vor agieren. Selbst das Drängen der Sieger des Ersten Weltkriegs, die bewaffneten Einwohner*innenwehren aufzulösen, stieß in Bayern auf taube Ohren. Schließlich galten sie als entscheidender Ordnungsfaktor bei der führenden Bayerischen Volkspartei, aber auch beim Militär, der Verwaltung und der Unternehmer*innenschaft. Die Angst vor dem Bolschewismus hatte 1919 zur Gründung dieser Wehren geführt, die mit ihrer antidemokratischen Haltung beständig die Republik destabilisierten.

Rechter Cocktail

Nicht ohne Grund beschrieb der Schriftsteller Thomas Mann die bayerische Landeshauptstadt bereits im Juli 1923 als »Stadt Hitlers«. München war Mittelpunkt der antidemokratischen und frühfaschistischen Bewegung. Antiurban, antiintellektuell und antipreußisch ging es dort zu. Die rustikale und primitive Stimmung auf dem Land lässt sich beim bekannten Volksschriftsteller Ludwig Thoma ablesen. Dieser pflegte einen rabiaten Antisemitismus. Von dem Oberammergauer waren 1921 Töne in Richtung der aus Osteuropa migrierten Juden und Jüdinnen zu vernehmen, man möge »diese Pest ausrotten«.

Ein derartiger Antisemitismus wurde ebenfalls im akademischen Milieu gepflegt, wo die Judenfeindschaft sich zuweilen wissenschaftlich oder elitär gab. So stammten aus der Münchner Studentenschaft antisemitische Hetzparolen gegen den dann ermordeten Außenminister Walther Rathenau. Kleinbürger ließen sich mit der pseudosozialistischen Demagogie des Antisemitismus ködern, Landwirte mit klerikalem Antijudaismus. Gegenstimmen kamen aus dem Arbeiter*innenmilieu. Die Sozialdemokratie galt den völkischen Propagandist*innen als »verjudet«, die Kommunist*innen als Knechte des »jüdischen Bolschewismus«, Anarchist*innen wie Erich Mühsam wurden pathologisiert. 

Gustav von Kahr erließ eine Verordnung zur Ausweisung mehrerer hundert jüdischer Familien aus Bayern.

Ende September 1923 sollte über einen Coup des Ministerpräsidenten der bayerischen Staatsregierung, Eugen von Knilling, der reaktionäre Separatismus Bayerns und seine antirepublikanische Verfasstheit eine festere Form erlangen: Er ernannte Gustav von Kahr zum Generalstaatskommissar mit diktatorischen Vollmachten. Mit Generalleutnant Otto von Lossow, Landeskommandant der Reichswehr in Bayern, und Hans von Seißer, Kommandeur der bayerischen Polizei, bildete von Kahr eine Art »Triumvirat«. Dessen Ziel war es, von der »Ordnungszelle« Bayern aus die Republik in ganz Deutschland zu beseitigen und nach dem Vorbild Benito Mussolinis eine »nationale Diktatur« zu errichten. Zum Amtsantritt 1923 in der Rolle des Generalstaatskommissars verhängte von Kahr sogleich den Ausnahmezustand in ganz Bayern. Auch sollte dort das landesweite Verbot der NSDAP-Zeitung Völkischer Beobachter nicht gelten. Am 29. September setzte er den Vollzug des Republikschutzgesetzes für Bayern außer Kraft, das nach der Ermordung von Walter Rathenau in der ganzen Weimarer Republik erlassen wurde.

Ein entscheidend propagandistischer Effekt kam der Verordnung zur Ausweisung mehrerer hundert jüdischer Familien aus Bayern zu. Betroffen waren mehrheitlich Jahrzehnte davor aus Osteuropa eingewanderte Jüdinnen und Juden. Man kann diese antisemitische und antimigrantische Politik als Manöver interpretieren. Damit wollte von Kahr seine Basis bei der extremen Rechten, den Anhängern Adolf Hitlers und des sogenannten Deutschen Kampfbundes ausweiten, zumal er und Hitler in einem Konkurrenzverhältnis standen. Ideologisch vermochte von Kahr jedoch eine langjährig gepflegte antisemitische Stimmung in Bayern zu bedienen und ihr in einer Staatsaktion Nachdruck verleihen.

Migrationsabwehr und Revolutionsfurcht

Bereits am 8. Dezember 1919 hatte der Münchner Polizeipräsident Ernst Pöhner erklärt: »Die Ostjuden sind und bleiben ein schädlicher Fremdkörper im deutschen Volke.« Pöhner war Mitglied der Thule-Gesellschaft, einem völkisch-antisemitischen Geheimbund, und persönlich mit Hitler bekannt. Der spätere Diktator fand für ihn in seiner Schrift »Mein Kampf« lobende Worte als einen Mann, der »erst Deutscher und dann Beamter« sei. Der Polizeipräsident war 1923 führend am Hitler-Luddendorff-Putsch beteiligt. Noch in seiner kurzer Haft wurde er für den Völkischen Block in den bayerischen Landtag gewählt, später trat er zur Deutsch-Nationalen-Volkspartei (DNVP) über.

Für Pöhner bewegten sich die aus Osteuropa eingewanderten Jüdinnen und Juden vor allem in der Nähe der KPD, sie stünden für Aufruhr, Umsturz und Revolutionsabsichten. Es galt sie der Logik des Ultranationalismus folgend aus Staat und Nation zu entfernen. Rassistische Vorstellung einer Unvereinbarkeit unterschiedlicher »Rassen« waren diesem Ultranationalismus beigemengt. Analysiert man den antisemitischen Diskurs gegen die seit den 1890er Jahren aus Osteuropa Zugewanderten, so fällt die Mischung aus rassistischer Sozialhygiene und Revolutionsangst auf. Pöhner propagierte als Lösung eine Ausweisung großen Stils. Doch diese administrativen Absichten stießen auf Vorbehalte der Landesregierung; auch innerhalb der Polizeiführung ließ sich keine Einigung darüber erzielen. Das sollte sich erst mit dem mit Sonderbefugnissen ausgestatteten Generalstaatskommissar von Kahr ändern.

Ganze vier Tage nach von Kahrs Amtsantritt am 26. September 1923 wurde einer sogenannten Fremdenverordnung der Weg geebnet, der zu vermehrter Kontrolle, Gängelung und Abschiebung der osteuropäisch-jüdischen Migrant*innen führte. Die von Ausweisung Betroffenen wurden als Agent*innen der Sowjetunion dargestellt. Diese Maßnahmen müssen als direkte Vorgeschichte der antisemitischen Verfolgungspolitik der deutschen Faschist*innen begriffen werden. Das Tor zu solchen Maßnahmen geöffnet zu haben, bleibt das schreckliche Verdienst von Kahrs, auch wenn er im November 1923 der Polizei den Befehl gab, den Demonstrationszug der Nationalsozialisten am 9. November 1923 aufzulösen. Damit wurde der Hitler-Luddendorff-Putsch niedergeschlagen. Aus Rache für diesen »Verrat« wurde von Kahr schließlich zur Zeit der Röhm-Affäre 1934 erschossen.

Gegenanalysen

Das zusehends unerträgliche antisemitische Klima Bayerns, die autoritären und präfaschistischen Ordnungsvorstellungen auf höchster Ebene wurden von kritischen Zeitgenoss*innen durchaus bemerkt. Reisende, meidet Bayer, schrieb Kurt Tucholsky in der Weltbühne. Ernst Toller war sich sicher, dass im Jahre 1923 die »Freiheit des Geistes als Verbrechen geahndet« werde, wie er im September aus der Haftanstalt Niederschönenfeld schrieb. Toller selbst stellt das typische Feindbild der bayerischen völkischen Bewegung und ihres nationalsozialistischen Teils dar.

Seine Biografie verweist auf den Revolutionsversuch der bayerischen Räterepublik von 1918/1919, er war leidenschaftlicher Gegner des deutschen Militarismus und jüdischer Intellektueller. Die Kommunistische Internationale (Komintern) analysierte Bayern zeitgenössisch als Hort der Reaktion und der Formierung des Faschismus. August Thalheimer verfasste am 6. Oktober 1923 für die Internationale Pressekorrespondenz der Komintern eine Analyse, wonach die sozialdemokratisch dominierte Weimarer Koalition von Kahr und General Lossow »die Ausübung der Reichsdiktatur in Bayern« überlassen hätte. Hauptfeind für die »weiße Front von Ebert bis Kahr« sei das rote Sachsen und Thüringen sowie das rote Berlin. Der kommunistische Funktionär Alexander Abusch lieferte im Januar 1924 eine genauere Untersuchung des rechten Lagers unter dem Titel »Der bayerische Bürgerkrieg«, betonte dabei die Verzahnung von bürgerlicher Herrschaft und faschistischem Aufmarsch. Abuschs zeitgenössischer Text von 1924 endet mit der bonapartistischen Prognose und Prophezeiung: »Im wirren Hexenkessel des bayrischen Reaktionshortes schien sich der 18. Brumaire des Faschistenhäuptlings Adolf Hitler vorzubereiten.«

Gerhard Hanloser

hat zuletzt »Identität & Politik. Kritisches zu linken Positionierungen« beim Mandelbaum Verlag herausgegeben. Zum Antisemitismus veröffentlichte er 2003: »Krise und Antisemitismus. Eine Geschichte in drei Stationen von der Gründerzeit über die Weltwirtschaftskrise bis heute«.