Polens Pride and Prejudice
Wie die PiS-Regierung die Queer-Community unterdrückt und sich gleichzeitig eine säkulare Pride-Bewegung formiert
Von Jos Stübner
Ein Samstagnachmittag Ende Juli in Sanok. Die 40.000-Einwohner*innenstadt liegt im Karpatenvorland, einer tief konservativ und katholisch geprägten Region im Südosten Polens. Kirchliche Prozessionen, Wallfahrtsgruppen oder die in Polen populären Männer-Rosenkranz-Gruppen bestimmen üblicherweise das öffentliche Bild. An diesem Tag begegnet man hier aber einem in Regenbogenfarben getauchten Umzug mit überwiegend jungen Menschen. Es ist bereits das zweite Mal, dass in Sanok ein »Gleichheitsmarsch«, wie die Pride-Paraden in Polen heißen, abgehalten wird. Im ganzen Land kamen in den vergangenen Jahren immer neue Pride-Märsche auch fernab der liberalen Metropolen hinzu, in denen die Märsche bereits zu großen Stadtfesten angewachsen sind. In Warschau nehmen inzwischen rund 80.000 Menschen an der jährlichen Gleichheitsparade teil.
Der beeindruckende Zuwachs der Pride-Bewegung steht im deutlichen Kontrast zur massiven queerfeindlichen Atmosphäre, den homofeindlichen Attacken und den diskriminierenden Maßnahmen, von denen die achtjährige Regierungszeit der nationalistisch-autoritären Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) geprägt ist.
Im Namen des Vaters
Homofeindliche Rhetorik findet sich in der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten. Genauso war Gewalt gegen Menschen, die nicht der cis-heteronormativen Ordnung entsprechen, auf der Straße oder im Stadion immer präsent. Homofeindliche »Witze« und Beleidigungen sind fester Bestandteil der polnischen Rap- und Hooligankultur.
Lech Wałęsa, früherer Anführer der Solidarność-Gewerkschaft und ehemaliger polnischer Präsident, erklärte 2013, dass der Platz von Abgeordneten im polnischen Parlament, die einer sexuellen Minderheit angehörten, hinter einer Mauer sei. Der »polnische Papst« Johannes Paul II. brandmarkte Homosexualität als Sünde. Die Regierungszeit der PiS-Partei steht sowohl für eine Zuspitzung dieser Queerfeindlichkeit auf politischer Ebene als auch für eine sichtbare gesellschaftliche Trendwende gegen die queerfeindliche Norm.
Der »polnische Papst« Johannes Paul II. brandmarkte Homosexualität als Sünde.
Als Anfang 2019 der liberale Warschauer Bürgermeister Rafał Trzaskowski eine »Charta LGBT« mit verschiedenen Zielsetzungen zur städtischen Aufklärungs- und Antidiskriminierungsarbeit unterzeichnete, war das der Startschuss für eine, auch in Polen, bislang beispiellose queerfeindliche Kampagne. Die von staatlichen Medien, PiS-Regierungspolitiker*innen, Prominenten und insbesondere der katholischen Kirche getragene Hetze schaukelte sich über Monate hinweg hoch. Schließlich erklärten sich ganze Gemeinden, Bezirke und Regionen zu »LGBT-Ideologie-freien Zonen«.
Einen gewaltsamen Höhepunkt fand die queerfeindliche Welle im Juli 2019, als Hooligans und extreme Rechte aus dem ganzen Land in die ostpolnische Stadt Białystok mobilisierten, wo erstmals eine Pride-Parade stattfinden sollte. Die Hooligans blockierten den Marsch immer wieder. Mit Flaschen, Feuerwerkskörpern und Steinen griffen sie den Umzug an, Teilnehmer*innen wurden durch die Stadt gejagt und verprügelt.
Von oberster staatlicher Stelle werden queere Menschen rhetorisch attackiert oder sprachlich aus der Gemeinschaft verbannt: Staatspräsident Andrzej Duda erklärte, dass es sich bei »LGBT« nicht um Menschen, sondern um eine Ideologie handele. Laut Bildungsminister Przemysław Czarnek sind LGBTIQ-Personen keine »normalen Menschen«.
Auf die Hetze folgt die Repression
Ebenfalls 2019 begann die juristische Verfolgung von Queer-Aktivist*innen und ihren Unterstützer*innen. Drei Frauen mussten sich vor Gericht wegen der vermeintlichen Verletzung religiöser Gefühle verantworten. Der Grund: ein Sticker, der die katholische Nationalikone der Schwarzen Madonna von Częstochowa mit einem Regenbogen zeigte. Die Warschauer Queerfeministin Margot wurde für ihre Widerstandsaktion gegen einen christlich-fundamentalistischen Propaganda-Lautsprecherwagen völlig unverhältnismäßig in Untersuchungshaft festgehalten. Die Gruppe Atlas Nienawiści (Atlas des Hasses) sieht sich für ihre virtuelle Visualisierung der »LGBT-Ideologie-freien« Zonen einer ganzen Serie von Verleumdungsklagen ausgesetzt. Erfolgreich waren die Klagen bislang nicht. Die Einschüchterungs- und Repressionswirkung ist dennoch offenkundig.
Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Jurist*innenvereinigung und rechtskatholische Stiftung Ordo Iuris, welche wiederum mittelbar mit der global tätigen, extrem rechten Organisation Tradition, Family and Property (TFP) verbunden ist. Über die Nähe von Ordo Iuris zu Regierungskreisen entfaltet eine länderübergreifend agierende christlich-fundamentalistischen Bewegung direkte Wirkung in der polnischen Politik. Neben dem Kampf für die traditionelle, heteronormative Familienordnung war Ordo Iuris insbesondere eine treibende Kraft bei der Verschärfung des Abtreibungsrechts in Polen.
In der rechten Rhetorik wird nicht nur der Kampf gegen anti-patriarchale Entwicklungen und Lebensweisen in Polen geführt, sondern ein viel größerer Kampf. Es geht um eine christlich-abendländische Zivilisation als Ganzes. Das katholische Polen befindet sich in der Rolle eines Bollwerks gegen die sogenannte »Zivilisation des Todes«, von der die liberalisierte westliche Welt in dieser Lesart bereits weitgehend ergriffen sei – eine Formulierung, die auf Papst Johannes Paul II. zurückgeführt wird. Das Muster ähnelt dem Fall Ungarns, das ebenfalls in rechten Narrativen weltweit als ideologische Projektionsfläche und als vermeintlicher Hort des westlich-zivilisatorischen Widerstandes fungiert. In Polen verbinden sich Formen des traditionellen Nationalkatholizismus mit transnationalen christlich-fundamentalistischen Einflüssen und dem von Rechten forcierten Topos eines globalen Kulturkampfes.
Langsame aber stetige Liberalisierung
Doch die rechtskatholische Hegemonie in Polen ist keineswegs so sicher, wie es die Bollwerk-Rhetorik glauben machen will. Vielmehr bilden PiS und Kirche einen Abwehrpakt der Reaktion. Denn was die Pride-Bewegung auf der Straße besonders sichtbar macht, spiegelt zugleich einen allgemeinen, langfristigen Trend wider.
Die steigenden Zustimmungswerte für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts oder der gleichgeschlechtlichen Ehe zeigen ebenso wie die massenhafte Abwahl des Religionsunterrichts durch die Schüler*innen im ganzen Land den stetigen Säkularisierungsprozess Polens.
Auch in rechten katholischen Hochburgen wie Białystok oder Lublin konnten sich die Pride-Umzüge inzwischen etablieren. Die besondere Aggressivität der Rechten kann somit auch als Defensivreaktion und Teil eines politischen Backlashs verstanden werden.
Die kommenden Wahlen
Im Oktober wird in Polen ein neues Parlament gewählt. Wie schon bei ihrem Wahlsieg 2015 setzt die PiS-Partei ganz besonders auf rassistische Mobilisierung gegen Zuwanderung und die Aufnahme außereuropäischer Flüchtlinge. Konjunkturbedingt rückt damit das Thema »LGBT« etwas aus dem Fokus. Verschwunden ist es aber keineswegs.
Umfragen deuten darauf hin, dass PiS diesmal nicht die absolute Mehrheit erhalten könnte. Dagegen bestehen gute Chancen für eine Regierungskoalition aus PiS und dem rechtsextremen Parteienbündnis Konfederacja. Den ideologischen Kern dieser Formation aus verschiedenen extrem rechten Kräften jenseits von PiS hat der Ko-Parteivorsitzende der Konfederacja Sławomir Mentzen in einem Satz zusammengefasst: »Wir wollen keine Juden, Homosexuellen, Abtreibungen, Steuern und keine Europäische Union.«
Vom Konfederacja-Spitzenkandidaten Witold Tumanowicz, zugleich Chef des Wahlkampfstabs der Partei, stammt wiederum der Plan, ein Homosexuellen-Register anlegen zu wollen, um zu verhindern, dass diese mit Kindern in Kontakt kommen könnten. Ein Bündnis aus PiS und Konfederacja wäre zweifellos eine durch und durch queerfeindliche Allianz.
Doch auch die Möglichkeit einer Regierungsübernahme durch die liberal-konservative Opposition wird von Vertreter*innen der queeren Community in Polen mit Skepsis betrachtet. Donald Tusk, der Anführer der größten Oppositionspartei, der Bürgerplattform (PO), tritt zwar für eingetragene Partnerschaften ein. Eine weitergehende Gleichberechtigung, etwa mit der Möglichkeit zur Eheschließung, ist mit den Liberal-Konservativen jedoch nicht zu machen.
Auf der Liste von Tusk kandidiert auch der über Jahre hinweg offen homofeindliche Bildungsminister der ersten PiS-Regierung, Roman Giertych.
Die einzige dezidiert queerfreundliche progressive Kraft innerhalb einer liberalen Regierungskoalition wäre das Linksbündnis (Lewica), zu dem etwa auch der schwule frühere Bürgermeister der Stadt Słupsk Robert Biedroń gehört. Mit Umfragewerten im einstelligen Bereich bleibt das politische Gewicht der Lewica im liberalen Lager allerdings überschaubar. Für die queere Community in Polen gilt es in jedem Fall auch künftig, außerhalb des Parlamentes für ihre Rechte zu kämpfen – ob im Alltag oder bei den Pride-Paraden.