Unsichtbar statt unteilbar
Warum es, anders als 2018, heute kaum zivilgesellschaftliche Mobilisierung gegen den Rechtsrutsch gibt
Von Jonas Deyda und Rebecca Rahe
Die politischen Verhältnisse in Deutschland scheinen auf einen autoritären Kipppunkt zuzulaufen: Wahlerfolge der AfD in Sonneberg und Raguhn-Jeßnitz, Zusammenarbeit bürgerlicher Parteien mit ihr in vielen Kommunen, Rechtsverschiebung der CDU unter Friedrich Merz, der die Grünen zum Hauptfeind im konservativen Kulturkampf erklärt – zugleich verschieben sich die Kräfteverhältnisse in der AfD weiter nach rechts, wie sich auf den Parteitagen diesen Sommer deutlich gezeigt hat.
Diese politische Gemengelage erinnert durchaus an den Sommer 2018. Nur sind heute, anders als damals, nicht Hunderttausende auf den Straßen, um dem drohenden Kippen nach rechts Einhalt zu gebieten. Bezeichnenderweise hat sich im Oktober 2022 das zivilgesellschaftliche Unteilbar-Bündnis aufgelöst – vier Jahre, nachdem es am 13. Oktober 2018 in Berlin mit mehreren Hundert Initiativen 240.000 Menschen für eine offene und freie Gesellschaft auf die Straße gebracht hatte. Die Auflösung des Bündnisses verrät deshalb auch etwas über das derzeitige Schweigen der Zivilgesellschaft.
Unteilbar im Bewegungshoch 2018
Auch 2018 war die Bewegungssituation zunächst durch eine Defensive der gesellschaftlichen Linken geprägt. Eine migrationsfeindliche Flächenmobilisierung und eine Welle rassistischer Gewalt waren zum Schrittmacher der politischen Entwicklung geworden. Es gab zwar mit der Selbstorganisierung von Geflüchteten und den Willkommensinitiativen, die sich im Zuge des »Sommers der Migration« 2015 gebildet hatten, Organisierung und Solidarität von unten. Dieser fehlte aber ein sichtbarer politischer Ausdruck. Das sollte sich im Sommer 2018 ändern: Ende September nahmen 25.000 Menschen an der We’ll-come-United-Parade der Geflüchtetenbewegung in Hamburg teil; im Rahmen der Seebrücke gründeten sich in zahlreichen Städten neue Initiativen; in NRW und Bayern gab es Proteste gegen repressive Polizeigesetze; in München demonstrierten im Juli 50.000 Menschen gegen die rhetorische Brandstiftung der CSU. Auch die Mieter*innenproteste (im Frühjahr in Berlin) und die Klimabewegung (Anfang Oktober im Hambacher Forst) brachten Zehntausende auf die Straße
Ein Fanal für die Unteilbar-Mobilisierung war die Hetzjagd von Chemnitz im August 2018. Der offene Schulterschluss der AfD mit der faschistischen Rechten und die Leugnung der rassistischen Gewalt durch den damaligen VS-Präsidenten Hans-Georg Maaßen wurden für viele zum Symbol dafür, dass die gesamte Gesellschaft nach rechts zu kippen drohte. Nur aus dem Zusammenspiel dieser Faktoren erklärt sich, dass die vom Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) initiierte Unteilbar-Mobilisierung im Herbst 2018 ein derart großes Echo fand. Sie verlieh der verbreiteten Angst vor dem rechten Durchmarsch einen Ausdruck. Zentraler Claim des Bündnisses war es, Migration und die soziale Frage nicht gegeneinander auszuspielen. Unteilbar war damit auch ein Gegenentwurf zum sozialkonservativen Aufstehen-Projekt, das Sahra Wagenknecht & Co. im August 2018 lanciert hatten. All jenen, die sich gegen diese migrationsfeindliche Spaltungslinie stemmten, den Rücken gestärkt zu haben, ist einer der größten Erfolge des Bündnisses.
Unteilbar konnte Mobilisierungserfolge in Augenblicken der Gefahr erzielen, in denen ein Mosaik von der radikalen Linken bis zum rot-rot-grünen Spektrum angesichts rechter Gewalt und einer drohenden Machtoption der AfD zusammenstand. Ermöglicht wurde dies durch ein politisches Profil, das keine konkreten politischen Forderungen stellte, sondern das Bild einer Gesellschaft der Vielen zeichnete und dabei bewusst im Ungefähren blieb. 2019 folgten in Leipzig und Dresden zwei Großdemonstrationen, 2020 in Erfurt und 2021 in Halle weitere, allerdings mit weniger Teilnehmer*innen. Die Bündnisstruktur wurde neu aufgestellt, so dass sie sukzessive mehrere ostdeutsche Flächenländer umspannte und von der Kleinstadtinitiative bis zu bundesweiten Verbänden reichte. Die Bündnispraxis von Unteilbar ging im Osten jedoch kaum über Aktionen im Vorfeld von Landtagswahlen hinaus. Dass sie bis auf einige lokale Überbleibsel wie in Mecklenburg-Vorpommern, Südbrandenburg und das Netzwerk Solidarischer Osten weggebrochen ist, ist bitter.
Was ist heute anders?
Die aktuelle politische Konstellation ist komplizierter als 2018/19: Die entscheidende Triebfeder einer breiten zivilgesellschaftlichen, in NGOs, Gewerkschaften und Parteien reichenden Mobilisierung war die allgemein große Dynamik sozialer Bewegungen. Heute herrscht eine andere bewegungspolitische Konstellation: Plattformen wie Seebrücke oder Fridays for Future haben ihren Zenit überschritten. Die gesellschaftliche Linke befindet sich in einer tiefen Krise.
Während die Rechte insbesondere in Ostdeutschland während der Pandemie und der Energiekrise im Zuge des Ukraine-Kriegs Mobilisierungserfolge erzielen konnte, wurde die gesellschaftliche Linke in ihrem Weltbild erschüttert, an neuen Linien gespalten und blieb unter dem Strich handlungsunfähig. Auch das rot-rot-grüne Parteienspektrum ist auseinander gedriftet. Während die Linkspartei sich mit ihrem Flügelkampf selbst an den Abgrund manövriert hat, sind SPD und Grüne heute Teil der Regierung. Damit sitzen auch viele Akteur*innen aus NGOs, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft ideell mit in der Bundesregierung.
Gerade im lauwarmen Herbst 2022 zeigte sich, dass weder die radikale Linke noch zivilgesellschaftliche Bündnisse die soziale Krise politisieren konnten. 2018 war es vergleichsweise einfach, eine Linie von den rechten Mobs zum Heimatministerium unter Horst Seehofer zu ziehen. Heute kann Nancy Faeser erstaunlich geräuschlos die Axt an Grundfesten des individuellen Flüchtlingsschutzes und des Rechtsstaates anlegen, ohne dass nennenswert Menschen dagegen auf die Straße gehen.
Der Antifaschismus des Unteilbar-Bündnisses hat immer versucht, sich vom starren Fokus auf den Gegner zu lösen und, gerade im Augenblick der rechten Gefahr, auch den Horizont für die eigenen Vorstellungen einer solidarischen Gesellschaft zu öffnen. In einer Situation, in der die AfD in Deutschland fest verankert ist, ist das alleinige Warnen vor der faschistischen Gefahr aussichtslos: Die Leute wissen ja, wen sie wählen. Ein Gegenpol braucht deshalb ein offensives Profil, in dem die Gesellschaft der Vielen in ihrer Pluralität sichtbar wird. Diese plurale – feministische, antirassistische und ökologische – Einheit von unten herzustellen, ist für einen erfolgreichen Antifaschismus notwendig, aber unter den Bedingungen einer zersplitterten Linken ungleich schwieriger. Um im oben bereits bemühten Bild zu bleiben: Ein Mosaik, das nur auf einen vagen Konsens gestützt sein kann, lebt von der Strahlkraft seiner einzelnen Steine. In Zeiten der Bewegungsflaute fehlt es an dieser politischen Substanz, die den Aufrufen von Unteilbar Leben eingehaucht hatte.
Schließlich besteht eine strategische Leerstelle in Bezug auf die ostdeutschen Landtagswahlen 2024. Neben Brandenburg sind mit Thüringen und Sachsen zwei Bundesländer an der Reihe, in denen die »Brandmauer« gegen rechts schon länger wackelt. Um überregionale Strukturen neu zum Leben zu erwecken, müsste klar werden, wie Mobilisierungen über die (notwendige) Schützenhilfe für eine Regierungskoalition des kleineren Übels hinausreichen können.
Wie man eine Zivilgesellschaft zerstört
In den vergangenen Jahren wurden viele zivilgesellschaftliche Gruppen mit Repression, Mittelkürzungen oder Gemeinnützigkeitsentzug drangsaliert. Der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten wurde 2019 die Gemeinnützigkeit aberkannt, später wurde dies wieder zurückgenommen. Die Vereine Attac und Campact verloren ihre Gemeinnützigkeit dauerhaft.
Der Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz nahm und nimmt verstärkt Einfluss. Im Mai 2018 kam heraus, dass der Verfassungsschutz seit dem Jahr 2004 insgesamt 51 Demokratieprojekte »auf mögliche verfassungsschutzrelevante Erkenntnisse« überprüft hatte. Er insistierte auch, als an der Universität Hamburg im April 2023 ein Kongress mit dem Titel »Wir wollen unsere Welt zurück« stattfinden sollte. Das Uni-Präsidium reagierte und sagte den Kongress ab.
Fast alle Bundesländer haben in den letzten fünf Jahren ihre Polizeiaufgabengesetze deutlich verschärft. Das extremste Beispiel ist Bayern. Hier kann die Polizei Menschen für bis zu zwei Monate wegen »drohender Gefahr« präventiv in Gewahrsam nehmen. Dies wird vor allem gegen Klimaaktivist*innen angewandt.
Auch das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wird immer wieder beschnitten. Nordrhein-Westfalen verabschiedete ein länderspezifisches Versammlungsgesetz, das vor allem darauf setzt, Menschen einzuschüchtern und von der Teilnahme an Protesten abzuhalten. Es laufen zahlreiche Verfassungsbeschwerden gegen die Novellen der Polizeiaufgabengesetze sowie gegen das Versammlungsgesetz aus NRW. Auch ohne verschärfte Versammlungsgesetze kommt es regelmäßig zu Einschränkungen der Versammlungsfreiheit. So wurden sowohl beim G20-Gipfel in Hamburg, beim G7-Gipfel auf Schloss Elmau sowie erst kürzlich in Leipzig großflächige Demonstrationsverbote ausgesprochen. 2023 wurden Mitglieder der VVN-BdA an der Ausreise nach Ungarn gehindert. Sie wollten an einer antifaschistischen Demonstration in Budapest teilnehmen.
Auch die Presse-, Kunst- und Meinungsfreiheit gerät zunehmend unter Druck. So wurde die Plattform linksunten.indymedia verboten. Die Zeitung junge Welt findet im Verfassungsschutzbericht Erwähnung. Es gab Hausdurchsuchungen beim Radiosender Dreyeckland. Gegen das Kunstkollektiv Zentrum für politische Schönheit wurde wegen »Bildung einer kriminellen Vereinigung« ermittelt. Ebenso sehen sich zahlreiche Antifaschist*innen, sowie Klimaaktivist*innen der Letzten Generation mit dem Vorwurf der »Bildung einer kriminellen Vereinigung« konfrontiert. Zuletzt wurde bekannt, dass auch das Pressetelefon der Letzten Generation abgehört wurde, was ein unzulässiger Eingriff in die Pressefreiheit ist.