Rechtes Abenteuerland
Wie die AfD von der gesellschaftlichen Normalisierung der extremen Rechten im Osten profitiert
Von Marcel Hartwig
Den Vorwurf, Bundespolitiker*innen lebten in ihrer ganz eigenen Welt, kann man Friedrich Merz wahrlich nicht machen. In seinem Sommerinterview sprach er aus, was in zu vielen Kommunen immer wieder vorkommt – die Zustimmung anderer Parteien, durchaus nicht nur der CDU, zu Anträgen der AfD in einem Stadtrat, einer Gemeindevertretung oder einem Kreistag. Die Gründe, die für ein solches Vorgehen genannt werden, gleichen sich: vor Ort spiele die große Politik keine Rolle, es gehe nur um Sachfragen, die örtlichen Vertreter*innen der AfD seien seit langem aus anderen lokalen Kontexten bekannt und wirklich alles andere als rechts, die AfD auf Dauer auszugrenzen, stärke sie nur. All dies, soufflierte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, laufe auf die Notwendigkeit eines »pragmatischen Umgangs mit der AfD« hin. Dieses Signal dürfte in Sachsen und andernorts als Aufforderung verstanden werden, bezüglich einer Kooperation mit der AfD möglichst wenig Aufheben zu machen. Inzwischen recherchierten Zeitungen wie nd und taz zahlreiche Fälle, in denen es zu gemeinsamen Abstimmungen mit der AfD kam und wohl wieder kommen kann. Die viel beschworene Brandmauer gegen die AfD, derzeit die Lieblingsfloskel politischer Kommentator*innen, ist in Wahrheit aus Papier und steht lichterloh in Flammen.
Dies sieht auch die AfD, die nicht müde wird zu erklären, sie sei zur Zusammenarbeit mit der CDU bereit. Auf dem Europa-Parteitag der AfD Ende Juli in Magdeburg forderte Alice Weidel, es müsse ihrer Partei gelingen, die Brandmauer zur CDU einzureißen, dann ergebe sich für die Partei daraus irgendwann eine Machtoption.
Die Normalisierung, die die AfD inzwischen vor allem in Ostdeutschland erfährt, ist oft benannt, aber seltener charakterisiert worden. Ihre Faktoren sind vielgestaltig. Einer ist die politische und habituelle Nähe zwischen der AfD und der ostdeutschen, deutlich kleinbürgerlich-reaktionär geprägten CDU, aber auch den Freien Wählern auf kommunaler Ebene. So war es in den Tagen nach dem Merz-Interview weniger interessant, wer in der CDU sich gegen ihn positionierte, als vielmehr, wer dröhnend schwieg: große Teile der ostdeutschen CDU.
Ost-CDU, Freie Wähler und das extrem rechte Umfeld der AfD sind nicht nur in Sachsen Teil eines in sich durchaus heterogenen, aber wirkungsmächtigen rechten gesellschaftlichen Blocks, der sich nicht in allem, aber doch darin einig weiß, dass alles, was ihm als »links-grün« gilt, abzulehnen ist. Regressive und anti-emanzipatorische Vorstellungen in der Gesellschaftspolitik sind in diesem Milieu Konsens. Dies bedeutet, dass sich alternative Jugendliche unter Extremismusverdacht gestellt sehen, Geflüchtete eine rigide Behandlung erfahren und man nach Hetze gegen einen regionalen CSD nicht lange suchen muss.
Gefährliche Entsolidarisierungen
Ein weiterer Aspekt ist die rechte Gewalt und deren Verharmlosung in der Öffentlichkeit. Als im Juli in Sebnitz offenkundige Neonazis bei dem Versuch gefilmt wurden, in einer Unterkunft für Geflüchtete Menschen zu überfallen, fiel die Reaktion in Medien und Politik äußerst zurückhaltend aus: keine Warnrufe aus der Bundespolitik, keine Schlagzeilen in der Boulevard-Presse. Rechte Gewalt ist, zumal in Ostdeutschland, zwar nicht schön, aber normal und nicht weiter der Rede wert. Wer sie thematisiert, gilt als Nestbeschmutzer*in. Diese Gewalt wird eben nicht von medial aufgeblasenen »linken Chaoten aus Hamburg, Berlin oder Leipzig« ausgeübt, sondern von den Nachbar*innen, Söhnen und Schwiegertöchtern jener, die im Ort bekannt und angesehen sind.
Normalisierung ist auch dies: Nachdem zwei Lehrer*innen aus dem brandenburgischen Burg, die die rechte Hegemonie in ihrer Schule und deren Einzugsgebiet offen kritisiert hatten, kam es zu einer Entsolidarisierung innerhalb des Kollegiums. Das Schulamt erteilte den beiden Lehrkräften einen Maulkorb und extrem rechte Kader riefen offen zur Jagd auf die beiden Lehrer*innen auf, die inzwischen einen Versetzungsantrag gestellt haben. Dieser Fall ist ein Lehrstück, in dem das Zusammenspiel der genannten Ereignisse dafür sorgt, dass Engagement gegen rechte Hegemonie offensiv bestraft wird und massive persönliche Konsequenzen hat, vor deren Umsetzung die Betroffenen niemand bewahren kann und will. Anders gesagt: Die AfD und ihr politisches Vorfeld sind in diesem Fall nur ein Faktor, der dafür sorgt, dass sich aktive Antifaschist*innen zurückziehen müssen. Zur Normalisierung gehört, dass jene, die der AfD und ihrem extrem rechten Umfeld widersprechen, unsichtbar gemacht werden.
Einer AfD, die wöchentlich auf dem Marktplatz einen Infostand betreibt und eine engmaschige Social-Media-Arbeit macht, fällt eine regionale Meinungsführerschaft zu.
Die Wähler*innen der AfD bilden gewissermaßen das Hellfeld der Normalisierung der extremen Rechten. Der Resonanzraum für ihre politischen Haltungen ist um ein Vielfaches größer. Gerade in ländlichen und kleinstädtischen Kontexten hat die Meinungsführerschaft inne, wer mit einer gewissen Kontinuität in der lokalen Öffentlichkeit sicht- und ansprechbar ist. Einer AfD, die wöchentlich auf dem Marktplatz einen Infostand betreibt, deren Vorfeld anlassbezogen zu Demos gegen Corona-Maßnahmen und Geflüchtete aufruft und eine engmaschige Social-Media-Arbeit macht, fällt diese regionale Meinungsführerschaft zu. Eine gesellschaftliche Linke hingegen ist in diesen Regionen nur durch Einzelpersonen repräsentiert, die wiederum schnell zum Ziel persönlicher Angriffe werden.
Natürlich hat die Normalisierung der AfD und ihrer Inhalte eine Vorgeschichte in den 1990er und 2000er Jahren, in denen in Ostdeutschland NPD, DVU und eine damals Hegemonie fähige rechte Jugendkultur das Feld für die heutigen Verhältnisse bereitete. Und: Schon damals verließen jene Menschen, die dem Druck nicht standhielten, jene Regionen, in denen die extreme Rechte stark war.
So betrachtet, resultiert die Stärke der AfD nicht aus ihrem politischen Geschick, ihrer vorgeblich genialen politischen Kommunikation oder ihrem geschulten Personal, sondern vielmehr aus ihrer Fähigkeit, den öffentlichen Raum zu besetzen und zu dominieren, weil andere Akteur*innen zu schwach, zu unorganisiert und zu diskontinuierlich auftreten.
Nimmt man die skizzierten Faktoren der Normalisierung als Tatsache, so ergibt sich daraus die Notwendigkeit, in konkreten Szenarien für den Fall weiterer Machtbeteiligungen der AfD zu denken. Weitere Bürgermeister- und Landratsposten sind für die AfD in Reichweite. Dies stellt für Strukturen, die die AfD zum Feind erklärt hat, eine konkrete Bedrohung dar. Läuft es, wie die Umfragen es für die AfD derzeit voraussagen, wird die Luft nicht nur für Antifas dünner als ohnehin schon. Es verlieren soziokulturelle Zentren, Beratungsstellen für Frauen, migrantische Initiativen jene Unterstützung, aus der bislang zumindest Betriebs- oder ein Teil der Personalkosten gedeckt werden konnten, Bands verlieren Auftrittsmöglichkeiten, freie Theatergruppen ihre Spielorte, Jugendgruppen ihre Treffpunkte. Kurz: Das ohnehin gefährdete Feld kritischer Initiativen stünde in seiner Gesamtheit grundsätzlich zur Disposition. Zudem werden regional Protagonist*innen, die für ihre kritische Haltung zur AfD bekannt sind, in ihrem Umfeld massiv unter Druck geraten. Dies sind gerade in Ostdeutschland nicht nur Linke, sondern alle, die aus sehr unterschiedlichen Gründen der AfD entgegentreten.
In der Provinz beginnt es
Für den Fall weiterer regionaler Machtzugriffe der AfD gilt es, Auffangnetze zu schaffen, die in der Lage sind, zumindest eine Basisfortführung jener akut bedrohten politischen und gesellschaftlichen Arbeit zu gewährleisten. So wäre zu prüfen, ob Initiativen wie das Netzwerk Polylux in die Lage versetzt werden können, regionale Kooperationspartner*innen stärker und kontinuierlicher zu unterstützen, als das bisher möglich war. Hier muss über Geld, aber auch über die Sicherheit von Aktivist*innen und den Transfer von Knowhow und Skills konkret gesprochen werden.
Diese Sichtweise setzt sich bewusst dem Vorwurf aus, die Situation negativ zu überzeichnen. Hier soll nicht dem Rückzug und der Aufgabe das Wort geredet werden. Es geht darum, sich die Folgen der Normalisierung der extremen Rechten und ihre realen Machtoptionen als Gefahr nächster Zukunft vor Augen zu führen und nach Wegen zu suchen, verbliebene Akteur*innen und Strukturen zu schützen und ihnen Handlungsfähigkeit gerade unter absehbar erschwerten Bedingungen zu ermöglichen.
Wie schrieb »Kraftklub« in einem Songtext sinngemäß: »Ich will nicht nach Berlin.« Richtig, es können nicht alle nach Berlin gehen, wenn sich die Landnahme der extremen Rechten zunächst in Ostdeutschland fortsetzt.
Denn eines ist auch klar: Alle Entwicklungen, die sich jetzt für einige scheinbar weit weg im vermeintlichen ostdeutschen Hinterland abspielen, könnten mit einem gewissen Zeitverzug und geringfügiger inhaltlicher Modifikation alsbald im Westen und auch in den Metropolen Platz greifen.