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|Thema in ak 693: Endet die US-Hegemonie?

Die Grenze nach Süden schließen

Ein tödlicher Brand in einem Abschiebezentrum für Migrant*innen im mexikanischen Ciudad Juárez wirft ein Schlaglicht auf die brutalisierte US-Grenzpolitik

Von Jana Flörchinger

Ein Auto steht unter einem Parkdach, dahinter ein hoher Zaun mit Stacheldraht, der sich einen Hügel hinaufzieht, dahinter kleine Häuser
Trump mobilisierte mit dem Kampf gegen Migrant*innen seine Wähler*innen. Biden hat nun zwar eine der Maßnahmen aufgehoben; »Lücken« im Grenzzaun werden aber weiterhin geschlossen. Durch die Grenze geteilte Stadt Nogales im US-Bundesstaat Arizona und Mexiko. Foto: Kornelia Kugler

Migrieren ist kein Verbrechen« steht auf einem der vielen Transparente, das an den zwei Meter hohen und in engen Abständen einzementierten Stahlbarren befestigt ist, die ein Abschiebezentrum in der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez umzäunen. Hier, nur wenige hundert Meter entfernt von der Grenzbrücke, die über den weitgehend ausgetrockneten Rio Bravo von Ciudad Juárez nach El Paso, Texas, führt, haben Migrant*innen, Anwohner*innen und Gruppen aus den sozialen Bewegungen der Stadt eine Mahnwache aufgebaut, um 39 Opfern und vielen Verletzen nach einem Brand in einem Abschiebezentrum zu gedenken.

Am 27. März starben 38 Migranten aus Zentral- und Südamerika in einer sogenannten Herberge, die der mexikanischen Migrationsbehörde untersteht und eher einer Haftanstalt ähnelt. Eine weitere Person erlag später ihren Verletzungen. Zuvor hatten 68 Migranten in einer Zelle, in der sie eingesperrt waren, protestiert, weil sie mindestens zehn Stunden weder Wasser noch etwas zu essen bekommen hatten. Die Situation eskalierte, eine Matratze wurde aus Protest angezündet, der Brand breitete sich binnen Sekunden aus. Videos von Überwachungskameras aus dem Innern der Unterkunft zeigen die verqualmte Zelle und hektische Wärter, die davor auf und ab laufen, aber die Gittertüren nicht aufsperren. Später stellte sich heraus, dass Feuerwehr und Notarzt erst viel später verständigt wurden.

Wieso dieses Inferno, wieso an diesem Ort? »Title 42« ist eine Regelung der US-Regierung, die vorsieht, dass Menschen, die einen Antrag auf Asyl in den USA stellen, »express-abgeschoben« werden können, während sie noch auf ein Verfahren oder eine Anhörung warten. Die Regelung hatte die Trump-Regierung 2020, zu Beginn der Corona-Pandemie, eingeführt, sie war vielfach als drastisches Abschottungsinstrument unter dem Deckmantel des Infektionsschutzes kritisiert worden. Am 11. Mai wurde sie nun endlich aufgehoben.

Doch in den vergangenen drei Jahren sind unter dem Title 42 mehr als 2,8 Millionen Menschen von den USA an der Grenze ab- oder wieder ausgewiesen worden. Die Maßnahme hatte außerdem zur Folge, dass Zehntausende Menschen in den Grenzstädten festsaßen. Die Wartenden sind zermürbt, müde und frustriert, so kurz vor ihrem Ziel teilweise monatelang auszuharren. Viele versuchen, sich mit Betteln und Straßenverkäufen durchzuschlagen. Ihre unklare Situation und diffuse Zuständigkeiten führten immer wieder zu Protesten an den Grenzübergängen, die von den mexikanischen Grenzbeamt*innen häufig brutal aufgelöst werden. Oft werden Menschen nach Protesten oder, wenn sie beim Betteln aufgegriffen werden, in Abschiebezentren einsperrt. Auch unter den 39 Opfern des Brandes in Ciudad Juárez waren vor allem Straßenhändler*innen und Bettler*innen, die versuchten, ihre Familien und sich selbst durchzubringen.

Der Brand und der Tod der Migranten offenbart, was die Menschen nicht nur an den Grenzen, sondern auf der gesamten Fluchtroute durch lateinamerikanische und karibische Länder bis an die Grenzen zwischen Mexiko und den USA permanent erleben: Kriminalisierung, weil Migration zum Verbrechen wird. In diese Logik der Bestrafung passt es, dass eine »Herberge« unter Aufsicht der Migrationsbehörde zum Gefängnis wird.

US-Migrationspolitik

Doch weder beginnen die Probleme bei den Grenzbehörden auf beiden Seiten oder den Abschieberegelungen, noch enden sie dort. Vielmehr ist beides Ausdruck einer massiven Verschärfung der Grenzpolitik in den letzten Jahren. Das Paradigma lautet: Migration soll zum Problem der Nachbar- und Transitländer gemacht, die Grenze immer weiter nach Süden verschoben werden. 2016, noch unter der Obama-Regierung, trat das Programm »Südgrenze« in Kraft, das in seiner Logik vergleichbar mit dem EU-Türkei-Deal ist: ein Abkommen zwischen Mexiko und den USA, das unter anderem zur Militarisierung der Grenze zwischen Mexiko und Guatemala führte, mit dem Ziel, Migrant*innen auf ihrem Weg nach Norden bereits dort aufzuhalten.

Migration soll zum Problem der Nachbar- und Transitländer gemacht werden.

Die Trump-Administration machte den Krieg gegen Migrant*innen dann auch innenpolitisch zum Dauerthema. Trump hatte schon im Wahlkampf 2016 mit dem Versprechen, an der Grenze zu Mexiko eine Mauer zu bauen, mobilisiert. Als Präsident setzte er den Bau des Grenzzauns umgehend in Gang, ermutigte rechtsextreme Milizen, die »Verteidigung der Grenze« selbst in die Hand zu nehmen, und brutalisierte den Kurs gegenüber Einwanderer*innen, etwa indem Familien bei der Einreise getrennt wurden. Als 2018 Karawanen von Migrant*innen aus mittelamerikanischen Staaten in Richtung USA zogen, sprach Trump von einer »Invasion« und verlegte Tausende Soldat*innen an die Grenze. Die Pandemie bot dann den Vorwand, mit dem Title 42 die Rechte von Migrant*innen noch einmal drastisch zu beschneiden.

Auch wenn der Title 42 nun aufgehoben wird, werden unter dem demokratischen Präsidenten Joe Biden noch »Lücken« im Grenzzaun geschlossen. Darüber hinaus setzt Biden auf Abkommen zur Migrationskontrolle mit zahlreichen süd- und mittelamerikanischen Ländern, wie sie etwa auf den letzten Amerika-Gipfeln vereinbart wurden. Ein Ziel dabei ist, Migrant*innen durch Aufnahmeprogramme in den Transitländern zu halten – oder Abschiebeabkommen auf den Weg zu bringen.

2021 trat nach Verhandlungen zwischen der US-amerikanischen und der guatemaltekischen Regierung ein Abkommen in Kraft, das Guatemala zu einem »sicheren Drittstaat« erklärt und es ermöglicht, vor allem Migrant*innen aus Zentralamerika dorthin abzuschieben. Die guatemaltekischen Behörden sorgen dann dafür, dass die Menschen in ihre jeweiligen Länder zurückgeschickt werden. Guatemala ist bitterarm. Man geht davon aus, dass bis zu zwei Drittel der etwa 16 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben. Ein Grund, weshalb viele sich für die Migration in den Norden entscheiden.

Die USA und ihr »Hinterhof«

Die »Deklaration von Los Angeles«, in der sich die USA mit zahlreichen lateinamerikanischen Staaten auf einen gemeinsamen Kurs zur Begrenzung von Migration einigten, galt als der größte Erfolg des letzten »Amerika-Gipfels« im Juli 2022. Seit 1994 trifft die Supermacht auf den Gipfeln mit jenen karibischen, nord-, mittel- und südamerikanischen Staaten zusammen, die US-Regierungen klassischerweise als ihren Hinterhof betrachtet haben. Die Zeiten, in denen US-Militär und Geheimdienste die ihnen genehmen Machthaber einfach gewaltsam dort installierten, scheinen aber vorbei zu sein. Angesichts zahlreicher Absagen vor allem linker Regierungschef*innen war nach dem Amerika-Gipfel im letzten Jahr gar von einer »Demütigung« für Präsident Joe Biden die Rede gewesen. Die USA verlieren seit Jahren an Einfluss in der Region. Zwar haben sie ihre Handelsinteressen durch Freihandelsabkommen gesichert und bemühen sich auch aktuell um stärkere wirtschaftliche Kooperation. Allerdings hat China seit 2000 seine wirtschaftlichen und politischen Verbindungen nach Südamerika massiv ausgebaut, die USA in einigen Ländern bereits als Haupthandelspartner abgelöst und sich den Zugang zu wertvollen, für die Energiewende benötigten Rohstoffen gesichert. Dieses Engagement Chinas, das auch Investitionen in strategische Infrastruktur wie etwa die Weltraumüberwachung oder den Cyberspace, aber auch in den Lithiumabbau umfasst, betrachten US-Strateg*innen zunehmend als Risiko für die US-Sicherheit. Sie fordern stärkere Anstrengungen, um Chinas Einfluss in der Region zurückzudrängen.

»Zusammengenommen verstoßen diese Maßnahmen gegen die Verantwortung der Vereinigten Staaten, denjenigen internationalen Schutz zu gewähren, die diesen auf amerikanischem Boden beantragen«, erklärt die salvadorianische Journalistin Celia Medrano im Gespräch mit ak. Title 42, das Programm Südgrenze oder die Einstufung Guatemalas als sicherer Drittstaat sind nur einzelne Elemente, die jedoch verdeutlichen, dass die Regierungen der Region unter Federführung der USA eine Migrationspolitik verfolgen, die den Zugang zum Recht auf Asyl fast unmöglich macht und Menschen zwingt, immer gefährlichere Routen zu wählen, die sie in noch riskantere und sehr häufig gewalttätige Situationen bringen. Derweil sind in Kolumbien und Mexiko bereits spezielle Zentren in Planung, wo künftig lateinamerikanische und karibische Migrant*innen ihr Asylverfahren für die USA beantragen sollen.

Reaktionen aus Zentralamerika

Der Brand im Abschiebezentrum in Ciudad Juárez hat auch hierzulande kurz für Aufmerksamkeit gesorgt. Zu Recht wird die Migrationspolitik der US-Regierung angeklagt oder auf das Behördenversagen in Mexiko oder die Situationen der Menschen in den Grenzstädten aufmerksam gemacht. Die Aufmerksamkeit richtet sich jedoch vor allem auf die USA und Mexiko. Diejenigen, die diese Politik am meisten zu spüren bekommen, kommen aus den Ländern südlich von Mexiko. Von den 68 festgenommenen Männern war fast die Hälfte  aus Guatemala, rund ein Dutzend kam aus El Salvador und Venezuela, weitere aus Kolumbien, Ecuador und Honduras.

Die Journalistin Medrano kritisiert die Entwicklung der Migrations- und Grenzpolitik in der Region auch, weil die Verschiebung der Grenze auch eine Verschiebung der Probleme bedeute, die die humanitären Notstände mit sich bringen. »Man zwingt die Menschen, deren Leben und Unversehrtheit in Gefahr sind, nicht in dem Land Asyl zu beantragen, wo sie es möchten, nämlich in den Vereinigten Staaten, sondern in Drittländern.« Die Nachfrage sei überwältigend hoch, »was zu humanitären Krisen an Grenzknotenpunkten wie in Darién in Panama, Petén in Guatemala und Ciudad Juárez und Tijuana in Mexiko führt«. Und dennoch formieren sich auch trotz der massiven Abschottungspolitik weiter Karawanen von Hunderten bis Tausenden Migrant*innen gen Norden. Erst Ende April ist in Tapachula im Süden Mexikos eine Karawane gestartet. Rund 3.500 Menschen machten sich im Schutz der Gruppe gemeinsam auf den Weg Richtung USA. In den ersten Reihen waren Transparente zu sehen, die Gerechtigkeit für die Opfer des Brandes fordern.

Jana Flörchinger

ist bei den Lateinamerika Nachrichten und arbeitet für medico international.

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