Was ist Imperialismus?
Wie sich der umkämpfte Begriff verändert hat und was er noch erklären kann
Von Robert Heinze
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist der Begriff des Imperialismus plötzlich wieder in aller Munde. Dabei wird er vor allem als Vorwurf gegen den jeweiligen politischen Gegner vorgebracht. Imperialist*in zu sein, heißt irgendwie andere Menschen, Gesellschaften, vor allem aber Nationen oder sogar »Völker« zu unterdrücken. Viel weiter geht die Reflextion über den Begriff nicht.
Dabei hat die Frage, was Imperialismus ist und ob und wie er sich von regulären kapitalistischen Verhältnissen unterscheidet, nicht nur die marxistische Diskussion der letzten 120 Jahre bestimmt. Auf liberaler Seite wurde der Imperialismus oft unter seinen politischen Aspekten als Problem der Internationalen Beziehungen analysiert. Marxist*innen fokussieren dagegen auf die politökonomischen Aspekte. Weitere Begriffe und theoretische Traditionen wie (Neo-)Kolonialismus, De- und Postkoloniale Theorie werden dabei munter mit hineingemischt und verstärken nur die Konfusion. Dahinter steht in vielen Diskussionen die Frage, als was genau man Imperialismus eigentlich begreift: Ist er politisch-militärische Dominanz einzelner Staaten, kulturelle Hegemonie oder die globale Erscheinungsform des Kapitalismus?
Der Begriff des Imperialismus im heutigen Sinn kam um 1900 auf, um die seit 1870 einsetzenden formalen Kolonisierungsprozesse europäischer Großmächte und die zunehmenden Spannungen zwischen ihnen zu erklären. Während die Historiker*innen sich lange für dieses »Zeitalter des Imperialismus« und die unterschiedlichen Faktoren – wirtschaftliche, politische, kulturelle – der europäischen Expansion interessierten, hat sich in den letzten Jahren eine »New Imperial History« auf transhistorisch und global vergleichbare Charakteristika imperialer Herrschaft von der Antike bis heute konzentriert – beispielsweise die Art und Weise, wie Herrschaft in einem Imperium aufrechterhalten wird, ihre Methoden, um vielsprachige, multiethnische und multireligiöse Gesellschaften zu managen oder die Dynamiken imperialer Expansion – und dabei den ursprünglichen Begriff des Imperialismus fast komplett ausgeblendet. Der Historiker Jürgen Osterhammel bedauerte das erst vor kurzem in einem Essay und forderte eine Rückkehr zur wirtschaftsgeschichtlichen Analyse.
Uneinige Marxist*innen
In der marxistischen Tradition wurde der Imperialismusbegriff nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso ausgeweitet, aber historisch und systematisch weiterhin auf das Problem zurückgeführt, bestimmte Aspekte eines globalen Kapitalismus, die sein Expansionsstreben bedingen, zu beschreiben – Aspekte, die bei Marx nur unzureichend ausgeführt waren. Insbesondere Tendenzen zur Monopolisierung und die wachsende Rolle des Finanzkapitals waren bereits von Lenin und seinen Zeitgenoss*innen historisch als Faktoren isoliert worden, die militärische Eroberung, politische Herrschaft und auch zunehmende Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten selbst verursachten. Uneinigkeit bestand in der Frage, ob der Imperialismus eine besondere historische Form oder Phase des Kapitalismus sei (Lenin), eine auf konkrete politische Entscheidungen zurückführbare (also auch wieder umkehrbare) Strategie (Karl Kautsky) oder ein intrinsischer Bestandteil des Kapitalismus, der schon immer auf die Ausbeutung nichtkapitalistischer Produktionsweisen angewiesen war (Rosa Luxemburg).
Ist Imperialismus eine besondere historische Phase des Kapitalismus (Lenin), eine auf konkrete politische Entscheidungen zurückführbare Strategie (Karl Kautsky) oder intrinsischer Bestandteil des Kapitalismus (Rosa Luxemburg)?
In Zeiten der Dekolonisierung und des Kalten Krieges stellte sich die Frage des Imperialismus neu, denn trotz formaler Dekolonisierung und der Versuche, die neuen Länder zu industrialisieren, befanden sie sich weiter in wirtschaftlicher Abhängigkeit. Damit traten die politischen und militärischen Aspekte des Imperialismus zunächst in den Hintergrund, und eine neue Generation marxistischer Theoretiker*innen, viele davon aus der Dritten Welt (1), beschäftigte sich mit seinen politökonomischen Aspekten, insbesondere dem Problem des »ungleichen Tauschs«.
Diese These besagt, dass die sich verschlechternden Außenhandelsbilanzen der Länder der Dritten Welt auf global qualitativ eigene Ausbeutungsverhältnisse nicht nur innerhalb einer Nation, sondern zwischen verschiedenen Nationen zurückzuführen seien. Dieses Ausbeutungsverhältnis wurde zunächst aus dem Unterschied in den Preisen für Rohstoffe abgeleitet, die die abhängigen Länder vor allem exportierten, und fertig produzierten Waren, die sie importierten; in einer zweiten Variante in der Annahme, dass sich die Profitrate international angleiche, die Lohnniveaus dagegen sehr unterschiedlich blieben. In beiden Fällen ist entscheidend, dass das Kapital international mobil ist, die Arbeiter*innen sind es nicht. Dies führe zu einer »Überausbeutung« der Arbeiter*innen in der Dritten Welt – nicht nur produzierten sie den normalen Mehrwert für die Kapitalist*innen, sondern zusätzlich auch Mehrwert, der in den Norden abfließe.
Darauf aufbauend entwickelten sich die Dependenztheorie, die »Unterentwicklung« als notwendiges Element eines globalen Kapitalismus beschrieb, und die Weltsystemtheorie, die die historische Entwicklung des Kapitalismus aus der Dynamik zwischen einem kapitalistischen Zentrum und der von ihm abhängigen Peripherie ableitete. Beide wurden heftig diskutiert. Die Hauptthese des ungleichen Tauschs – dass mehr Wert aus den Ländern des globalen Südens abfließt als umgekehrt – bleibt aber empirisch beobachtbar.
Viele Diskussionen drehen sich allerdings um die Frage, wie sich Imperialismus konkret äußert? Dabei rücken die politischen, militärischen und inzwischen auch immer mehr die ökologischen Aspekte ins Blickfeld. Heute zeigen sich außerdem neue Wege des Abflusses des Mehrwerts aus den Peripherien. War die Dependenztheorie in einer Zeit entstanden, als postkoloniale Staaten versuchten, durch den Aufbau eigenständiger Industrien von ihrer Abhängigkeit vom Rohstoffexport wegzukommen, sehen sich heute vollends industrialisierte Länder damit konfrontiert, dass ihre Produktion in transnationale Warenketten eingebunden ist, die den ungleichen Tausch aufrechterhalten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entwickelten einige die These eines neoliberalen »New Imperialism«, wie David Harvey oder Toni Negri und Michael Hardt.
Viele Ebenen der Ausbeutung
In dieser Theorie zeigt sich der Imperialismus auch immer in politischen Strategien und dem Verhalten von Staaten auf internationaler Ebene. Die EU zum Beispiel ist nicht erst in den letzten Jahren, mit ihren Freihandelsabkommen und der »Festung Europa« zur imperialistischen Akteurin geworden. Tatsächlich sahen ihre Architekt*innen selbst die europäische Integration als Möglichkeit, sich in Zeiten der Dekolonisierung an neue internationale Verhältnisse anzupassen, aber das koloniale Machtungleichgewicht beizubehalten.
Entgegen der »New Imperialism«-These waren aber Freihandel und Produktionsverlagerung in die Peripherie, die Instrumentalisierung des Staates und staatenübergreifende Produktionsketten bereits während der Kolonialzeit erprobte Mittel der Wertschöpfung. Auch die ökologische Ausbeutung gerät zunehmend ins Visier sowohl von Imperialismustheoretiker*innen als auch von Historiker*innen. Land Grabbing, also die Aneignung von kleinbäuerlich genutztem Land durch multinationale Konzerne, steht ebenso in einer kolonialen Tradition wie die Vertreibung indigener Communities aus Naturparks. Der ägyptische Ökonom Samir Amin machte neben der weiterhin bestehenden Ressourcenausbeutung in der Peripherie auch die Abnutzung planetarer Ressourcen wie der Atmosphäre als Teil einer »imperialistischen Rente« aus, die den Zentren zugutekommt.
Imperialismus bezeichnet also zuallererst die ungleichen Verhältnisse und Abhängigkeiten zwischen (meistens national gedachten) Gesellschaften im globalen Kapitalismus. Amin wies aber auch darauf hin, dass diese Verhältnisse sich nicht einfach automatisch aus politökonomischen Gesetzmäßigkeiten ergeben, sondern mittels strategischer Politiken etabliert und aufrechterhalten werden. Freihandelsabkommen, »Migrationsabwehr« und militärische Einsätze sind nicht nur Konsequenzen eines »stummen Zwangs« der Kapitalverwertung, sondern aktive Strategien zur Aufrechterhaltung.
Anmerkung:
1) Der Begriff wird hier verwendet, weil er historisch als Eigenbezeichnung genutzt wurde.