Modernisierung des imperialen Energieregimes
Deutscher Staat und Industrie erschließen fossiles Flüssiggas und »grünen« Wasserstoff – die Kosten werden systematisch abgewälzt
Von Lasse Thiele
Das Letzte, was wir akzeptieren dürfen, ist eine Art von grünem Energie-Imperialismus«, verkündete Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck kürzlich in Namibia. Der Satz, wie abgeschrieben bei der Klimagerechtigkeitsbewegung, diente dem Versuch, Deutschland als den korrekteren Wasserstoff-Handelspartner zu präsentieren. Während andere nur Energie aus Ländern wie Namibia abziehen wollten, sorge sich Deutschland zuerst um die Versorgung der namibischen Bevölkerung. Nur was »übrig bleibe«, nehme man gerne ab, war in einer breit zitierten dpa-Meldung zu lesen.
Tatsächlich zeichnen Pläne für den Aufbau von Wasserstoffinfrastrukturen in Namibia ein ganz anderes Bild: Im Mittelpunkt stehen vier Exporthäfen, im Hinterland soll die benötigte Energie erzeugt werden. Es ist die europäische und speziell die deutsche Industrie, für die das Megaprojekt in der einstigen deutschen Kolonie entsteht. Was hieße es also, den grünen Minister beim Wort zu nehmen?
Der russische Angriff auf die Ukraine brachte die auf billigen Gasimporten aus Russland beruhende deutsche Energiestrategie plötzlich ins Wanken. Unter anderen Verhältnissen böte eine solche Krisensituation eine ökonomische und politische Gelegenheit für eine lokale und ökologische Energiewende. Erneuerbare Energien sind längst ein günstiger, auch zunehmend technisch ausgereifter Ersatz für fossile Importe.
Die meisten kongolesischen Haushalte haben keinen Stromanschluss, aber Energie soll exportiert werden.
Doch der Ausbau lokaler Erneuerbarer ist nur eine von vielen durch die Ampelregierung parallel verfolgten Optionen. Oberste Priorität hat die Versorgungssicherheit. Eher sollen Bezugsquellen diversifiziert werden als Importe vermieden.
Die energetischen Grundlagen der imperialen Lebensweise ausgerechnet in Zeiten eskalierender ökonomischer Unsicherheit aufzugeben, wäre nicht nur politisch extrem unpopulär. Auch die geoökonomische Position Deutschlands legt die gewählte Strategie nahe: Der exportorientierte Industriestandort und die intensive Einbindung in den globalen Luft- und Seeverkehr verlangen nach Energiemengen, die in einem relativ flächenarmen Land mit hohen Bodenpreisen schwer erneuerbar produzierbar sind. So hieße das Mantra »Deutschland kann sich nicht lokal mit Energie versorgen« korrekter: Deutschlands globale Statusverteidigung hängt von Energieimporten ab.
Bisher importiert das Land rund 70 Prozent des Primärenergiebedarfs – fossil. Mittlerweile gehen Szenarien für ein klimaneutrales Deutschland 2045, etwa vom Thinktank Agora Energiewende und dem Ariadne-Forschungsverbund, optimistisch davon aus, diese Quote in einem erneuerbaren, strombasierten Energiesystem fast halbieren zu können – ohne Deindustrialisierung, aber mit konsequentem Energiesparen in der gesamten Ökonomie. Das erscheint innerhalb eines grün-kapitalistischen Rahmens derzeit als Grenze des realistisch Möglichen.
Die mag jedoch verschiebbar sein: »Beschränkte Importpotenziale« könnten laut Ariadne alternativ auch eine höhere lokale Erzeugung erzwingen – unausgesprochener Preis wäre die Internalisierung der damit verbundenen politischen Konflikte etwa um Flächennutzung. Entscheidende Variablen in den Szenarien sind die Anteile an E-Fuels und Wasserstoff im Energiemix. Gerade beim massiven Einsatz der notorisch ineffizienten E-Fuels würde der Importbedarf explodieren. So deuten die jüngsten Politpossen der FDP an, dass das imperiale Energieregime auch auf aktuellem Importniveau in »grün« fortlaufen könnte. Derzeit aber teilt es sich in zwei verknüpfte Stränge: den nicht enden wollenden fossilen und den aufkommenden »grünen«.
Gasindustrie: Den Schock genutzt
Während bei Kohle und Kernenergie trotz aller Scheindebatten der langsame Rückbau veralteter Infrastrukturen nur kurz aufgehalten wurde und das Ölgeschäft einfach weiterläuft, konzentrieren sich Neuinvestitionen im fossilen Bereich auf Erdgas. Der plötzliche massive Ausbau von Flüssiggas-Importterminals ist ein Lehrstück in agiler Krisennutzung. Frühere, aus geopolitischen Gründen vorangetriebene Pläne für solche LNG-Terminals in Deutschland hatte die Gasindustrie bereits auf Eis gelegt: zu teuer, absehbar sinkende Nachfrage. LNG, oft mittels Fracking in benachteiligten Regionen gewonnen, ist teurer und noch klimaschädlicher als Pipelinegas. ImKriegsschock kramte die Gasindustrie die Pläne wieder hervor, stockte sie ordentlich auf, ließ sich vom Wirtschaftsministerium umgehend Milliardensubventionen zusagen und ein kaum hinterfragtes »LNG-Beschleunigungsgesetz« durchs Parlament schleusen.
Der Bundeskanzler sprach bei den feierlichen Einweihungen der ersten schwimmenden Terminals stolz vom »Deutschlandtempo«, das offenbar fossilen Projekten vorbehalten ist. Stationäre Terminals sollen ab 2026 folgen. Gaskonzerne handelten mit staatlicher Unterstützung diverse Langfrist-Lieferverträge für LNG aus – mit US-Firmen und mit Katar. Selbst Umweltverbände wagten kaum Widerworte, wollten sie nicht als Handlanger Putins gelten. So wurde die LNG-Expansion durch Kostenverlagerung ins Ausland und in die Zukunft weitgehend geräuschlos auf den Weg gebracht.
Erst nach einem Jahr löst sich der Schock. Mediale Kritik an Überkapazitäten wächst, NGOs reichen Klagen ein. Der Widerstand vieler Anwohner*innen auf Rügen, aus Sorge um Lärm, ausbleibenden Tourismus und Naturzerstörung, zwang die Bundesregierung kürzlich erstmals, alternative Standorte zu suchen.
»Grüner« Wasserstoffimperialismus?
Diese fossile Expansion wurde öffentlich eng an grüne Zukunftsversprechen geknüpft – über Wasserstoff (H2). So überzeichnet das Bild einer sauberen Wasserstoffzukunft ist, erfüllt es doch wichtige diskursive Funktionen. Zuverlässig wird es überall dort bemüht, wo es eine fossile Gegenwart zu verteidigen gilt – insbesondere beim Erdgas. Als »H2-ready« bewarb Habeck gebetsmühlenartig die LNG-Terminals, ohne rechtliche Vorgaben dafür zu machen. Deren Umrüstung auf Wasserstoff wäre Neuland und gilt als extrem teuer; bei schwimmenden Anlagen ist sie ausgeschlossen. Gleichzeitig spekuliert die Gasindustrie darauf, im Zuge eines schnellen Wasserstoffhochlaufs entstehende Versorgungslücken mit erdgasbasierten H2-Varianten schließen zu können.
Jenseits solcher fossilen Inszenierungen investiert das Kapital mit staatlicher Unterstützung weltweit durchaus in den Aufbau einer »grünen« Wasserstoffproduktion auf Basis erneuerbarer Energien. Dafür ging die BRD zuletzt etliche Partnerschaften mit Ländern des Globalen Nordens wie Südens ein. Beliebtes Leitmotiv ist die Nutzung vermeintlich menschenleerer, wind- und sonnenreicher Peripherie für die günstige Produktion »grünen« Wasserstoffs zum Export ins Zentrum, sei es auf dem afrikanischen Kontinent, der Arabischen Halbinsel oder – vor Kriegsbeginn favorisiert – in der Ukraine. Regelmäßig wird das Wasserstoffgeschäft als völlig neue Art des Nord-Süd-Handels verklärt: nachhaltig und »auf Augenhöhe«.
Dass aber kein Gas der Welt die globalen Machtverhältnisse einfach so auf den Kopf stellt, zeigen die ersten entstehenden Großprojekte. Wie das Projekt H2Politics der Uni Hamburg dokumentiert, sind Land- und Wasserkonflikte im globalen Wasserstoffgeschäft allgegenwärtig. Das von Habeck besuchte Riesenprojekt in Namibia entsteht mit Beteiligung des deutschen Konzerns Enertrag, allerdings ohne die der lokalen Bevölkerung. Wie viel Letztere wirklich von der Wertschöpfung sehen wird, bleibt fraglich. In der DR Kongo dient »grüner« Wasserstoff zur Legitimation neuer, mit massiven Vertreibungen verbundener Staudammprojekte. Obwohl die meisten der kongolesischen Haushalte noch keinen Stromanschluss haben, soll diese Energie exportiert werden. H2-Großkunde des Betreibers Fortescue ist E.on. In Saudi-Arabien, wo ThyssenKrupp an einem der größten »grünen« Wasserstoffprojekte der Welt in der Retortenstadt Neom beteiligt ist, wurden sogar Anwohner*innen getötet, die sich gegen ihre Vertreibung organisierten. Augenfällig ist schließlich das ökologische Konfliktpotenzial der Idee, ausgerechnet Wasserstoff – Zutaten: Strom und Süßwasser – vorwiegend in trockenen Wüstenregionen zu produzieren.
Die Marktsituation mit vielen potenziellen Anbietern entspricht dem deutschen Wunsch nach einer Diversifizierung der Energieimportquellen, untergräbt aber die Verhandlungsposition der südlichen Exportländer. Und natürlich betreibt auch der deutsche Staat Wasserstoff- als Standortpolitik; sein Importförderprogramm H2Global ist auf europäische Konzerne zugeschnitten. Deutschland soll Wasserstoff-Technologiestandort werden, andere dürfen die Rohstoffe liefern – die gewohnte internationale Arbeitsteilung.
Dass es tatsächlich verbindliche soziale und ökologische Kriterien für Wasserstoffimporte geben wird, erscheint trotz Habecks wohlfeiler Rhetorik unwahrscheinlich. Die deutsche Industrie fordert längst im Namen des Klimas größtmögliche »Flexibilität« für einen schnellen Wasserstoffhochlauf. Dass die Importe möglichst billig sein sollen, ohne die bei inländischer Energieerzeugung oft kostspieligen Zugeständnisse an lokale Interessen, ist der Clou des Ganzen. Angesichts der Größenordnung der Exportinfrastrukturen wie Tanker, Terminals und Pipelines wäre ein globaler Wasserstoffhandel ohnehin schwer auf Grundlage dezentraler, lokal kontrollierter Erzeugung vorstellbar.
Antiimperiale Perspektiven
So setzt der deutsche »grüne« Kapitalismus nach wie vor auf ungleiche Handelsbeziehungen mit systematischer Kostenabwälzung. Nach dem Scheitern des Versuchs, mit »Desertec« erneuerbaren Strom aus der Sahara direkt nach Europa zu leiten, soll es nun den teuren Umweg Wasserstoff geben. Inwieweit das Kalkül aufgehen wird, bleibt offen.
Die Klimabewegung konnte bislang trotz abstrakter Beschäftigung mit globaler Klimagerechtigkeit sowie konkreter Solidaritätsarbeit kaum politischen Einfluss auf globale energiepolitische Verflechtungen ausüben. Lokale Konflikte, ob in der Verkehrspolitik oder zuletzt in Lützerath, sind deutlich mobilisierungsfähiger. Die Nachfrageseite ist ohnehin undankbares Terrain: Bei der Wärmewende gerät die Klimabewegung schnell mit der Mieter*innenbewegung aneinander, im Industriebereich mit den Gewerkschaften.
Doch noch gibt es Chancen, der anstehenden ökologischen Modernisierung des imperialen Energieregimes etwas entgegenzusetzen: Konkrete Kämpfe um geplante LNG- und Wasserstoffinfrastrukturen könnten Kostenkalküle kippen und »Importpotenziale« so aktiv »beschränken«. Um dieses Energieregime zu stürzen, wäre allerdings auch der deutsche Verbrauch auf das lokal ökologisch erzeugbare Niveau zu drücken.