Die reaktionäre Tradition brechen
Alexander Kübler von der Kampagne für ein umfassendes Streikrecht erklärt, wie die vielen Streikverbote in Deutschland aufgeknackt werden könnten
Interview: Nelli Tügel
In der Bundesrepublik dominiert eine eher restriktive Rechtsprechung in Sachen Streikrecht. Was anderswo selbstverständlich ist, politischer Streik etwa, ist hierzulande verboten. Doch es gibt gewerkschaftliche Versuche, daran etwas zu ändern: Juristisch und durch Arbeitskampf selbst. Durch die Gründung der Kampagne für ein umfassendes Streikrecht kommt das Thema wieder auf die Tagesordnung. Wie sie ein umfassendes Streikrecht erreichen wollen und warum die Hürden so hoch sind, erklärt Vertrauensperson der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Alexander Kübler.
Gemeinsam mit anderen hast du vor kurzem die Kampagne für ein umfassendes Streikrecht in Berlin gegründet – warum eigentlich, und warum gerade jetzt?
Alexander Kübler: Ein Anlass ist der laufende Prozess gegen drei ehemalige Beschäftigte beim Online-Lieferdienst Gorillas. Die Kolleg*innen wurden entlassen, weil ihnen die Teilnahme an einem sogenannten wilden Streik vorgeworfen wurde.
Außerdem gibt es seit Juni 2022 eine Arbeitsgruppe in der GEW Berlin, die sich mit dem Streikrecht auseinandersetzt. Wir wollen das Thema durch die Kampagne stärker in die Öffentlichkeit tragen und insbesondere auch innerhalb der Gewerkschaften Diskussionen dazu anstoßen.
In Deutschland gab es ja immer mal wieder Versuche, das Thema anzugehen und das Streikrecht zu erweitern, gelungen ist es bisher nicht – gerade auch, weil sich die großen Gewerkschaften hier eher bedeckt halten. Warum tun sie das deiner Meinung nach?
Die Gewerkschaften befürchten Schadenersatzforderungen, wenn sie zu einem Streik aufrufen, der nicht den rechtlichen Kriterien entspricht. Allerdings gab und gibt es immer wieder Streikaufrufe, die nicht von der Rechtsprechung – derzufolge u.a. politische Streiks, sogenannte wilde, also verbandsfreie Streiks und Beamt*innenstreiks verboten sind – gedeckt werden. Zum Beispiel hat die GEW in Berlin 2011 auch die Beamt*innen zum Streik aufgerufen. Am 1. März 2023 findet vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Verhandlung der GEW zur Frage statt, ob Beamt*innen streiken dürfen. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2018 das Streikverbot für Beamt*innen bestätigt.
Was sind darüber, dass ihr die Diskussion in die Gewerkschaften tragen wollt, hinaus konkret eure Ziele?
Unser Ziel ist es, das Thema Streikrecht und dessen Einschränkungen bekannter zu machen und dabei mitzuhelfen, langfristig ein umfassendes Streikrecht in Deutschland zu etablieren. Die reaktionäre Tradition, der die deutsche Rechtsprechung zum Streikrecht bis heute weitgehend folgt, ist vielen gar nicht bekannt.
Kannst du sie kurz skizzieren?
Das Streikrecht hierzulande ist immer noch geprägt von den Auffassungen des Arbeitsrechtlers und ehemaligen Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts Hans-Carl Nipperdey, welcher im Faschismus einer der Kommentatoren des Gesetzes »zur Ordnung der nationalen Arbeit« war. Viele Einschränkungen, die in Deutschland als selbstverständlich hingenommen werden, sind in anderen Ländern wie zum Beispiel Frankreich undenkbar. Dazu gehört zum Beispiel das Verbot der Beamt*innen an Streiks teilzunehmen und die herrschende Rechtsauffassung, dass Streiks nur von tariffähigen Gewerkschaften ausgerufen werden dürfen. Diesen Zustand wollen wir ändern.
Aber wie wollt ihr das erreichen? Um das restriktive Streikrecht in Deutschland aufzubrechen, braucht es wahrscheinlich die Mobilisierung von Lohnabhängigenmacht, ein politischer Streik etwa wäre ein gutes Machtinstrument, aber der ist ja verboten, die Kampfmöglichkeiten sind damit eingeschränkt – beißt sich da nicht die Katze in den Schwanz?
Um die bestehenden Einschränkungen zu überwinden, wären massenhafte Streikaktionen nötig, die den herrschenden Rechtsrahmen sprengen. Denn eine Änderung der Gesetzeslage kann nur geschehen, wenn es durch Überschreitungen des herrschenden Rechts zu einer Neubewertung der Rechtslage kommt.
Letztendlich geht es aber auch beim Streikrecht um eine gesellschaftliche Machtfrage, darum, ob wir als Beschäftigte es schaffen, unsere demokratischen Rechte auszuweiten. Sich dabei ausschließlich auf den juristischen Weg zu verlassen, wäre daher der falsche Ansatz. Es muss vielmehr darum gehen, dass wir uns unsere Rechte selbst nehmen und politischen Druck erzeugen. Dabei ist es natürlich wichtig, die Konsequenzen für die Kolleg*innen im Blick zu haben, die sich beispielsweise an einem politischen Streik oder einem verbandslosen Streik beteiligten.
Wie zum Beispiel könnte man diesem Risiko Rechnung tragen?
Ganz einfach: Je größer eine Beteiligung an einer derartigen Streikaktion ist, umso sicherer ist es für die einzelne Kollegin. Um diesen Zielen näher zu kommen ist eine kontinuierliche Arbeit in den Betrieben und Gewerkschaften nötig, denn ohne die Organisierung an der Basis ist eine Ausweitung des Streikrechts nicht umsetzbar.
Das Streikrecht ist historisch erkämpft worden, seine Ausweitung wird uns nicht geschenkt.
Welche Rolle spielt in eurer Kampagne der von dir eingangs erwähnte Rechtsstreit, den die Gorillas-Beschäftigten führen, die klären lassen wollen, ob verbandsfreie Streiks nach der Europäischen Sozialcharta nicht auch in Deutschland rechtens sein müssten?
Auf die Europäische Sozialcharta (ESC) beziehen wir uns mit der Kampagne stark. Denn die ESC bietet einen rechtlichen Rahmen, der ein umfassendes Streikrecht beinhaltet. Artikel 6 Nr. 4 der ESC gewährleistet den Arbeitnehmer*innen das Recht auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts. Eine Beschränkung des Streikrechts auf tariffähige Gewerkschaften oder eine Beschränkung der Ziele des Streiks auf den Abschluss von Tarifverträgen ist dort nicht vorhanden.
Wir unterstützen die Gorillas-Beschäftigten bei ihrer Klage, die bis zum Bundesverfassungsgericht gehen kann. Eine gerichtliche Feststellung, dass der verbandsfreie Streik nicht illegal war, wäre ein großer juristischer Erfolg. Wir dürfen uns aber nicht allein darauf verlassen oder uns nur darauf konzentrieren, denn das Streikrecht ist etwas, das historisch erkämpft wurde und dessen Ausweitung uns nicht geschenkt werden wird.
Eine eurer ersten Aktionen war ein Protest in Solidarität mit den Streikenden in Großbritannien, wo das Streikrecht gerade eingeschränkt werden soll. Warum ist es euch wichtig, auch internationale Solidarität zu zeigen?
Um zu zeigen, dass wir uns nicht spalten lassen und gegen die Angriffe zusammenstehen, über Landesgrenzen hinweg. In vielen Ländern ist das Streikrecht restriktiv, zum Beispiel in Polen oder eben auch in Großbritannien. Es gab einen Aufruf aus Großbritannien, am 1. Februar vor britischen Botschaften zu protestieren. Mit unserer kleinen Kundgebung in Berlin wollten wir unsere Unterstützung für den Kampf der Arbeiter*innen ausdrücken. Über die sozialen Medien konnte die Aktion auch bis zu den streikenden Kolleg*innen in Großbritannien vermittelt werden.
Könnte so etwas wie dort deiner Meinung nach auch in Deutschland drohen?
Es gab in der Vergangenheit bereits Aussagen von konservativen Politiker*innen, die das Streikrecht in bestimmten Bereichen wie zum Beispiel bei der Bahn einschränken wollen. Gerade angesichts der Krise sind Angriffe auf die Rechte der Beschäftigten zu erwarten, auch hier können bestehende Standards in Frage gestellt werden.
Was plant ihr für die kommenden Monate?
Wir wollen eine Veranstaltungsreihe zum Thema Streikrecht organisieren. Außerdem ist am 25. April der Prozess der drei gekündigten ehemaligen Gorillas-Beschäftigten vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg. Zum Prozess wollen wir mobilisieren und den Fall in die Öffentlichkeit tragen. Wir werden eine Kundgebung am Prozesstag organisieren. Dabei geht es um uns alle, denn wie gesagt: Wenn die Gorillas-Beschäftigten mit ihrer Klage Erfolg haben, würde das eine Verbesserung für alle lohnabhängig Beschäftigten in Deutschland bedeuten.