Blocage total?
Die von Generalstreiks begleitete Auseinandersetzung um die Rentenreform in Frankreich wird zur Machtprobe
Von Bernard Schmid
Wieder einmal klaffen die Gewerkschaftszahlen und die Angaben des französischen Innenministeriums zur Teilnahme an Demonstrationen weit auseinander: Bis zu 2,8 Millionen hier, bis zu 963.000 dort. Auf rein quantitativer Ebene – keinesfalls jedoch bei den Inhalten – liegt die Realität oft irgendwo in der Mitte.
Viermal bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe – am 19. Januar, 31. Januar, 7. und 11. Februar – nahmen wohl zwischen einer Million und zwei Millionen Menschen frankreichweit an Protestdemonstrationen nach Aufruf und mit Unterstützung der französischen Gewerkschaften teil. In Paris lag die Beteiligung stets in sechsstelliger Höhe, auch dann, wenn man den Mittelwert zwischen behördlichen und gewerkschaftlichen Angaben zugrundelegt. Doch gemessen an der Bevölkerungszahl fiel sie in kleineren und mittleren Städten proportional noch höher aus. In 200 bis 400 Kommunen Frankreichs wurde gleichzeitig am selben Tag demonstriert, zum Teil auch gestreikt.
Die nächste Phase in dieser Auseinandersetzung wird am 7. März eröffnet, denn ab diesem Datum wollen mehrere Gewerkschaften nun auch zu unbefristeten Streiks aufrufen. Dies würde eine neue Phase der Auseinandersetzung mit der Regierung unter Staatspräsident Emmanuel Macron und Premierministerin Elisabeth Borne sowie den hinter ihnen stehenden Kapitalfraktionen einläuten.
Anhebung der Mindestaltersgrenze
Doch worum geht es eigentlich? Wieder einmal plant eine französische Regierung eine »Reform« der Rentensysteme. Mehrere solcher »Reformen« zum Thema wurden bereits verabschiedet, auch wenn eine gewichtige im Herbst 1995 durch massive Streiks im öffentlichen Dienst verhindert werden konnte – doch andere kamen durch, etwa zur Rentenhöhe und zur Zahl der Beitragsjahre in der Privatwirtschaft (August 1993), zur Zahl der Beitragsjahre für Staatsbedienstete (Frühjahr 2003), zur Anhebung des Mindestalters von zuvor 60 auf derzeit 62 Jahre (unter Nicolas Sarkozy) im November 2010 und zur neuerlichen Anhebung der Beitragsdauer (Anfang 2014 unter dem Sozialdemokraten François Hollande).
Anfang 2020 scheiterte der aktuelle Staatspräsident Emmanuel Macron mit einem damaligen Reformvorhaben. Neben mehrwöchigen Streiks – von der Eisenbahn bis zum Justizwesen – kam der Ausbruch der Corona-Pandemie als definitiver Verhinderungsgrund hinzu. Die Pläne wurden auf Eis gelegt – und nun wieder aufs Tableau gebracht, auch wenn sie sich in ihren Inhalten von dem Vorhaben aus dem Jahr 2019/20 unterscheiden.
Wesentlicher Inhalt der offiziell am 10. Januar dieses Jahres angekündigten Reform ist die Anhebung der Mindestaltersgrenze von derzeit 62 auf künftig 64 Jahre, ab Anfang 2030. Dies ist jedoch nur das Alter, ab dem jemand frühestens einen Anspruch auf Ruhestand geltend machen »darf«, mit Ausnahme von Personen mit bescheinigter Invalidität oder schweren Berufskrankheiten. Es bedeutet nicht, dass es ab diesem Alter eine Rente ohne Abschläge gäbe. Eine solche gibt es bereits heute erst ab 67 Jahren, und dieses Alter für die abzugsfreie Rente wird auch bleiben (in Deutschland liegt es derzeit bei 65, ab 2031 dann ebenfalls bei 67 Jahren). Ansonsten gibt es für ein fehlendes Beitragsjahr Abzüge in Höhe von fünf Prozent (in der BRD: 3,6 Prozent); erforderlich sind derzeit 41,5 Jahre, laut den Regierungsplänen jedoch ab 2027 dann 43 Jahre Beitragszahlungen (in der BRD: 45).
Alle einig
Dagegen sind sich die französischen Gewerkschaften, die in Richtungsverbände aufgespalten sind – historisch hatte dies politisch-ideologische Gründe, wobei im Laufe der jüngeren Geschichte die Bindungskraft gesamtgesellschaftlicher Ideologien auch innerhalb der Gewerkschaften erheblich abgenommen hat – ausnahmsweise einmal alle einig. Von der Union syndicale solidaires (Zusammenschluss linker Basisgewerkschaften) und der Confédération générale du travail (CGT) auf der Linken bis zur Confédération française démocratique du travail (CFDT) auf der gewerkschaftlichen Rechten.
Die Gewerkschaft CFDT hat frühere Regierungspläne mitgetragen, jetzt sind ihre Mitglieder auf der Straße.
Einer der Hauptgründe für diese Einigkeit liegt in der Positionierung der CFDT – neben der CGT einer der beiden stärksten Dachverbände im Land. Die Führung der CFDT hatte sich in den letzten 25 bis 30 Jahren zu einer wichtigen Stütze bei der – leicht sozial abgefederten – Umsetzung zentraler Projekte der kapitalistischen Eliten entwickelt. Derzeit ist jedoch ein Teil ihrer Basis stark an den Protestmobilisierungen beteiligt, durchaus mit einigem Elan, einschließlich Bezugnahmen auf 1968 in den vielfach benutzten Parolen.
Das ist durchaus beachtlich. Denn die CFDT-Führung trug, gegen eine starke innere Opposition, die Renten»reformen« von 1995 (die gestoppt werden konnten) und die trotz Protesten nicht verhinderte »Reform« von 2003 jeweils mit. Doch im Juni 2022 zwang ein Gewerkschaftstag die Führung des Dachverbands ein Stück weit auf Linie: 67 Prozent der Delegierten stimmten gegen einen windelweichen Antragsentwurf des Vorstands, welcher ihm die Zustimmung zu allen möglichen Rentenplänen ermöglicht hätte, und für einen in einem Punkt wesentlich härteren Entschließungsantrag. Dieser sieht zumindest ein klares Nein zur Anhebung der Altersgrenze für das Mindestalter des Renteneintritts vor. Allerdings lässt der Beschluss zugleich stehen, dass die CFDT sich für eine Anhebung der Zahl obligatorischer Beitragsjahre ausspricht, wie es schon 2013/14 unter François Hollande (von zuvor 41,5 auf 43) beschlossen worden war. Und der Antrag lässt auch eine Tür für anders geartete »Reformen« offen. Dass die Basis der CFDT derzeit in Bewegung gerät, ist also erfreulich; es wäre allerdings ein Fehler, würde man, aus linker Sicht, ihren Leitungsapparat nunmehr für einen Verbündeten halten.
Dass die CFDT einen wichtigen Teil der derzeitigen Intersyndicale, also des aus allen Gewerkschaftsvorständen gebildeten Bündnisses gegen die Rentenreform, bildet, ermöglicht einerseits eine erhebliche Breite des Protests. Andererseits beeinflusst dies auch die Protestformen. Denn während insbesondere Teile der CGT und die Union syndicale Solidaires schon früh Streiks – auch unbefristete – favorisierten, sperrt sich vor allem die CFDT im Bündnis dagegen. Sie bevorzugt möglichst breite Demonstrationen, aber keine Streiks oder jedenfalls keine unbefristeten, »um die Sympathie des Publikums nicht zu verlieren«, und daneben Aktionsformen wie den Appell an Geschäftsleute zur Schließung ihrer Läden aus Solidarität.
Ultimatum an die Regierung
Spätestens Anfang Februar war jedoch ein Zeitpunkt erreicht, ab dem die Beteiligung quantitativ kaum noch steigerbar erschien und auch keine Zuwächse mehr zu verzeichnen waren. Ab dem 7. März ist nun mit einer anderen Gangart zu rechnen. Im Aufruf der Intersyndicale für dieses Datum fällt der Ton relativ klar aus: Sollte die Regierung nach den erfolgten Massendemonstrationen nicht nachgeben, trage sie die »Verantwortung dafür, wenn das Land lahmgelegt wird«. Dies ist als klare Ansage zu entschlossenen und nicht von vornherein befristeten Streiks zu lesen, auch wenn nicht alle Verbände zu gleichen Teilen daran teilnehmen werden.
Hoffentlich kommt dies nicht zu spät. Aufgrund des durch die Regierung gewählten Verfahrens – der »Reform«entwurf wurde als Haushaltsgesetz deklariert, konkret als Nachtragshaushalt für den bereits Ende vorigen Jahres verabschiedeten Sozialhaushalt für 2023 – muss die Parlamentsdebatte in beiden Kammern bis zum 26. März abgeschlossen sein. Ansonsten darf die Regierung den Text, gemäß Artikel 47 Absatz 1 der Verfassung, auf dem Verordnungsweg verkünden. 19 Tage bleiben also ab dem 7. März noch, bis der Text als verabschiedet gelten kann. Zwar gibt es historische Präzedenzfälle dafür, dass auch ein einmal beschlossener Gesetzestext wieder vom Tisch genommen wird – im April 2006 hat es das in Frankreich beim Kündigungsschutz für die Beschäftigten unter 30 Jahre gegeben. Doch dies zu erreichen, ist enorm anspruchsvoll – die Pläne durch Streik zu verhindern der realistischere Weg.