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|Thema in ak 689: Obdachlosigkeit

Die Straße-Knast-Pipeline

Wer auf der Straße lebt, landet überdurchschnittlich häufig im Gefängnis – und wer hinter Gitter muss, dem droht der Verlust der Wohnung

Von Lukas Bäumer

Es ist der 4. November 2022. Die Polizei fängt Gisa März auf dem Weg in eine Methadonambulanz ab und verhaftet sie. Seitdem sitzt die 56-jährige Düsseldorferin im Gefängnis, weil sie keinen Fahrschein hatte. So wie Tausende andere jedes Jahr.

Gisa März verkauft seit vielen Jahren das Straßenmagazin fiftyfifty in Düsseldorf. Als Stadtführerin bietet sie Touren an, in denen sie die Stadt aus der Sicht ehemals wohnungsloser Menschen zeigt. Sie hat es von der Straße in eine eigene Wohnung geschafft, in der sie mit ihrem Hund lebt. Ihre Suchtkrankheit begleitet sie schon seit Jahrzehnten. Täglich muss sie den Weg zur Methadonambulanz zurücklegen und dafür den ÖPNV nutzen. Ein Ticket für diese Fahrt ist häufig nicht drin.

Zweimal wird Gisa März im Frühjahr 2019 ohne gültiges Ticket erwischt. Dafür wird sie wegen »Erschleichung von Leistungen« nach Paragraf 265a des Strafgesetzbuchs – den die Nazis 1935 einführten – zu einer Haftstrafe von sechs Monaten auf Bewährung und 200 Sozialstunden verurteilt. Nachdem Gisa danach weitere Male ohne Fahrschein kontrolliert wurde, wird ein weiteres Verfahren gegen sie eröffnet. Sie erhält eine zweite Freiheitsstrafe auf Bewährung, dieses Mal ein Jahr. Im Frühjahr 2022 wird sie erneut ohne gültiges Ticket angetroffen, woraufhin die Bewährung der ersten Strafe aufgehoben wird. Gisa März muss ins Gefängnis.

Ersatzfreiheitsstrafen

Der Fall von Gisa März ist einer von besonderer Justizhärte. Denn sie wurde nach Paragraf 265a zu einer Haftstrafe verurteilt. Möglich ist dies, denn in dem Paragrafen heißt es: »Wer die (…) Beförderung durch ein Verkehrsmittel (…) in der Absicht erschleicht, das Entgelt nicht zu entrichten, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft (…)«. Deshalb kann auch kein Dritter, etwa die Initiative Freiheitsfonds, Gisa März durch Übernahme der nicht bezahlten Geldstrafe freikaufen.

In den allermeisten Fällen von 265a-Verfahren aber – mehr als 90 Prozent – werden Geldstrafen und nicht wie im Fall von Gisa März Haftstrafen verhängt. Dennoch landen Tausende jedes Jahr wegen des Fahrens ohne Fahrschein hinter Gittern. Denn: Wer eine Geldstrafe nicht bezahlen kann, muss trotzdem in den Knast, um die Strafe abzusitzen – das ist die sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe (Paragraf 43). Die Zahl derjenigen, die wegen einer solchen Ersatzfreiheitsstrafe – neben Fahren ohne Fahrschein geht es dabei oft um Geldstrafen für andere Armutsdelikte wie kleine Diebstähle oder Betrügereien – im Gefängnis sitzen, ist in den vergangenen Jahrzehnten stark gestiegen. Heute machen sie die Mehrheit derjenigen aus, die in Deutschland eine Haftstrafe antreten müssen.

Um eine Ersatzhaft zu umgehen, haben die Bundesländer sogenannte Haftvermeidungsprogramme aufgelegt. In ihnen sollen Verurteilte ihre Geldstrafen abarbeiten, statt ins Gefängnis zu gehen. Viele, denen die Ersatzfreiheitsstrafe droht, sind durch Krankheit und überdurchschnittlich häufig auch Wohnungslosigkeit jedoch gar nicht in der Lage, diese Arbeitsstrafen vollumfänglich zu verbüßen. Bei obdachlosen Menschen kommt hinzu, dass die Postzustellung unter Umständen nicht möglich ist und sich Strafbefehle oder Mahnbescheide ansammeln, von denen die Betroffenen nicht einmal etwas mitbekommen, bis sie dann irgendwann von der Polizei aufgegriffen und in (Ersatz)Haft genommen werden.

Deren Dauer richtet sich nach der Höhe der gerichtlich auferlegten Geldstrafe. Im Moment wird ein Tagessatz mit einem Tag Haft verrechnet. Die Ampelregierung plant, diese Zeit zu halbieren, so dass zwei Tagessätze in Zukunft mit einem Tag Haft abgegolten wären. An dem Grundsatz, dass Menschen wegen Armut und höchst prekärer Lebensumstände ins Gefängnis müssen, würde diese Reform allerdings nichts ändern. Dafür müssten in einem ersten Schritt zumindest die Ersatzfreiheitsstrafen komplett abgeschafft und Delikte wie etwa Fahren ohne Fahrschein oder etwa Drogendelikte entkriminalisiert werden.

Paragraf 265a, die Ersatzfreiheitsstrafe und ihre Folgen sind zwei besonders eklatante Beispiele dafür, wie eng Armut und Haft zusammenhängen. Es gibt aber noch eine ganze Reihe weiterer Gründe, weshalb obdachlose Menschen insgesamt häufiger im Knast landen als andere. So schreibt etwa der Autor Ronen Steinke in seinem Buch »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich – Die neue Klassenjustiz«, dass 50 Prozent derjenigen, die in Untersuchungshaft landen, also ohne Schuldspruch bis zu mehreren Monaten eingesperrt werden, obdachlos sind. Warum? Die Fluchtgefahr wird von Haftrichter*innen als höher eingeschätzt, wenn Menschen arbeitslos, ohne Familie und ohne Wohnung sind. Also stecken sie sie häufiger in die U-Haft. Ein weiterer Grund dafür, dass größere Gefahr läuft, im Gefängnis zu landen, wer auf der Straße lebt: Nicht jede*r, der in Deutschland vor Gericht steht, hat auch rechtlichen Beistand. »Nur bei besonders schweren Delikten gewährt er (der Staat; Anm. der Redaktion) ein Recht auf einen Pflichtverteidiger, nur in etwa zehn Prozent der Fälle«, schreibt Steinke. Alle anderen sind aufgeschmissen, wenn sie sich keinen Rechtsbeistand leisten können.

In Freiheit, aber ohne Wohnung

Die Straßen-Knast-Pipeline funktioniert aber auch in die andere Richtung: Wer im Knast landet, ist nicht nur überdurchschnittlich oft obdachlos. Wer eingesperrt wird und »nur« arm ist, dem droht umgekehrt auch wegen des Knastes der Verlust der Wohnung. Insbesondere Empfänger*innen von Transferleistungen müssen nämlich damit rechnen, dass die Ämter ihre Wohnungen nach sechs Monaten nicht weiterzahlen und sie nach der Haftentlassung zwar wieder in Freiheit, aber eben auch ohne Dach über dem Kopf sind.

Die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen ist in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen.

Besonders perfide: Nicht selten kommt es dazu, dass sich obdachlose Menschen unter größter Anstrengung aus der Obdachlosigkeit herauskämpfen, die Krankenversicherung wiederherstellen, mögliche Suchtprobleme bekämpfen, sich beim Einwohnermeldeamt melden und dann mit der Erlangung einer postalischen Erreichbarkeit direkt die ganz fiese Post mit Strafbefehlen wegen etwaiger Armutsdelikte im Briefkasten finden – in Haft kommen, ihre Wohnung verlieren und wieder von vorn anfangen müssen.

Um einen Verlust ihrer Wohnung zu verhindern, informierte Gisa März selbst aus der JVA heraus das Jobcenter über ihre Haft und versuchte so die weitere Übernahme der Wohnkosten zu erreichen. Doch bisher blieb ihr Anliegen unbearbeitet. Zwar hatte die Stadt Düsseldorf die Übernahme der Wohnungskosten von Gisa März für die sechs Haftmonate zugesichert, jedoch sind nach dem Haftantritt keine weiteren Mietzahlungen bei ihrem Vermieter eingegangen. Im Januar wandte sich der Vermieter an den gemeinnützigen Verein fiftyfifty, der die Straßenzeitung herausgibt, die Gisa März verkauft. Der Verein springt jetzt, mithilfe von Spenden ein. Nach ihrer Haftentlassung wird Gisa März in ihre Wohnung zurückkehren können. Das staatlich organisierte Armutskarussell dreht sich indes weiter.

Lukas Bäumer

ist Sozialarbeiter in Düsseldorf und einer der Sprecher des Netzwerks Tasche leer – Schnauze voll!, das sich im Zuge der Inflationskrise gegründet hat und von Beginn an Gisa März mit Protestaktionen unterstützt.