Housing First
Ein Wundermittel ist bereits gefunden – was fehlt, ist der Wille zum radikalen Umdenken in der Wohnungs- und Sozialpolitik
Du musst erst wohnfähig werden«, oder »Du musst erst clean sein, bevor du eine Wohnung bekommen kannst« – dies sind Sätze, die Menschen zu hören bekommen, wenn sie den Weg aus der Obdachlosigkeit suchen. Das deutsche Hilfesystem zielt darauf ab, Menschen über mehrere Stufen »wohnfähig« zu machen, zum finanziellen Nutzen derjenigen, die diese Hilfen – oft mit besten Absichten – anbieten. Doch was nutzt ein solches Stufenmodell von der Notschlafstelle über das »Trainingswohnen«, wenn am Ende der Markt keinen Wohnraum für Bedürftige zur Verfügung stellt? Und überhaupt: Wie soll eine menschenwürdige Versorgung mit Wohnraum funktionieren, wenn man sie dem Markt überlässt? Und was für ein zynischer Gedanke ist es, Menschen die Fähigkeit zum Wohnen abzusprechen? Schließlich, wie sollten behelfsmäßige, oft schäbige Übergangsbehausungen dazu dienlich sein, so etwas zu vermitteln? Als ob das Wohnen ein Lernprozess sei und nicht in erster Linie ein Menschenrecht.
Erfahrungen aus dem Arbeitsalltag mit obdach- und wohnungslosen Menschen zeigen, dass der Weg auf die Straße kurz, der Weg aus der Obdachlosigkeit heraus allerdings sehr lang und mit vielen strukturellen Hürden verbunden ist. Außerhalb des »Hilfesystems« an eine Unterkunft zu kommen, ist nahezu unmöglich. Das liegt unter anderem auch daran, dass bei nahezu allen Wohnungsbesichtigungen Schufa-Auskünfte verlangt werden, die bei armen Menschen in der Regel zu einer Ablehnung der Anmietung führen. In Nordrhein-Westfalen sind 56,8 Prozent aller durch die Städte und Kreise untergebrachten Personen länger als zwei Jahre ohne eigene Wohnung und eigenen Mietvertrag. Sie müssen gezwungenermaßen in diesem Hilfesystem bleiben. Jedes Jahr werden also mehr Menschen in das Wohnungslosenhilfesystem aufgenommen, als es Menschen wieder herausschaffen. Es gleicht einem Flaschenhalsprinzip. Das bisherige Hilfesystem ist also erwiesenermaßen gescheitert.
Es geht auch ohne Paternalismus
Dabei gibt es einen Ansatz in der Wohnungslosenhilfe, der deutlich bessere Erfolgschancen für obdachlose Menschen ausweist und wissenschaftlich seit Mitte der 2000er Jahre hinlänglich und umfangreich erwiesen ist: Housing First. Es ist so simpel: Als erstes erhalten obdachlose Menschen eine eigene Wohnung mit eigenem Mietvertrag – also eine ganz normale Mietwohnung in einem Miethaus. Diese werden von privaten Vermieter*innen, Wohnungsgenossenschaften oder -gesellschaften vermietet. Die ehemals Obdachlosen erhalten die Wohnung ohne Vorbedingungen, ohne Abstinenzvoraussetzung, ohne den Beweis, eine so genannte »Wohnfähigkeit« erlangt zu haben, und von dort aus wird alles weitere geklärt.
Und dies ist ein elementarer Unterschied des Housing-First-Ansatzes: Paternalistische Haltungen und sanktionierende Elemente werden ausgeschlossen. Housing First vollführt somit einerseits einen notwendigen Paradigmenwechsel hin zu einer Nutzer*innenorientierung und Selbstbestimmung, andererseits wird das Grundrecht auf Wohnen ganz unmittelbar umgesetzt.
Finnland hat das Prinzip Housing First zur nationalen Strategie erklärt und somit die Straßenobdachlosigkeit faktisch abgeschafft.
Das erfordert jedoch auch die Einflussnahme auf die Politik, auf Wohnungsgeber*innen etc. Denn oftmals sind die Vorbehalte, an Obdachlose zu vermieten, größer als die Bereitschaft, Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Die politische Einmischung ist also elementarer Bestandteil von Housing First.
Doch wie so häufig werden sowohl seitens der Politik als auch der Wohlfahrtsverbände vielfach wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert: In Teilen aus Unwissenheit, in Teilen aus Überzeugung, mitunter aber auch aus einem ökonomischen Selbsterhaltungstrieb, der den Strukturen großer Wohlfahrtsverbände auf natürliche Weise innewohnt. Ähnlich wie beispielsweise bei Tafeln oder anderen karitativen Projekten geht es um Armutsverwaltung und das systemimmanente Halten armer Menschen in der so genannten Mitleidsökonomie – die Notwendigkeit einer radikal anderen Sozialpolitik gerät dabei schnell in Vergessenheit.
Obdachlosigkeit
Die Zahl wohnungs- und obdachloser Menschen in Deutschland steigt seit Jahren rasant an. In den letzten Jahrzehnten beruhte die Planung der Sozial- und Wohnungspolitik im Bereich der Wohnungslosenhilfe jedoch ausschließlich auf Schätzungen, im Jahr 2022 wurde dann erstmalig eine bundesweite Statistik zur Erfassung der Lage von wohnungs- und obdachlosen Menschen erhoben. Laut diesem Bericht hatten am Stichtag 31. Januar 2021 rund 263.000 Menschen kein Obdach. Wenngleich die erste Erfassung ein möglichst umfassendes Bild zur Lage versucht hat abzubilden, gibt es weiterhin eine hohe Dunkelziffer. Grundsätzlich werden bei der Erfassung verschiedene Personengruppen berücksichtigt: Menschen, die in der Wohnungsnotfallhilfe untergebracht sind und damit über keinen Mietvertrag verfügen, sogenannte »verdeckt wohnungslose Menschen«, die etwa bei Freunden oder Bekannten unterkommen, sowie Menschen auf der Straße und in Notschlafstellen oder ähnlichem.
Die Gründe für die Obdachlosigkeit sind vielfältig und – entgegen der oftmals weit verbreiteten Vorstellung, dass es individuelles Versagen oder persönliche Schicksalsschläge sind – struktureller Art. So sind beispielsweise Mietschulden, der Mangel an bezahlbarem Wohnraum, Armut und Arbeitslosigkeit oder auch Eigenbedarfskündigungen und Zwangsräumungen als Ursachen für die Obdachlosigkeit zu nennen.
Die Erfolge bei Housing First hingegen sprechen für sich. Über 80 Prozent der ehemals obdachlosen Menschen, die über Housing-First-Projekte eine Wohnung angemietet haben, leben auch nach fünf Jahren noch in dieser Wohnung. Finnland hat das Prinzip Housing First vor über zehn Jahren zur nationalen Strategie erklärt und somit die Straßenobdachlosigkeit faktisch abgeschafft.
Es liegt also auf der Hand, dass sich der Housing-First-Ansatz dafür eignet, um Obdachlosigkeit nachhaltig zu beseitigen. Dafür braucht es auch ein radikales Umdenken in Bezug auf den völlig entfesselten Wohnungsmarkt, der weiterhin auf maximale Profitorientierung ausgerichtet ist. Dem steht das Interesse der Reintegration von Langzeitobdachlosen diametral entgegen. Statt einer weiteren kapitalistischen Verwertungslogik großer Wohnungskonzerne braucht es die konsequente Enteignung und Vergesellschaftung von Wohnraum, um das erklärte Ziel – nämlich die Beendigung der Wohnungslosigkeit – zu erreichen. Politisch ist das machbar, wenn der Wille denn da wäre. Bis dahin ist noch einiges zu tun.