»Ich bin immer ein Genosse«
Sechs Schlaglichter auf Menschen, die Mathematik und Politik betrieben haben
Von Paul Dziedzic, David Schrittesser und Nelli Tügel
Lucio Lombardo-Radice (1916 bis 1982)
In einem Interview, das der italienische Mathematiker Lucio Lombardo-Radice, unter anderem bekannt für seine Beiträge zur kombinatorischen Geometrie, 1977 dem Spiegel gab, wurde er gefragt: »Jetzt sprechen Sie als Kommunist?« Es ging in dem Gespräch um Robert Havemann, den Chemiker und Marxisten, den die DDR-Führung nicht mehr auf seinem Lehrstuhl und in ihrer Partei und später eigentlich auch nicht mehr im Land haben wollte, weil er in seinen Vorlesungen an der Humboldt-Universität Überlegungen zum Verhältnis von Naturwissenschaften und Marxismus angestellt und einen Dialektischen Materialismus gefordert hatte, der Philosophie und Weltanschauung aus der Wirklichkeit entwickelt und nicht sie ihr überstülpt. (Nachzulesen sind die Vorlesungen in dem Bändchen »Dialektik ohne Dogma – Naturwissenschaft und Weltanschauung«). Lombardo-Radice jedenfalls setzte sich als guter Eurokommunist, der er war, für Havemann ein, lobte seinen Freund als treuen Kommunisten und wurde eben in besagtem Interview darüber ausgefragt, ob er selber gerade auch »als Kommunist« spreche, gemeint war: also nicht als Wissenschaftler. Die Antwort fiel entsprechend trocken aus: »Ich sprach auch mit Robert Havemann als Genosse, als Wissenschaftler und Freund. Man kann sich nicht in drei Teile aufteilen.« Lombardo-Radice war neben seiner Tätigkeit als Mathematiker – seit 1960 hatte er eine Professur inne – ab 1969 Mitglied des Zentralkommitees der Kommunistischen Partei Italiens, der größten KP Westeuropas. Dieser war er 1938 beigetreten. Unter dem Faschismus war Lombardo-Radice mehr als zwei Jahre inhaftiert. 1977 gehörte er der Jury des Dritten Internationalen Russell Tribunals über die Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland an. Das Russell-Tribunal ging wiederum auf einen Mathematiker zurück, den Briten Bertrand Russell, der es 1966 zur Untersuchung von Menschenrechtsverbrechen während des Vietnamkrieges begründet hatte.
Jean van Heijenoort (1912 bis 1986)
Als Mathematiker machte sich der in Frankreich geborene Jean van Heijenoort vor allem als Herausgeber des Logikers Kurt Gödel einen Namen. Er lehrte an verschiedenen Universitäten in den Vereinigten Staaten, wo er seit 1939 lebte; politisch trat er in den späteren Jahrzehnten seines Lebens nicht mehr, zumindest nicht öffentlich, in Erscheinung. Den größten Teil der 1930er Jahre hatte Van Heijenoort, damals noch Mathematikstudent, dagegen als Vollzeit-Kommunist verbracht, genauer gesagt: als Privatsekretär von Leo Trotzki. Mit dem aus der Sowjetunion verbannten Bolschewisten lebte und arbeitete Van Heijenoort sieben Jahre lang, von 1932 bis 1939; er begleitete die Trotzkis auf den verschiedenen Stationen des Exils dieser Jahre: Büyükada vor Istanbul, in Norwegen und später in Mexiko, wo Trotzki 1940 von einem stalinistischen Agenten ermordet wurde. Van Heijenoort wurde 1986 zufälliger- und tragischerweise ebenfalls ermordet: ausgerechnet während eines Kurzaufenthaltes in Mexiko-City. Der Historiker Pierre Broué hat seine 1988 im Original erschienene umfassende Trotzki-Biografie Van Heijenoort gewidmet, mit dem er bis zum Ende von dessen Leben befreundet gewesen war. Van Heijenoort hat neben den Gödel-Werken und seinen eigenen, in der zweiten Hälfte seines Lebens entstandenen Schriften zur Logik, auch ein Memoir über die Jahre an Trotzkis Seite verfasst sowie einige wenige explizit sozialistische Texte hinterlassen; darunter auch den Text »Friedrich Engels and Mathematics« (1948), in dem Van Heijenoort diesem kein besonders gutes Zeugnis ausstellt, ihm Überheblichkeit der Disziplin gegenüber attestiert und sich über Engels’ maßlose Überschätzung der Marxschen Kenntnisse der Mathematik lustig macht. Im Fazit des Aufsatzes schreibt Van Heijenoort: »Engels hatte keine Ahnung von der Entwicklung der Mathematik in den fünfzig Jahren (mindestens!) vor der Zeit, in der er schrieb. Allem Anschein nach wäre er nicht einmal in der Lage gewesen, Mathematiker seiner Zeit zu benennen. Dennoch zögert er nicht, sie der Inkompetenz zu bezichtigen.« Für den ahnungslosen Engels würden »Marx’ Manuskripte … zu ›einer neuen Grundlage der Differenzialrechnung‹ durch einen ›profunden Mathematiker‹ werden, während die Mathematiker aufgrund ihrer Unkenntnis der Dialektik das Problem nur durcheinanderbringen«, lästerte Van Heijenoort.
Albert Einstein (1879 bis 1955)
Eine der bekanntesten urbanen Mathematik-Legenden ist sicherlich jene, der Begründer der Relativitätstheorie und Jahrhundertphysiker Albert Einstein sei schlecht in Mathe gewesen – es stimmt nicht. Viel weniger bekannt, aber dafür wahr ist, dass Einsteins politische Tätigkeit nicht nur das Engagement gegen Krieg, Faschismus und für reproduktive Rechte umfasste, sondern dass er am Ende seines Lebens auch öffentlich für sozialistische Ideen warb. Im Jahr 1949 steuerte er – in Deutschland geboren, von den Nazis als Jude verjagt und später in den USA verstorben – für die erste Ausgabe der sozialistischen US-amerikanischen Monatszeitung Monthly Review den Aufmacher bei. Das auch heute noch lesenswerte Essay trägt den Titel »Warum Sozialismus?«. Dort schreibt Einstein u.a., er sei »davon überzeugt, dass es nur einen Weg gibt, diese Übel (das die kapitalistische Produktionsweise hervorbringt, Anm. d. Redaktion) loszuwerden, nämlich die Errichtung eines sozialistischen Wirtschaftssystems, begleitet von einem Bildungssystem, das sich an sozialen Zielen orientiert. In solch einer Wirtschaft gehören die Produktionsmittel der Gesellschaft selbst, und ihr Gebrauch wird geplant.« Das sei eine notwendige, aber – Achtung, Mathefachausdruck – noch keine hinreichende Bedingung: Planwirtschaft allein sei noch kein Sozialismus, so Einstein. Mutmaßlich dachte er bei den folgenden Worten an die Sowjetunion. »Eine Planwirtschaft als solche kann mit der totalen Versklavung des Individuums einhergehen. Die Verwirklichung des Sozialismus erfordert die Lösung einiger äußerst schwieriger sozialpolitischer Probleme: Wie kann angesichts weitreichender Zentralisierung politischer und ökonomischer Macht eine Bürokratie daran gehindert werden, allmächtig und maßlos zu werden? Wie können die Rechte des Individuums geschützt und somit ein demokratisches Gegengewicht zur Bürokratie gesichert werden? Klarheit über die Ziele und Probleme des Sozialismus ist von größter Bedeutung in unserem Zeitalter des Übergangs.«
Sonya Kovalevski (1850 bis 1891)
Sonya Kovalevski war Mathematikerin, Feministin und gegen Ende ihres kurzen Lebens auch als Schriftstellerin erfolgreich. Sie war die erste Professorin der Mathematik an einer europäischen Universität, dieser Institution, die im 19. Jahrhundert eine Urquelle moderner männerbündlerischer Frauenfeindlichkeit war. Ein Nachbar Kovalevskis, der selbst Physikprofessor war, hatte ihre erstaunlichen mathematischen Fähigkeiten entdeckt, als sie noch ein Kind war. Ihre etwas ältere Schwester war Anhängerin verschiedener radikaler politischer und weltanschaulicher Strömungen, damals oft unter dem Sammelbegriff Nihilismus zusammengefasst, aber auch diffamiert. Die beiden wollten unbedingt der konservativen Enge entfliehen; die eine, um zu studieren, die andere, um Schriftstellerin und politische Aktivistin zu werden. Tatsächlich war Anna Krovin-Krukovskaya dann auch aktiv als Sozialistin, Feministin und Kommunardin in der Pariser Kommune. Sonya Kovalevski promovierte indes mit drei Arbeiten in Mathematik: In einer davon verallgemeinerte und vervollständigte sie ein Theorem von Cauchy aus dem Jahr 1842. Noch immer lernen dieses Theorem alle Student*innen der Mathematik im Fach Partielle Differenzialgleichungen unter ihrem Namen: Der Satz von Cauchy-Kovalevski. Obwohl Kovalevskis mathematische Arbeiten in der Fachwelt große Anerkennung fanden, wurde sie übel angefeindet. Ein Weierstrass-Schüler und Frauenrechtler, der Mathematiker Gösta Mittag-Lefler, vermittelte ihr dennoch eine Stelle als Professorin der Höheren Analysis an der Stockholmer Universität. In ihrer Zeit als Mathematikprofessorin löste Kovalevksi ein von der französischen Akademie der Wissenschaften ausgeschriebenes Problem, die Bewegung von Festkörpern betreffend. Sie fand eine neue, sehr allgemeine Lösung für die Bewegungsgleichung von ausgedehnten Festkörpern in einem Schwerefeld (vielleicht etwas irreführend in der Physik »Kreisel« genannt); genauer gesagt eine Lösung, die zwar allgemein ist, in der sich aber dennoch alle interessierenden Quantitäten durch algebraische Integrale ausdrücken lassen. Die Jury war davon so beeindruckt, dass sie das Preisgeld des Prix Bordin mehr als verdoppelte. Später wurde deutlich, dass Kovalevksi das Problem in dem allgemeinsten Fall löste, der noch durch Integrale von einigermaßen beherrschbaren Funktionen überhaupt lösbar ist. In noch allgemeineren Fällen kann man höchstens zeigen, dass Lösungen existieren oder sie mithilfe von Computern näherungsweise berechnen, aber im Allgemeinen keine geschlossenen Formeln für diese Lösungen angeben. In den Jahren vor ihrem Tod wandte sich Kovalvski der Literatur zu: Sie schrieb eine romanhafte Autobiografie ihrer Kindheit, die in Schweden als Fiktion getarnt erschien, um einen Skandal zu vermeiden. Ein weiterer Roman, den sie auf Schwedisch verfasste, und der erst nach ihrem Tod 1891 erschien, hieß: »Die Nihilistin«.
Lúcio Lara (1929 bis 2016)
Spätestens in der Schule werden wir mit der Mathematik konfrontiert – für manche von uns bedeutet das 13 Jahre Frust. Mathelehrer*innen sind stets bemüht zu erklären, wie wichtig das Fach ist. Gibt es eigentlich zugängliche, nette Mathelehrer*innen? Glaubt man der Auslandskorrespondentin des Britischen Guardian, Victoria Brittain, dann muss der Angolaner Lúcio Lara einer gewesen sein. »Bei ihm Zuhause warteten immer die einfachen Leute, um zu fragen, ob er ihnen mit ihren Problemen helfen könnte. Auf dem Land scheuten sich die Bäuer*innen sich nicht davor, ihm alles zu erzählen, was ihnen auf dem Herzen lag«, schreibt sie im etwas altmodischen Duktus über ihn. Den meisten Menschen in Angola war Lúcio Lara als eine der zentralen Figuren der Unabhängigkeit bekannt. Er kämpfte, wie viele andere in Angola, Mosambik, Kap Verde und Guinea gegen die von der Nato unterstützte portugiesische Armee. 1929 in Angola als Sohn eines Portugiesen und einer Angolanerin geboren, zog er später nach Portugal, um an der Universität von Lissabon Mathematik zu studieren. Er war, wie viele Unabhängigkeitskämpfer*innen, Teil des berühmten Casa dos Estudantes do Império (Haus der Studenten des Imperiums). Einst als Klub für die künftige »lokale« Elite des kolonialen Militärregimes gedacht, wandelte er sich zum Ort seines Zerfalls. Dort lernte Lara unter anderem Agostinho Neto kennen, den künftigen Präsidenten Mosambiks. Laras Biografie liest sich wie die vieler Unabhängigkeitskämpfer*innen, ständig unterwegs, auf der Flucht vor den Geheimdiensten. Nach einer längeren Zwischenstation im sicheren Brazzaville in der sozialistischen Republik Congo, begab er sich in den bewaffneten Kampf in Angola, der 13 Jahre andauern sollte. Innerhalb der Befreiungsbewegung und späteren Partei MPLA war Lara ideologisch immer Marxist geblieben. In der neuen Regierung arbeitete er lange als Generalsekretär der MPLA. Nach dem Rückzug der portugiesischen Armee kam es schnell zum nächsten Krieg zwischen verschiedenen Fraktionen, unterstützt von unterschiedlichen internationalen und lokalen Mächten, die berüchtigtste unter ihnen die Unita von Jonas Savimbi. Vom Norden kamen die von den USA unterstützen Truppen Zaires, vom Süden das Apartheidregime Südafrikas. Auch innerhalb Laras Partei, der MPLA, gab es immer wieder Konflikte. Nach seinem Weggang 1985 – elf Jahre nach der Unabhängigkeit, waren die sozialistischen Träume Angolas ausgeträumt, auch wenn die MPLA an der Macht blieb. Trotz der vielen Enttäuschungen über die Lage im südlichen Afrika nach der Unabhängigkeit sei er nie zynisch geworden, meint Victoria Brittain. Vielleicht hatte das ja etwas damit zu tun, dass er Mathelehrer war.
Sofja Janowskaja (1896 bis 1966)
Eine ganze Reihe von bedeutenden Mathematikern hat die Sowjetunion hervorgebracht. Eine der ersten bekannten sowjetischen Mathematikerinnen war Sofja Janowskaja, Geburtsname Neimark. Sie kam aus einer jüdischen Familie, wurde 1896 in Pruschany im heutigen Belarus geboren und wuchs später in Odessa, in der heutigen Ukraine, am Schwarzen Meer auf. Im Zuge der Revolution von 1905 kam es dort zu einem Arbeiter*innenaufstand sowie einem antisemitischen Pogrom, dem 500 Menschen zum Opfer fielen. Sofja Janowskaja war zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt. Ab 1915 studierte sie an der Frauenabteilung der Novorossiisk-Universität in Odessa unter anderem bei Samuil Shatunovsky Mathematik. Im Revolutionsjahr 1917 wurde sie politisch aktiv, trat 1918 den Bolschewiki bei, schloss sich 1919 der Roten Armee an, arbeitete als Redakteurin einer Parteipublikation in Odessa und Anfang der 1920er Jahre für die Bolschewiki. 1923 zog Janowskaja nach Moskau, um ihre Studien der Mathematik an der Universität wieder aufzunehmen und selbst zu unterrichten. Ein Jahr darauf ging sie ans 1921 gegründete und 1938 aufgelöste Institut der Roten Professur; Anfang der 1930er Jahre wurde sie selbst Professorin der Staatlichen Universität Moskau (Lomonossow-Universität). Während des Zweiten Weltkrieges wurde Janowskaja gemeinsam mit ihrem Institut nach Perm evakuiert, von wo sie erst 1943 nach Moskau zurückkehren konnte. Im selben Jahr wurde sie dort Direktorin des Seminars für mathematische Logik an der Universität. Neben ihren Arbeiten zur Logik ist sie vor allem als Mathematikhistorikerin in Erscheinung getreten, etwa mit einer Abhandlung zur Geschichte der axiomatischen Methodik, und für ihre Beiträge zur Philosophie der Mathematik bekannt. In den Jahren vor ihrem Tod leistete Janowskaja wesentliche Arbeiten zur bisher einzigen Ausgabe der Mathematischen Manuskripte von Karl Marx. Vor deren Erscheinen im Jahr 1968 allerdings starb sie 1966 in Moskau.