Das Zehnersystem ist nicht göttlich
Überlegungen zu Mathematik und Gesellschaft
Von Dietmar Dath
Eins: Fliegen, Schätzen, Abstimmen
Vögel können unter anderem deshalb fliegen, weil auf ihre Flügel der »Bernoulli-Effekt« einwirkt. Das ist eine als Gleichung formulierbare Beziehung zwischen zwei verschiedenen Größen bei Strömungen in irgendeinem Strömungskanal, nämlich zwischen der Flussgeschwindigkeit und dem Druck. Nimmt das eine zu, dann nimmt das andere ab. Wenn ich diese Gleichung kenne, kann ich deshalb zwar noch lange nicht selbst fliegen. Aber die Schwalbe, die in den Himmel steigt oder Richtung Erde sinkt (und manchmal auch zwischen beiden zu schweben scheint), wird für mich, also für ein Wesen, das beim Schauen denken kann, deutlich schöner, wenn ich an dem Wunder nicht nur sinnlich, das heißt: beobachtend, sondern auch mit dem Verstand teilnehmen darf.
Manches, was man verstehen kann, erfordert allerdings einen Bruch mit natürlichen Ahnungen, ein Hinausgreifen des Geistes über das, was er für selbstverständlich hält. Stellen wir uns zum Beispiel mal eine Kritikerin der politischen Ökonomie vor, die weiß, was ein »James-Stein-Schätzer« ist. Das bedeutet, sie ist darüber aufgeklärt, dass es Funktionen (also: Abbildungen von Werten auf andere Werte) gibt, die uns erlauben, gewisse Erwartungen für Entwicklungen abzuschätzen, bei denen diese Vorhersagen (etwa von Finanzwerten an Börsen) nicht ungenauer, sondern sogar genauer werden, wenn man beim Schätzen mehr als nur Daten über diejenigen Größen beachtet, deren Veränderung man vorhersagen will. Sofern eine »Normalverteilung« vorliegt (die als zweidimensionale Graphik aussieht wie eine Glocke: links wenig, rechts wenig, das meiste in der Mitte) und mehr als drei Parameter von Interesse sind, kann es die Vorhersagegenauigkeit erhöhen, beim Schätzen die Daten von Größen zu beachten, die mit denen, die man eigentlich untersucht, anscheinend gar nichts zu tun haben. Die Kritikerin, die den mathematischen Formalismus kennt, der diese verblüffende Einsicht zusammenfasst und den man »James-Stein-Schätzer« nennt, ist damit schlauer als der typische bescheuerte Aufsichtsrat, der jeden Quatsch glaubt, den er im Leitartikel des Wirtschaftsteils der bürgerlichen Tageszeitung findet.
Aber das heißt nicht, dass sie ihm ebenbürtig ist, was Macht angeht. Sie kann nämlich nicht bestimmen, was mit den Schätzwerten dann passiert, wer daraus was ableitet und dann tut, egal, wie klug sie ist, so wenig, wie sie fliegen kann, wenn sie bloß den Bernoulli-Effekt kennt. Falls sie sich aus Ärger über die Tatsache, dass allerlei Dummköpfe über ihr Leben und das vieler anderer Leute bestimmen dürfen, dafür interessiert, wie man Menschen, die in einer Klassengesellschaft nicht über ihre eigenen Belange entscheiden können, dabei hilft, eine andere Gesellschaft aufzubauen, in der so etwas nicht vorkommt, dann wird es ihr nicht schaden, wenn sie den »Satz von Arrow« kennt (manchmal alternativ als »Arrow-Theorem« oder »Arrow-Paradox« bezeichnet).
Auch dieser Satz ist, wie der Bernoulli-Effekt und der James-Stein-Schätzer, als Formel darstellbar. Diesmal besagt die betreffende Formel, dass selbst in einer perfekten Demokratie kein Abstimmungsverfahren existieren kann, das bei Entscheidungen über mehr als zwei Möglichkeiten ein exaktes Abbild der allgemeinen und einzelnen Vorlieben liefert. Das heißt: Selbst dann, wenn man jegliche Repräsentationspolitik abschaffen und direkte Befragungen derjenigen an ihre Stelle setzen würde, die im traditionellen Substitutionalismus von Abgeordneten oder Parteien in Parlamenten ersetzt werden, müsste man im Interesse der Gerechtigkeit alle zur Abstimmung vorgelegten Fragen auf die Form »Ja oder Nein?« zuspitzen. Denn der Satz von Arrow sagt, dass man schon bei drei Antwortmöglichkeiten, also bei einer Frage wie »Machen wir X jetzt, später oder gar nicht?«, in Schwierigkeiten kommt. Wer solche Probleme kennt, ist vorbereitet, wenn sie auftreten.
Gleichungen werden in der Gesellschaft, in der wir leben, meist nur denen beigebracht, die technische Probleme lösen oder bei der politischen Verwaltung helfen sollen. Leuten, die Gesellschaftskritik treiben dürfen, bringt niemand Gleichungen bei.
Mathe ist dabei nur eine von vielen Methoden, solche Probleme kennenzulernen, sie zu verstehen und ihre schädlichen Folgen zu vermeiden. Das vorhandene Bildungssystem aber ist nicht so gebaut, dass es denen, die keine Macht haben, solche Methoden oder überhaupt irgendeine Art von Übersicht beibringt. So etwas könnte ja dazu beitragen, die Machtlosen zu ermächtigen.
Gleichungen werden in der Gesellschaft, in der wir leben, meist nur denen beigebracht, die technische Probleme in der Produktion und den ihr angegliederten Bereichen lösen oder bei der politischen Verwaltung im Sinne vorhandener Hierarchien helfen sollen. Leuten, die Gesellschaftskritik treiben dürfen, bringt niemand Gleichungen bei. Nur »Was?« und »Wie?« wird gern in mathematischen Formen gefragt, aber selten kommt dabei vor, worüber man dann abstimmen darf.
Über das, was zu Abstimmungen allenfalls zugelassen wird, diskutiert in den kapitalistischen Gesellschaften eine andere Intelligenz als die technische. Diese andere Intelligenz hält zum Beispiel lange Vorträge über Ethik oder Normen, während diejenigen, die rechnen können, unterdessen Konsumgüter erfinden oder die Kosteneffizienz der Warenproduktion erhöhen.
So ist nicht nur die Handarbeit von der Kopfarbeit getrennt, sondern auch alles Denken, Wissen, Fragen und Forschen in sich vielfältig zerbrochen, Sektor für Sektor. Man kann als Einzelmensch wenig dagegen tun. Ich zum Beispiel kann an dieser Stelle nur einen ohnmächtigen Appell in meinen Text schreiben: Alle, die bis jetzt noch nie von Bernoulli, von James-Stein-Schätzern oder von Arrows Satz gehört haben, sollten sich, statt hier weiterzulesen, lieber eine Weile mit den (vorläufig noch oft kostenlosen) Suchvorrichtungen im Internet und den (vorläufig noch vorhandenen) öffentlichen Bibliotheken einlassen, um die drei genannten interessanten Einzelheiten des mathematischen Wissens besser kennenzulernen. Es gibt dazu sowohl kompakte Youtube-Videos wie ausführliche Abhandlungen, je nachdem, wie genau die Neugier es haben will. Was der jeweilige Verstand auf diese Art selbst herauskriegt und sich dazu Eigenes denkt, ist persönlich sicher nützlicher als alles, was ich im Text noch zusammenphantasieren könnte.
Wenn die Neugier gestillt ist, sehen wir uns wieder.
Zwei: Die Naiven und die Zynischen
Schon zurück? Gut.
Netz und Fachbuch können beim Lernen helfen, aber nicht die Bekanntschaft mit Leuten ersetzen, die mit Mathematik tatsächlich täglich arbeiten.
Als junger Mensch suchte ich ihre Nähe aus Neigung, dann wollte ich einen ihrer Berufe erlernen, aber daran bin ich gescheitert, denn Schreiben für Geld fiel und fällt mir leichter als Rechnen oder Beweise konstruieren für Geld. Einige Freundschaften und Beziehungen zu Leuten jedoch, die mathematisch arbeiten, haben diese Trennung der zunächst gemeinsamen Wege überlebt, weil sie zum Beispiel gehalten und geschützt werden von gemeinsamen politischen Ab- und Einsichten. Ein Erfahrungswert aus vielen Jahren sagt mir, dass Leute in Berufen, in denen exaktes Denken gebraucht wird, von der vorhandenen Gesellschaft häufig befremdet oder sogar abgestoßen sind. Zwar muss niemand Mathe studieren, um zu erkennen, dass Kapitalismus, Monopolismus, Imperialismus irrational sind. Dass diejenigen, die von diesen Übeln profitieren, in Details auf Zweckrationalität bestehen, macht die Übel selbst ja nicht rational. Das fällt auch Nichtfachleuten auf. Unter Menschen aber, die im Arbeitsalltag auf Mathematik angewiesen sind, habe ich ein Spektrum von Haltungen zum Irrationalismus des Bestehenden kennengelernt, das zwischen zwei Extremwerten liegt: Naivität am einen und Zynismus am anderen Ende.
Gerade bei sowohl fachlich hervorragenden wie menschlich anständigen Leuten der besagten Sorte prägen naive oder zynische Vorstellungen das Nachdenken darüber, wie sich ihr Arbeits- und Denkgebiet ins soziale Ganze fügt. Sowohl der Zynismus wie die Naivität sind dabei nicht einfach nur (Selbst-)Täuschungen oder Bausteine einer Ideologie. Oft finden sie vielmehr sogar Zugang zu Wahrheiten, wobei die Zynikerin Dinge sieht, die der Naiven entgehen – und umgekehrt.
Naiv, aber deshalb noch nicht dumm, muss man zum Beispiel einige Ansichten darüber nennen, wie man Fortschritte in der Mathematik organisiert, die der in der Ukraine geborene und in der Sowjetunion erfolgreich tätige Mathematiker Israel Moissejewitsch Gelfand im Rahmen offizieller Feierlichkeiten zu seinem 90. Geburtstag 2003 geäußert hat. Dieser Mann war einer der Pioniere der nichtkommutativen Geometrie. »Kommutativ« nennt die Mathematik Verhältnisse, in denen es zugeht wie beim Addieren und Multiplizieren für die Grundschule, wo »a plus b« dasselbe wie »b plus a« und »a mal b« dasselbe wie »b mal a« ergibt. Es gibt aber eben auch nichtkommutative Verhältnisse.
Bei seinem Geburtstagsfest nun wünschte sich der uralte Gelfand, der von diesen nichtkommutativen Verhältnissen sehr viel verstand, für gleich zwei Bereiche seines Forschungsfeldes etwas, das er »Perestroika« nannte, nämlich a.) mehr nichtkommutatives Denken, bei dem es nicht egal ist, was man zuerst macht (»Socken und Schuhe anziehen« ist zwar eine Addition, aber wer zuerst die Schuhe anzieht und dann die Socken, macht womöglich was falsch) und b.) mehr und einfallsreichere mathematische Arbeit mit Computern.
Beim zweiten Punkt wollte Gelfand den Umstand nutzen, dass heute lange und komplexe Rechnungen oder Beweisgänge ohne Beteiligung des menschlichen Bewusstseins geleistet werden. Das führt nämlich, wenn man Gelfands Absichten folgt, dazu, dass diese Rechnungen und Beweisgänge untersucht werden können wie ein Experiment in der Physik oder in der Chemie, das man ablaufen lässt, ohne einzugreifen, bis ein Resultat eintritt, das (anders als beim Folgern Schritt für Schritt) sehr überraschend sein kann.
Als Gelfand für die Veränderungen, die seiner Ansicht nach nötig waren, damit solche praktischen Neuheiten, aber auch die theoretischen der Nichtkommutativität, möglichst viel Nutzen bringen, das Wort »Perestroika« benutzte, wollte er damit sagen, dass er eine administrative Lenkung dieser Veränderungen wünschte.
»Naiv« nenne ich das, weil dahinter die Idee steht, dass man Umwälzungen in der Forschung, gegen die Widerstand oder Trägheit stehen, einfach so steuern könnte, wie der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow seine berühmte »Perestroika« durchzusetzen versuchte (die dann nicht zu einer »Reform« der UdSSR führte, was er als Absicht dahinter angegeben hatte, sondern zu ihrem Ende). In Wirklichkeit ist die mathematische Forschungsgeschichte wie die sonstige Sozialgeschichte weitgehend von Prozessen geprägt, die Karl Marx »naturwüchsig« nannte.
Dass einer der bedeutendsten Kopfarbeiter der Sowjetepoche den Unterschied zwischen geplanten, kollektiv koordinierten Vorgängen einerseits und in blinder Konkurrenz vollzogenen Umbrüchen andererseits offenbar nicht kannte, wirft kein gutes Licht auf die Bildungsarbeit der KPdSU. Denn was diese Partei ihn hätte wissen lassen müssen, wenn es ihr mit der Marx-Nachfolge ernst gewesen wäre, ist offensichtlich, dass das Wort »naturwüchsig« bei Marx, wenn er es auf soziale Tatbestände anwendet, etwas anderes bedeutet als »natürlich« im Sinne von »es kann doch gar nicht anders sein«. Die »Natürlichkeit« letzterer Art ist bekanntlich die Heilige Kuh von Leuten, die irgendeinen Biologismus, einen physikalischen Reduktionismus oder sonst eine Hypostasierung des Vorgefundenen anhimmeln.
Der berühmte Marx-Gedanke dagegen, den er mit den Worten ausdrückte, dass die Menschen die Geschichte zwar als »ihre eigene« machen, aber nicht »aus freien Stücken«, nicht immer wieder vom Nullpunkt aus, nie ohne vorgefundene Voraussetzungen, stellt klar, dass und wie die von diesen Menschen geschaffenen und eingerichteten Produktionsverhältnisse auf die konkrete Produktion und Reproduktion der jeweiligen Gesellschaft zurückwirken. Sie tun das nämlich, ohne dabei die Grenze des Handelns überhaupt zu fixieren. Denn man kann Produktionsverhältnisse bewusst ändern (dann sind sie allerdings nicht mehr naturwüchsig). Ein Umbau der Mathematik, wie Gelfand ihn wollte, wird anders aussehen, wenn er nach den ökonomischen Maßgaben etwa einer als Lernfabrik für Big-Data-Personal eingerichteten Universität erfolgt, als in dem Fall, dass er in einer Gesellschaft stattfindet, deren Arbeitsteilungsstruktur anderen Interessen als denen einer Profitwirtschaft gehorcht. Gelfand fragte sich aber nicht, von wem und für wen da umgebaut wird oder nicht. Naivität fragt das nie.
Zynismus wiederum fragt das sehr gern, gibt aber auf diese Frage finstere Antworten. So hielt es zum Beispiel ein anderer sowjetischer und dann postsowjetischer Mathematiker ersten Ranges, Wladimir Igorewitsch Arnold, in einem Aufsatz namens »Polymathematics: Is Mathematics a Single Science or a Set of Arts«, publiziert im Jahr 2000.
Darin findet sich die prägnante Feststellung, alle in der Moderne überhaupt relevante Mathematik lasse sich einem von drei Teilgebieten zuordnen, die ziemlich groben Interessen gehorchen: Erstens Kryptographie, bezahlt von der CIA, dem KGB und vergleichbaren Organisationen, ein Gebiet, dessen Bestimmungen etwa die Zahlentheorie, die algebraische Geometrie auf endlichen Körpern, die Algebra, die Kombinatorik und die Computerwissenschaft folgen müssen, zweitens Hydrodynamik, gefördert von Leuten, die Atom-U-Boote haben wollen, ein Gebiet, von dem das Gedeihen der komplexen Analysis, der partiellen Differenzialgleichungen und anderer Unterfächer abhängen, und drittens Himmelsmechanik, unterworfen der militärischen und zivilen Raketenwirtschaft, also die Heimat des heutigen Wissens über dynamische Systeme, lineare Algebra, Topologie, Variationsrechnung und symplektische Geometrie.
Mathematisches Wissen besitzt ein immenses kritisches Potenzial, das man aber nicht wahrnimmt, wenn man naive oder zynische Begriffe verwendet, um die mathematische Praxis zu begreifen.
Arnolds Bild ist »materialistisch« in einem eher hölzernen Sinn: Es macht zwar die Produktionsverhältnisse sichtbar, denen die mathematische Intelligenz ihre Wahrheiten entlocken muss, das heißt, es weiß, dass auch diese Intelligenz nicht aus freien Stücken denkt und handelt. Aber dabei vergisst es die andere Hälfte der Einsicht von Marx, nämlich, dass das, was da »nicht aus freien Stücken« gemacht wird, gleichwohl als ihre »eigene Geschichte« von den Menschen gemacht wird, nicht von einem Automatismus. Die Produktion, soll heißen: das, was die Leute hervorbringen, geht nicht komplett in den Verhältnissen auf, in denen sie das tun.
Ein simples Beispiel aus der jüngsten Mathematikgeschichte: Die islamische Republik Iran und ihr Wissenschaftsbetrieb sind gewiss nicht vordringlich dazu da, bedeutende Mathematikerinnen hervorzubringen und anzuerkennen. Trotzdem war die erste Frau, der man die Fields-Medaille zuerkannt hat (eine der höchsten Auszeichnungen für mathematische Forschung), Maryam Mirzakhani, eine Gelehrte, deren Ausbildung dieser iranische Wissenschaftsbetrieb verwaltet hatte.
Drei: Mehr, als man abzählen kann
Das, was bei Marx »Mehrprodukt« heißt, also alles, was wir als Menschen über das zur Wiederherstellung unseres Arbeitsvermögens Erforderliche hinaus hervorbringen, kann eine herrschende Klasse anderen Menschen in Ausbeutungsverhältnissen rauben.
Aber das ist kein Naturgesetz.
Auch mathematisches Wissen mag in diesem Mehrprodukt enthalten sein. Solcherlei Wissen ergänzt dann etwa das den natürlichen Sinnen Zugängliche (etwa bei der Betrachtung des Vogelflugs), übersteigt die Beschränkungen der Intuition (etwa beim James-Stein-Schätzer) oder zeigt unerwartete Schwierigkeiten bei allzu einfachen Lösungen sozialer Probleme an (etwa beim Arrow-Paradox). Damit besitzt es ein immenses kritisches Potenzial, das man aber nicht wahrnimmt, wenn man naive oder zynische Begriffe verwendet, um die mathematische Praxis zu begreifen und sie in Relation zum übrigen gesellschaftlichen Leben zu setzen.
Im gegenwärtigen Sumpf des Lebens in der Klassengesellschaft kann niemand wissen, was alles möglich ist und ob für die quantitative Beschreibung der neuen Freiheiten und Chancen von Menschen, die endlich aufhören dürften, einander auszubeuten, einzusperren, auszuschließen und zu unterdrücken, etwa eine noch unbekannte Art der Zins- und Zinseszinsrechnung zuständig wäre.
Aber dass und wie mathematische Perspektiven den Weg zum Besseren erleichtern können, soll zum Schluss dieser kleinen Abhandlung eine Anekdote aus dem Jahr 2022 illustrieren: Neulich saß ich in einem kleinen Kreis, in dem sich Bildungsbürger über Bemühungen lustig machten, die Wissensgeschichte auf Spuren des Kolonialismus und anderer Arten des Unrechts abzuklopfen und aus einschlägigen Befunden Konsequenzen zu ziehen. Ein selbstsicherer Herr spottete: »Erst kommen sie mit der Gendersprache, jetzt sollen wir wohl auch noch das Dezimalsystem aufgeben, weil richtiges Rechnen von bösen, weißen, heterosexuellen Cis-Männern stammt. Sie wollen einfach nicht verstehen, dass manche Sachen zwingend sind, von Natur aus, dahinter stecken keine menschlichen Mächte. Da sieht man wieder, wie schlecht es mit der Bildung steht!«
Eine besser informierte Stimme erwiderte: »Ja, das sieht man, denn sonst wäre ja deine eigene Bildung besser. Dann wüsstest du, dass Zähl- und Rechensysteme nicht vom Himmel fallen, sondern auf Zwecke orientiert gebaut werden können. Das Dezimalsystem ist nicht alles und nicht immer das Beste. Die Binärzahlen der Maschinensprache solltest auch du kennen, es gibt außerdem ein für gewisse Zwecke optimales Oktalsystem und ein Hexadezimalsystem. Wer zum Denken und Rechnen nur die zehn Finger oder die zehn Zehen nimmt, sollte von diesen Organen aufs Gehirn umschalten.«
Diejenigen, denen die vorhandene Welt mit Recht nicht gefällt, sollten nicht zulassen, dass Unterscheidungen, die zwischen Begriffen wie »natürlich«, »naturwüchsig«, »nützlich«, »richtig« und »wahr« möglich sind, in Vergessenheit geraten. Dass sich ihr Wert nicht ohne weiteres in profitwirtschaftlichen Quartalsergebnisziffern angeben lässt, macht sie nicht weniger wertvoll, als sie nachweislich sind.