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|Thema in ak 685: Heißer Herbst

Wer, wann und wodurch?

Zwischen 1998 und 2004 gab es drei gelungene Protestbewegungen gegen Sozialleistungskürzungen – daraus lässt sich etwas für die Proteste gegen die Inflation lernen

Von Harald Rein

Eine Menschenmenge zieht durch eine Straße, auf einem Schild steht "1989: Wahlbetrug, 2004: Wahlbetrug"
Dem Aufruf von wenigen, meist unorganisiert Betroffenen zu sogenannten Montagsdemonstrationen folgten 2004 Abertausende (hier eine Demo in Magdeburg). Foto: Matthias Berg

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu konnte kaum glauben, was er Ende 1997 und Anfang 1998 in Frankreich erlebte: eine Bewegung der ärmsten Schichten, die ihre Isolation durchbrach und gemeinsam gegen behördliche Bevormundung und staatliche Verarmungspolitik revoltierte. Zugleich erfreut über dieses »einzigartige … außergewöhnliche Ereignis« sprach Bourdieu dennoch perplex von einem »gesellschaftlichen Wunder«. Eine etwas seltsam anmutende Begrifflichkeit, die bei Bourdieu auf eine Geringschätzung der Möglichkeiten von Armenprotesten hindeutet. 

Ähnlich gelagert verlief auch zu diesem Zeitpunkt die wissenschaftliche und politische Debatte in Deutschland. Dass sich dort Erwerbslosengruppen Anfang der 1980er Jahre in hoher Zahl gründeten, wurde positiv vermerkt, aber deren Mobilisierungskraft als wenig effektiv, instabil und perspektivlos bezeichnet, da der Verlust von Lohnarbeit in der Regel als deprimierend empfunden und apathisch hingenommen würde.

Dies änderte sich mit den französischen Protesten der Erwerbslosen, die in Deutschland einen starken Widerhall fanden und zu einem Aufschwung der Protestpraxis der Erwerbslosengruppen führte. Zwischen 1998 und 2004 lassen sich drei gelungene Mobilisierungsphasen innerhalb der Betroffenengruppen gegen Sozialleistungskürzungen unterscheiden.

Im Jahr 1998, der ersten Phase, organisierte eine breit aufgestellte Erwerbslosenbewegung (damals existierten um die 1.000 Initiativen) regelmäßige Aktionen am Tag der Verkündung der neuen, monatlichen Arbeitslosenzahlen. Ohne Unterstützung von Großorganisationen wie DGB, Kirchen oder Wohlfahrtsverbänden und nur mit der von wenigen linken Gruppen gelang es, mehrere zehntausend Menschen einige Monate lang zusammenzubringen. Aktionen, wie die Besetzung von Arbeitsämtern, stabilisierten zwar Initiativen, führten aber mangels Beteiligung anderer gesellschaftlicher Gruppen nicht zu erkennbaren Erfolgen.

Die zweite Mobilisierungsphase fiel in den Zeitraum der Einführung von Hartz IV und der Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung ab 2003. In monatelanger Vorbereitung bildeten Anti-Hartz-Initiativen in ganz Deutschland die Grundlage für eine zentrale Demonstration in Berlin. Während sich die Spitzen von DGB und anderen Organisationen zurückhielten, unterstützten untere und mittlere Ebenen vieler Gewerkschaften den Protest gegen die »Reform« des Arbeitsmarktes und des Sozialsystems. 

100.000 in Berlin

Zusammen mit anderen linken Initiativen und Betroffenenorganisationen mobilisierten sie zu einer Demo in Berlin im November 2003. Mit rund 100.000 Teilnehmer*innen war diese ein großer Erfolg. Allerdings konnte er von Erwerbslosengruppen nicht in die Arbeit vor Ort umgesetzt werden. Es fehlte an Überlegungen und Konzeptionen, wie es nach der Berlin-Aktion weiter gehen könnte. Versuche wie die »Agenturschluss«-Aktion, bei der die Arbeitsagenturen am ersten Tag der Hartz-IV-Ära belagert wurden, und die späteren »Wir zahlen nicht für Eure Krise«-Demonstrationen verloren zusehends an Mobilisierungskraft. Betroffene fühlten sich nicht mehr angesprochen.

Die dritte Mobilisierungsphase fand in spontaner, selbstorganisierter Form im Osten Deutschlands statt. Dem Aufruf von wenigen, meist unorganisiert Betroffenen zu sogenannten Montagsdemonstrationen folgten auf dem Höhepunkt am 30. August 2004 in rund 200 Städten (auch im Westen) über 200.000 Personen. Bei der Initiierung der Demonstrationen und Kundgebungen in Ostdeutschland spielten die Erwerbslosengruppen vor Ort kaum eine Rolle, der Protest kam aus den Reihen einzelner, unzufriedener Erwerbsloser. Besonders die Angst vor dem sozialen Absturz veranlasste viele Beteiligte, auf die Straße zu gehen.

Reine Geldforderungen sind nicht ausreichend, denn sie fördern den Glauben daran, dass alle gleich betroffen seien.

Rechtsextreme Unterwanderungsversuche konnten meist verhindert werden, in einigen Fällen setzte die Polizei das Mitdemonstrieren durch. Abgrenzung von Faschist*innen war einer der beschlossenen Grundsätze der Montagsdemonstrationen.

Wer, wann und wodurch in Bewegung gerät oder selbst aktiv wird, lässt sich nicht voraussagen, so eine wenig überraschende Erkenntnis aus dieser Zeitspanne. Während der 1998er-Proteste wussten wir nicht, wie stark unsere eigene Mobilisierungskraft war, letztendlich konnten wir nur die damals aktiven Erwerbslosen einbeziehen. Umso überraschter waren wir bei der Demonstration der 100.000 Menschen in Berlin, deren Grundlage ein breites Bündnis von Gewerkschafter*innen, soziale Aktivist*innen und Betroffenen umfasste. Viele Monate später verblüffte uns der unorganisierte, plötzliche Aufstand der ostdeutschen Erwerbslosen.

Dennoch lassen sich bestimmte Erfahrungen aus den vergangenen Mobilisierungsphasen für künftige Sozialproteste gegen die Preissteigerungen fruchtbar machen. So hat es während der Massenproteste 2004 unterschiedliche Deutungsmuster gegeben. Für einen Großteil der Demonstrierenden speiste sich die Kraft, auf die Straße zu gehen, aus der Empörung nach jahrelanger Erwerbsarbeit innerhalb kurzer Zeit auf dem gleichen materiellen Niveau zu stehen, wie andere, die aus unterschiedlichen Gründen nie erwerbstätig waren. Die Journalistin Mag Wompel hat dies auf Labournet.de (23.8.22) vor kurzem noch einmal verdeutlicht: »Am Scheitern der Proteste gegen die Hartz-Gesetze, die die Sozialpolitik endgültig ökonomisiert haben, war nicht die mangelnde Masse schuld. Es war die breit verankerte Ideologie der ›Leistungsgerechtigkeit‹, die durch latente Akzeptanz des Menschenbildes der Agenda 2010 dem Widerstand das Genick gebrochen hat.« Proteste z.B. für eine massive Erhöhung der Regelsätze sind auch deshalb oft nicht mehrheitsfähig. So fehlt zum Beispiel in der aktuellen Kampagne »Genug ist Genug!«, initiiert vom Jacobin-Magazin, eine Forderung nach einer ausreichenden Existenzsicherung. Dagegen gilt es immer wieder, Konzepte und Bilder zu setzen, die deutlich machen, dass die Interessen von Grundsicherungsbeziehenden nicht weniger wert sind als die von anderen gesellschaftlichen Gruppen.

Notwendigkeit kleiner Erfolge

Eine Bewegung benötigt des Weiteren kleine Erfolge. 1998 empfanden wir allein die Tatsache, gemeinsam auf der Straße zu sein, als große Leistung. Dies genügt heute nicht mehr, wenn es nicht gelingt, wenigstens das eine oder andere Zugeständnis der Regierung zu erkämpfen. Dazu bedarf es eines breiten Bündnisses von unterschiedlichen Organisationen, die willens sind, die Regierungspolitik nicht nur in Frage zu stellen, sondern sie anzugreifen und wirkliche Alternativen aufzuzeigen. Dies war 2003 kurzfristig gegeben, allerdings nur von einem Teil der Hartz-IV-kritischen Gewerkschaften und Sozialverbände, die den ihnen zur Verfügung stehenden Aktionsradius einsetzten, um eine erfolgreiche Massenversammlung hinzubekommen. Die Spitzenfunktionär*innen hielten sich zurück, verhinderten das Bündnis nicht, waren aber überrascht über die Zugkraft der Bewegung und zogen dann das Geschehen wieder an sich, indem in den nächsten zwei Jahren mehrere zentrale und dezentrale ritualisierte Kundgebungen stattfanden. Natürlich hatte der DGB kein Interesse an einem Sturz der Regierung, dazu war und ist er zu sehr mit den einzelnen Regierungsparteien politisch verwachsen. Aber es sei darauf hingewiesen, dass zwischen 2003 und 2004 die Chance eines Politikwechsels aufgrund des Druckes der Straße bestand.

Eine weitere Erfahrung ist: Die Zusammenarbeit mit Großorganisationen, egal ob gewerkschaftlich, kirchlich oder wohlfahrtsverbandlich kann nur dann gelingen, wenn die Vorbereitung und Durchführung von Aktionen und die Aufstellung von Forderungen auf einer Augenhöhe ermöglicht wird. Denn nur so werden die unterschiedlichen Positionen sichtbar und können im gemeinsamen Interesse vorangebracht werden. Erste solidarische Ansätze spiegelten sich in den Anti-Hartz-Initiativen und den Aktionskonferenzen nach dem November 2003 wider.

Diffuser Zorn der Massen

Ohne Beteiligung von Großorganisationen dürfte auch die kommende Sozialprotestbewegung kaum eine Massenbewegung werden. Aufrufe, gegen Preissteigerungen und Energiekosten auf die Straße zu gehen, sind richtig, erreichen aber momentan hauptsächlich nur den eigenen Unterstützer*innenkreis. Das Protesthandeln von Erwerbslosen, aber auch von prekär Beschäftigten ist davon geprägt, dass seit vielen Jahren kontinuierliche materielle Verschlechterungen die Realität prägen. Ob sie allerdings an Protesten teilnehmen werden, hängt stark davon ab, inwieweit das individuelle Widerstandsrepertoire erfolgversprechender erscheint als das Ergebnis eines öffentlichen Protestes. An welchem Punkt es spontane Ausbrüche des Ungehorsams und der Auflehnung gibt, ist unklar. Linke Organisationen aber sollten darauf vorbereitet sein, um als selbstbetroffene Supporter solidarisch einzugreifen. Der »Zorn der Massen« wird aber sicherlich nicht das Kommunistische Manifest in sich tragen. Er wird diffus sein, manchmal auch unerträglich, aber ohne Distanzierungen ließe sich eine solidarische Grundlage schaffen, die vielleicht mehr bietet als das »Weiter-so«!

Bei aller Notwendigkeit, jetzt klare, nachvollziehbare und für den Einzelnen erleichternde Forderungen zu stellen, ist es mindestens genauso erforderlich, deutlich auszusprechen, welche darüber hinausgehenden Alternativen anvisiert werden. Reine Geldforderungen sind nicht ausreichend, denn sie fördern den Glauben daran, dass alle gleich betroffen seien. Benötigt werden verbindende strategische Forderungen, etwa in Richtung der Vergesellschaftung sozialer Infrastrukturen in Verknüpfung mit einem Existenzgeld oder einer radikalen Veränderung der Steuergesetzgebung. Schon die Proklamierung und Unterstützung derartiger Überlegungen ist eine unüberwindbare ideologische Brücke für Rechtsradikale.

Harald Rein

ist Sozialwissenschaftler und arbeitet im prekär-lab Frankfurt mit.