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|Thema in ak 685: Heißer Herbst

Auf der rechten Überholspur?

AfD, Freie Sachsen und Co. wollen die Proteste gegen hohe Energiepreise und Inflation kapern

Von Marcel Hartwig

Ein älterer Mann trägt zwei Schilder in seinen Händen. Auf dem einen Schild steht »Freiheit auch für Nord-Stream 2«. Auf dem anderen Schild steht: »Sofortiger Waffenstillstand + Verhandlung für eine Neutrale und NATO-freie UKRAINE«.
In den rechten Protesten steckt Dynamik. Die AfD könnte durch sie auch Menschen erreichen, die bisher nicht zu ihrer Klientel gehörten. Momentaufnahme bei einer AfD-Demonstration am 5. September in Magdeburg. Foto: Marcel Hartwig

Landauf, landab wurde über sie spekuliert, als sei sie tatsächlich je eine reale Option gewesen: die Querfront. Angesichts der zu erwartenden Proteste gegen Energiekrise und Inflation fielen zahlreiche Journalist*innen und die hiesige Twitteria, wie schon zu Beginn der Corona-Proteste, auf eine Erzählung herein, die aus der Feder jener Rechten stammt, die sich Ende August auf einem Sommerfest des rechten Magazins Compact tummelten.

Auf dem Anwesen des ehemaligen AfD-Fraktionschefs in Sachsen-Anhalt, André Poggenburg, ließen sich Redner wie Martin Kohlmann (Freie Sachsen) und Jürgen Elsässer (Compact) dahingehend ein, Ziel sei es, linke und rechte politische Akteure im absehbaren Protestherbst zusammenzuführen. Dass es sich bei der von rechts propagierten Querfront um einen Social-Media-Coup handelte, wurde in der ersten Septemberwoche klar, als die rechte Kleinstpartei Freie Sachsen via Sharepic suggerierte, linke Politiker wie Gregor Gysi und Sören Pellmann träten in Leipzig gemeinsam mit extrem rechten Rednern wie Kohlmann und Elsässer auf. 

Bereits im Juli war im Podcast »Lagebesprechung« der extrem rechten Kampagnen Agentur Ein Prozent über die Protestkonstellationen des Herbstes spekuliert worden. Der gesellschaftlichen Linken werde es vor allem in Ostdeutschland nicht gelingen, den sozialen Protest thematisch zu besetzen, so die Diagnose des Autors der rechten Zeitschrift Sezession Benedikt Kaiser. Dort habe die Partei anders als in den 1990er Jahren die PDS, ihren sozialpolitischen Kredit im vorpolitischen Raum verloren.

Die Krise böte die Chance, dass dieser an die AfD überginge. Kaisers Arbeitgeber, der rechte Verleger Götz Kubitschek, stieß ebenfalls in diese Kerbe. Das rechtsintellektuelle Milieu müsse den heißen Herbst anheizen, ein Aufstand sei unausweichlich.

Diese Wortmeldung wurde von Expert*innen wie Andreas Kemper als neue Qualität der politischen Radikalisierung der Rechten gewertet. Dies lässt jedoch außer Acht, dass »Ernstfall« und »Ausnahmezustand« seit jeher Teil des ideologischen Inventars der extremen Rechten sind. Aus ihrer Sicht gilt es, frühzeitig einen Fuß in die Tür des sozialen Protestes zu stellen und getragen von der bereits bei Pegida und den Corona-Protesten erkennbaren Erwartung über die Proteste die Machtverhältnisse im Land nach osteuropäischem Vorbild nach rechts zu verschieben.

Soziale Frage, rechte Antworten

Bei der ostdeutschen AfD wird Sahra Wagenknecht als Brückenfigur gesehen. Ihre nationalistisch aufgeladene Sozialstaatsrhetorik trifft bei der AfD im Osten auf offene Ohren. Ganz unverholen umwirbt die Partei die ehemalige Linke-Fraktionschefin. Anfang September lud der AfD-Fraktionschef im Magdeburger Landtag Wagenknecht öffentlichkeitswirksam ein, auf der Montagskundgebung der AfD vor dem Landtag zu sprechen. Wagenknecht lehnte erwartungsgemäß ab, was nichts daran ändert, dass einige ihrer Positionen eine Schnittmenge mit der Argumentation der AfD aufweisen. Solche Offerten sind regelmäßig aus der AfD zu hören.

Das blaue Protestangebot setzt sich aus einem deutlich pro-russischen Kurs der AfD, sowie dem Versuch, die soziale Frage von rechts zu beantworten, zusammen.

Überdies will die AfD im Osten den Protest mittels einer Kampagne von rechts anschieben. Auf dem Landesparteitag der AfD Sachsen-Anhalt sagte Hans Thomas Tillschneider, einflussreicher ideologischer Kopf der Partei, er wolle, dass es überall ein »blaues Protestangebot« gebe. Dieses »blaue Protestangebot« setzt sich aus einem deutlich pro-russischen Kurs der AfD sowie dem Versuch, die soziale Frage von rechts zu beantworten, zusammen. Am deutlichsten wurde dieser Versuch wohl zuletzt in dem 2020 erschienenen Buch »Solidarischer Patriotismus« des rechten Autors Benedikt Kaiser artikuliert. Kaisers Alleinstellungsmerkmal im rechtsintellektuellen Milieu ist die Analyse linker Gegner*innen.

Kaiser rezipiert linke Theorie und Diskurse und bereitet diese für das neurechte Milieu in Büchern und Aufsätzen in der Zeitschrift Sezession, im gleichnamigen Blog und in Vorträgen auf. Seine Exegese linker Kapitalismuskritik zielt auf eine Diskurs-Piraterie, also darauf, sich Analysen, Wissen und Taktiken der Linken anzueignen, sie ihres ursprünglichen emanzipatorischen Kontextes zu entkleiden und Versatzstücke für die extreme Rechte nutzbar zu machen. Dies beginnt mit politischen Begriffen.

Im Anschluss an den von Hans-Jürgen Urban geprägten Begriff der »Mosaik-Linken« entwickelte Kaiser das Konzept einer »Mosaik-Rechten«, die helfen soll, der extremen Rechten gesellschaftliche Verankerung zu verschaffen und die nach wie vor ihr gegenüber bestehenden Tabus abzubauen. Im Zentrum der Überlegungen steht dabei die AfD als zweifellos erfolgreichstes Parteienprojekt der extremen Rechten seit Jahrzehnten. Die Partei soll keineswegs nur im Parlament wirken. Vielmehr wird sie in Kaisers Konzeption als Schlüssel verstanden, rechte Bewegungsakteur*innen zu vernetzen, ihnen eine Plattform zu schaffen, neue kulturelle Ausdrucksformen der extremen Rechten zu erproben und Hegemoniekämpfe in der Gesellschaft zu führen. Kaiser will die soziale Frage von rechts beantworten und aktualisiert hierfür die Volksgemeinschaftsideologie. Der kapitalistischen Globalisierung kreidet Kaiser nicht etwa die Inwertsetzung aller Sphären des Lebens an, sondern die Auflösung nationaler und kultureller Identitäten. Er propagiert völkischen Antikapitalismus gegen Konzerne und Globalisierung. Nation und Staat sollen Schutzpatrone für das nationale Kleinbürgertum und den Mittelstand sein.

Verwobenheit mit Russland

Ebenjene will die AfD erreichen, indem sie die Ostdeutschen an eine alte Bekanntschaft erinnert. Während sich die Russ*innen zu DDR-Zeiten keiner besonderen Beliebtheit erfreuten, gibt es heute doch eine besondere Dankbarkeit – dass die Sowjetarmee 1989 nicht gewaltsam eingriff und die Sowjetunion in einem Moment historischer Schwäche der deutschen Einheit zustimmte. Überdies hat die Russland-Affinität im Osten eine tiefe Verankerung im kollektiven Gedächtnis: Russisch als erste Zweitsprache in der Schule und enge Kooperationen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Art trugen hierzu genauso bei wie monumentale Bauprojekte wie die Druschba-Trasse, an deren Bau Tausende Jugendliche aus der DDR und der Sowjetunion beteiligt waren.

Die zeitgeschichtlich bedingte enge Verflechtung ostdeutscher Industriestandorte wie die PCK-Raffinerie Schwedt oder die SKW Stickstoffwerke Piesteritz bei Wittenberg mit der russischen Rohstoffwirtschaft ist immens. An den Betrieben hängen Tausende Arbeitsplätze und die Infrastruktur ganzer Regionen. Es geht dort um mehr als um Energie und Lebensmittelpreise. Bleiben russische Gaslieferungen aus oder werden politisch gewollt abgedreht, droht zum zweiten Mal nach 1990 eine soziale Disruption. Diese Stimmungslage wird die extreme Rechte aufzugreifen wissen. Je inhaltlich diffuser und zugleich offener ihr politisches Angebot ist, desto anschlussfähiger.

Es ist absehbar, dass die Forderungen, Nord Stream 2 zu öffnen und die Sanktionen gegen Russland aufzuheben, im Osten auf breite, die politischen Spektren übergreifende Zustimmung stoßen werden. Demonstrationen wie Anfang September in Lubmin, dem deutschen Anschlusspunkt von Nord Stream 2, die von Die Basis und der AfD organisiert wurden, sind als Zeichen zu lesen.

Dass sich die AfD pro-russisch aufstellt, hat in der mehrheitlich von Westdeutschen dominierten Partei weniger mit kollektivem Gedächtnis zu tun, als mit der Sehnsucht nach einem autoritären Staat, dessen starker Führer sich gegen den westlichen Liberalismus wendet. Schon kurz nach ihrer Gründung baute die AfD, wie auch andere rechte Parteien Europas, ihre Verbindungen nach Moskau aus: AfD-Kader beteiligten sich an Wahlbeobachtungen im Donbass, trafen den faschistischen Philosophen Alexander Dugin und nationalistische Oligarchen, begrüßten die Annexion der Krim und traten in Kreml-nahen Medien auf.

Ausblick

Dort wo AfD und andere rechte Gruppen stark sind, bestimmen sie die politischen Deutungsvorlagen auch in vorpolitischen Kontexten. Hier gilt es, nicht nur die eigene Anhängerschaft, sondern Menschen in politikfernen Milieus zu mobilisieren, die sich als unpolitisch verstehen, bislang inaktiv oder Nicht-Wähler*innen sind. Nicht-Wähler*innen waren bei den zurückliegenden ostdeutschen Landtagswahlen stets eine sichere Bank für die AfD und bildeten ein unverzichtbares Fundament für die Wahlerfolge der Partei im Osten.

Sie zu mobilisieren ist für die Partei jedoch kein Selbstläufer. Die Tatsache, dass die AfD offen als Partei zum Protest mobilisiert, kollidiert mit der weitverbreiteten Abneigung vieler Ostdeutscher gegenüber Parteien überhaupt. Dennoch: In ostdeutschen Städten ist die Hegemonie rechter Akteur*innen bekanntlich nicht unerheblich. Es ist für sie ein Leichtes, sich an die Spitze eines Protestes zu setzen. Andere, linke Stimmen sicht- und hörbar zu machen, bedarf einer umsichtigen Vorarbeit und kluger Intervention.

Dafür gilt es, sich vor Ort auf Personen und Strukturen zu stützen, die die lokalen Gegebenheiten und deren Komplexität kennen. Diese mögen nicht dem linken Universum und seinen Szene-Gesetzmäßigkeiten entsprechen. Doch sie bieten einen der wenigen Anknüpfungspunkte, linken Ausdrucksformen sozialen Protests jenseits von Leipzig und Berlin Gehör im Osten zu verschaffen. Wer in sozialen Protesten im Osten als progressiver Akteur überhaupt sichtbar sein will, muss bereit sein, sich politisch auf einem sehr schmalen Grat zu bewegen und sich zwischen alle Stühle zu setzen, zwischen rechten Sozialpopulismus und politisch nicht eindeutiger Dynamik vor Ort, muss bereit sein, Fehler zu machen, und diese der Situation angemessen selbstkritisch zu reflektieren. Wer sich aus nachvollziehbaren Gründen gegen den Versuch in derlei Protestformaten zu wirken entscheidet, wird mit ansehen müssen, wie AfD und Co. das Handlungsfeld sozialen Protests übernehmen und ausfüllen. Einen Ausweg aus diesem politischen Dilemma gibt es nicht.

Marcel Hartwig

lebt in Leipzig und Halle. Er ist in der Jugendarbeit tätig.