Die Basis ist schon weiter
Die Konfliktbereitschaft vieler Beschäftigter ist hoch in Zeiten der Inflation – die Brücke zu bewegungslinken Kämpfen muss aber noch gebaut werden
Von Lene Kempe
Man friert bei 18 Grad nicht«, verkündete Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf jüngst in einem Interview mit der Welt. Er erwarte, dass die Mitarbeiter*innen kältere Büros aushalten oder ins Homeoffice ausweichen und ihren Unternehmen Strom und damit Kosten sparen – letzteres im Übrigen auch bei den Löhnen. Wolf empfahl den Gewerkschaften für die gerade gestarteten Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie, eine Nullrunde zu akzeptieren. Wenn es nach ihm geht, ist der Weg durch den kommenden Winter der Inflation und Energieknappheit offenbar einer, den die Beschäftigten in Demut gehen sollten, denn sie wollen ja ihren Arbeitsplatz behalten.
Die gewerkschaftliche Basis scheint das mittlerweile anders zu sehen. Vielleicht ist in den letzten Jahren einfach ein bisschen zu fest am sozialpartnerschaftlichen Korsett gezogen worden: Zu eigentlich jeder Gelegenheit haben Arbeitgebervertreter*innen betont, dass es nichts zu verteilen gäbe und Lohnforderungen, die oberhalb der Inflationsrate lagen und einen spürbaren Reallohnzuwachs bedeutet hätten, als überzogen abgewehrt, stattdessen ihre stets prekäre Lage betont oder gleich mit Standortverlagerungen gedroht. Anstatt in die von Wolf geforderte Nullrunde ging die IGM nun immerhin mit einer Acht-Prozent-Forderung in die erste Runde. Allerdings: Selbst wenn die Gewerkschaft sich damit durchsetzen kann, würde das gerade mal die Inflation ausgleichen, die aktuell bei 7,9 Prozent liegt – Tendenz steigend.
Arbeitskampf am Hafen
Den norddeutschen Hafenarbeiter*innen, die in diesem Sommer mit ihren Streiks immer wieder die kritische Infrastruktur des Landes lahmgelegt haben, ist es demgegenüber inmitten von Inflation und sich ankündigender Wirtschaftskrise gelungen, beachtliche Lohnerhöhungen zu erkämpfen: zumindest in den sogenannten Vollcontainerbetrieben, den rentablen Großunternehmen, in denen der gewerkschaftliche Organisierungsgrad bei geschätzten 70 bis 90 Prozent liegt. Dort steigen die Bezüge im Schnitt zunächst um 9,4 Prozent und ab Juli 2023 um weitere 4,4 Prozent. Ein Sonderkündigungsrecht sichert den Beschäftigten zudem einen Inflationsausgleich zu: Liegt diese im nächsten Jahr weiter über 4,4 Prozent, kann neu verhandelt werden.
Im Hafen wurde ein ungewöhnlich politischer Arbeitskampf eingeleitet.
Damit haben sich die kämpfenden Belegschaften erfolgreich gegen die seit Jahren gültige Logik durchgesetzt, wonach es in wirtschaftlichen Krisensituationen (die, folgt man den Unternehmensdarstellungen, eigentlich zu einem Dauerzustand geworden sind) zu allererst die Beschäftigten sind, die durch Lohnzurückhaltung die gestiegenen Kosten oder Verluste kompensieren müssten. Zufrieden mit dem Abschluss sind dennoch längst nicht alle, wie die ver.di-Vertrauensleute und Tarifkommissionsmitglieder Jana Kamischke und Deniz Askar Dreyer in einem Interview mit Radio Corax betonen. Und das ist das eigentlich bemerkenswerte an diesem Streik: Den Hafenarbeiter*innen ging es mit ihren Forderungen nicht einfach um Lohnerhöhungen, sondern um Lohnsolidarität zwischen unterschiedlichen Beschäftigungsgruppen im Hafen. Damit hatten sie einen ungewöhnlich politischen Arbeitskampf eingeleitet.
Ein erklärtes Ziel war es, für alle Kolleg*innen, auch in den weniger gut entlohnten sogenannten B- und C-Betrieben der Nordseehäfen, die Löhne im selben Maße (um 1,20 Euro pro Stunde) zu erhöhen. Das ist nicht gelungen: Während die Kolleg*innen in den B-Betrieben im Schnitt noch 7,9 Prozent und 4,4 Prozent im zweiten Jahr bekommen, fallen die Lohnerhöhung für die C-Betriebe deutlich geringer aus. Die Arbeiter*innen in den C-Betrieben seien entsprechend frustriert, betont Dreyer in dem Interview. Diese Kategorie umfasst Betriebe, in denen wegen besonderer Krisenbetroffenheit bereits ein »Beschäftigungssicherungstarifvertrag« gilt: Der Arbeitsplatzerhalt hat Priorität, dafür werden etwa Lohnabschläge oder weniger Urlaubstage in Kauf genommen. Diese Kolleg*innen erhalten gemäß der Einigung nun zunächst 3,5 Prozent, im kommenden Sommer dann 2,5 Prozent mehr Lohn. Reallohnverluste sind damit besiegelt. Auch mit der Forderung nach einer kurzen Vertragslaufzeit (zwölf, statt der nun beschlossen 24 Monate), um Inflationsverluste nachverhandeln zu können, konnten sich die Hafenarbeiter*innen nicht durchsetzen.
Viele Kolleg*innen, auch aus den gut gestellten A-Betrieben, wollten deshalb lieber weiterkämpfen. Dass die Tarifkommission das Angebot obendrein ohne eine verbindliche Befragung der Basis angenommen hat, ist nicht nur für Jana Kamischke und Deniz Askar Dreyer ein weiterer Frustfaktor. Die Gewerkschaft müsse hier mehr Demokratie zulassen und alte Strukturen aufbrechen.
Diese Message scheint zumindest bei ver.di angekommen zu sein. Der Apparat, so ist aus den Reihen hauptamtlicher Mitarbeiter*innen zu hören, sei ziemlich in Zugzwang. Man wisse, dass mehr Konfliktbereitschaft zugelassen werden muss, um die Löhne in Zeiten der Inflation mindestens zu sichern. Zugleich sei klar, dass eine Lohnerhöhung von acht oder zehn Prozent nicht mit dem normalen Prozedere erreicht werde. Deshalb sei die Gelegenheit da, die Gewerkschaften mehr in Richtung Konfliktorientierung zu bewegen. Zudem gäbe es durchaus Debatten, Lohnkämpfe stadt- und gesellschaftspolitischer auszurichten, konkrete Initiativen – wie die Zusammenarbeit mit Fridays for Future bei den Tarifauseinandersetzungen im Öffentlichen Nahverkehr 2020 – sind bislang jedoch die Ausnahme.
Bei ver.di wisse man, dass mehr Konfliktbereitschaft zugelassen werden muss, um die Löhne in Zeiten der Inflation mindestens zu sichern.
Auch hier scheint die gewerkschaftliche Basis zum Teil schon weiter: Die streikenden Hafenarbeiter*innen haben ihre Forderungen nach Lohnsolidarität zwischen Beschäftigten nicht nur gezielt in eine (linke) Medienöffentlichkeit hinein kommuniziert, wofür sie zurecht viel Aufmerksamkeit erhielten, sie zeigten sich auch solidarisch mit anderen Arbeitskämpfen und suchten den Austausch, etwa mit den Streikenden der Unikliniken in NRW und der Lufthansa.
Die Politisierungsmaschine
Umgekehrt beteiligten sich auch einzelne Amazon-Arbeiter*innen an den Protesten der Hafenarbeiter*innen. Das berichtet Nonni Morisse gegenüber ak, der als ver.di-Gewerkschaftssekretär für Amazon in Bremen und Niedersachsen zuständig ist. Bei den gemeinsamen Treffen mit den Beschäftigten im Hafen hätten sich einige Delegationen gegenseitige Unterstützung für die nächsten Streiks zugesichert. Auch unter den Amazon-Beschäftigten sei seit Inflation und Energiekrise eine deutlich erhöhte Konfliktbereitschaft zu spüren. Schon im Juli hatten Beschäftigte an mehreren deutschen Standorten nach einem ver.di-Aufruf die Arbeit niedergelegt, im Amazon Fulfillment-Center Winsen (Luhe) wurde am 14. September zum ersten Mal gestreikt. »Für die Beschäftigten war es eigentlich keine Frage, jetzt noch mehrere Wochen oder Monate zu warten mit Streikmaßnahmen. Ihnen war klar, dass die Krise jetzt, wo noch gar nicht alle Preise an die Verbraucher*innen weitergegeben wurden, erst am Beginn steht. Deswegen muss jetzt etwas passieren«.
Natürlich entlade sich »die Wut der Amazon-Arbeiter*innen gerade an den steigenden Preisen und der Lohnpolitik des Unternehmens«, so Nonni Morisse. Amazon hatte die eigenen Preise zuletzt extrem erhöht, das Prime-Abo zum Beispiel um 30 Prozent, den Beschäftigten in Winsen (Luhe) aber nur drei Prozent mehr Lohn zugestanden. Die Ursachen für die starke Konfliktorientierung lägen bei den Amazon-Beschäftigten bekanntlich aber noch sehr viel tiefer. Er nennt hier vor allem die langjährigen entwürdigenden Alltagserfahrungen, die Bewertung durch einen Algorithmus, die Kontrolle und Sanktionsmechanismen, wenn Fehler passieren, zum Teil auch erhebliche gesundheitliche Schäden bei Beschäftigten. Diese kollektive Erfahrung des »System Amazon« habe aber auch eine positive Seite: »Der Amazon-Konzern versetzt Menschen aus der ganzen Welt, aus völlig unterschiedlichen Herkunftsländern, in die selbe Lage, und bringt sie so miteinander in Verbindung, ermöglicht es, gemeinsam über diese Themen nachzudenken«.
Arbeitskämpfe, ob sie erfolgreich sind oder nicht, sind für die Beteiligten häufig so etwas wie eine »Politisierungsmaschine«. Bei den zahlreichen wilden Streiks und Mitbestimmungskämpfen von Lieferdienstfahrer*innen war das ein wichtiger Treiber, beschreibt der Soziologe Janis Ewen, der etliche Rider interviewt hat. Einige Fahrer*innen seien sehr politisiert aus den Arbeitskämpfen herausgegangen und zum Teil, nach einem Wechsel zu anderen Diensten oder Standorten, gleich wieder in den nächsten hinein gegangen.
Neue Allianzen
Während bei den Auseinandersetzungen in der Lieferdienstbranche mit der Freien Arbeiter*innen Union (FAU) ein bewegungslinker Akteur relativ stark eingebunden war, stehen Arbeitskämpfe immer noch eher selten im Fokus von linken Gruppen. Für die Kämpfe bei Amazon gäbe es zwar ein grundsätzliches Interesse und Unterstützung, so Nonni Morisse. Es sei aber oft schwierig, dass Amazon sehr schnelllebig und deshalb auch der Widerstand der Beschäftigten manchmal so schnell wieder vorbei sei, wie er begonnen habe – auch weil der Konzern mit Methoden wie Union Busting oder Mobbing arbeite. Für linke Gruppen, die vielleicht gerade in langfristige, ressourcenfressende Kampagnen eingebunden sind, sei es nicht leicht, ebenso schnell zu reagieren und Unterstützung zu mobilisieren.
Dort, wo es dennoch gelingt, wie im vergangenen Jahr bei Bosch, wo sich die Belegschaften und Klimaaktivist*innen gemeinsam gegen die Schließung eines Werkes bei München zusammengetan haben, können für alle Seiten fruchtbarer Austausch und so auch Auswege aus festgefahrenen programmatischen Strategiedebatten entstehen.
Gerade das scheint vor dem Hintergrund von Inflation und Energiekrise dringend geboten.
Arbeitskämpfe sind nicht nur in Deutschland, sondern in vielen anderen Ländern wie Großbritannien, Belgien, Frankreich oder Spanien bereits jetzt eine entscheidende Größe, wenn es um die Verteilung der Krisenkosten geht. Und in Zeiten der Inflation haben auch reine Lohnkämpfe das Potenzial, sehr politisch zu sein, weil alle von Reallohnverlusten betroffen sind. Vor allem aber sind Vernetzung, Erfahrungsaustausch und gegenseitige Solidarität zentrale Ressourcen für die kommenden Auseinandersetzungen.