Wo sind die Revolutionär *innen?
Im letzten Jahr sind mehrere Gruppen aus der Interventionistischen Linken ausgetreten, Kritikpapiere wurden veröffentlicht – was ist der Dissens?
Von Jan Ole Arps und Lene Kempe
Es war im August 2011, als Frank Schirrmacher, damals Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dem politischen Konservatismus eine tiefsitzende »Selbstbewusstseinskrise« attestierte. Die weltweite Banken- und Finanzkrise hatte viele Länder der Eurozone ins Wanken gebracht; nicht nur in Griechenland, auch in Portugal, Italien, Spanien und Irland stiegen die Arbeitslosenzahlen, gab es Proteste. Nach einem »Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie«, in dem Banken und Finanzkapital das kapitalistische System beinahe zu Fall gebracht hatten, um dann mit Milliarden Euro Steuergeldern gerettet zu werden, konnte Schirrmacher nicht mehr anders, als an der Rationalität des bürgerlichen Denkens zu zweifeln. »Ich beginne zu glauben, dass die Linke Recht hat«, ließ der damalige Posterboy des Konservatismus in einem Leitartikel verlauten.
Heute, gut zehn Jahre später, deutet sich abermals eine Konstellation an, in der sich gesellschaftliche Krisen und Konfliktlagen derart zuspitzen, dass es Liberalen und Konservativen zunehmend schwer fällt, ihre Erzählung vom freien Markt, von Selbstverantwortung und Chancengleichheit unter die Leute zu bringen. Zum anhaltenden Pandemiegeschehen gesellt sich die Inflation, die Klimakrise verschärft sich mit jedem Monat, der Ukrainekrieg scheint nicht nur ein neues Zeitalter kriegerischer Konfrontationen zwischen den großen Mächten der Welt einzuläuten, er hat auch die weltweite Ernährungskrise befeuert, und viele Ökonom*innen prognostizieren eine neue Schuldenkrise Südeuropas – weil die Leitzinserhöhungen, mit denen die Inflation bekämpft werden soll, über steigende Kreditzinsen automatisch den Schuldenstand ärmerer Länder erhöhen und Neuverschuldung für diese verteuern.
Dass all diese Krisen etwas mit dem Kapitalismus zu tun haben und dass es dabei für immer mehr Menschen auch im globalen Norden um existenzielle Fragen geht, kann heute kaum noch von liberaler Seite bestritten werden. In den vergangenen Jahren sind eine ganze Reihe von Bewegungen entstanden, die auf diese Krisen reagieren, vor allem die Aufstände, die die unterschiedlichsten Regionen der Welt seit 2019 erschüttert haben und in der Pandemie zwar abgedämpft, aber nicht beendet wurden, wie aufstandsähnliche Proteste allein in den vergangenen Wochen in Ecuador, Usbekistan, Sri Lanka und Panama zeigen. Aber auch in relativ stabilen Gesellschaften des globalen Nordens ist es mit der Ruhe nicht mehr weit her. Von den Gilets Jaunes in Frankreich und den Protesten gegen rassistische Polizeigewalt im Sommer 2020 über die globalen feministischen Kämpfe und die anhaltende Klimabewegung bis zu den langsam zurückkehrenden Klassenkämpfen, selbst in Deutschland, dem Land des Klassenkompromisses – die gesellschaftlichen Widersprüche verschärfen sich.
Was ist mit der organisierten Linken los?
Gleichwohl scheinen Linke hierzulande so orientierungslos zu sein wie lange nicht. Die Linkspartei versucht, sich von ihrem Parteitag zu erholen; wie es mit ihr weitergeht, ist ungewiss. Die Interventionistische Linke (IL), die größte bundesweite Organisation aus dem postautonomen Spektrum, wurde in den letzten Monaten durch mehrere Gruppenaustritte dezimiert. Zum Ukrainekrieg hat man von ihr nicht viel gehört; ihr Aufruf zu den Aktionstagen von Rheinmetall entwaffnen Ende August, Anfang September in Kassel liest sich, als sei in Punkto Krieg alles wie immer. Andere bundesweite Zusammenschlüsse wie das Ums-Ganze-Bündnis scheinen fast völlig in der Versenkung verschwunden. Warum ist die organisierte Linke in einem derart desolaten Zustand?
Vom Fehlen einer politischen Strategie und einer angemessenen Diskussion bis zu bürokratischer Erstarrung und neoliberaler Verformung der Aktionen reichen die Kritikpunkte an der IL.
Diese Frage stellen auch Autor*innen einer Broschüre (»Die IL läuft Gefahr, Geschichte geworden zu sein«), die Ende Mai erschien und in der ausgetretene IL-Gruppen und Einzelne inner- und außerhalb der Interventionistischen Linken eine politische Selbstverständigung und eine Kritik an der IL als Organisation formulieren. Vom Fehlen einer politischen Strategie und überhaupt einer angemessenen inhaltlichen Diskussion bis zu bürokratischer Erstarrung und neoliberaler Verformung der Aktionsformen reichen die Kritikpunkte. Vor allem die nicht verarbeitete Niederlage der europäischen Linken im Jahr 2015 – als die EU die linke Regierung in Griechenland auf Austeritätskurs zwang und es keinen europaweiten Widerstand dagegen gab, aber auch als der »Sommer der Migration« mit dem EU-Türkei-Deal abgewürgt wurde und schließlich die europäische Rechte erstarkte – wird darin immer wieder als initialer Moment des Scheiterns zitiert.
In der IL habe sich eine Angst vor politischer Zuspitzung ausgebreitet, man präsentiere lieber »anschlussfähige« Forderungen, meint auch Andreas aus der ehemaligen IL Münster, die im November 2021 ihren Austritt aus der bundesweiten Organisation erklärte und jetzt EXIL heißt. Er gehörte auch zum Vorbereitungskreis einer Diskussionstagung von ILer*innen und Freund*innen im Sommer 2021, aus der die zitierte Broschüre entstand. »Es gibt in der IL keinen organisierten Versuch, die aktuellen Veränderungen im Kapitalismus zu verstehen und über die Folgen für linksradikale Politik nachzudenken«, meint Andreas. Auch deshalb halte die Tendenz zum politischen Pragmatismus in den Aktionen und Diskussionen der IL Einzug. »Dass die Unversöhnlichkeit mit den Verhältnissen aufgegeben wird, ist dramatisch, gerade wenn man an die Klimakrise denkt. Weil die Zeit, die Katastrophe zu verhindern, so rasend schnell abläuft, glauben viele in der Klimagerechtigkeitsbewegung, man müsse möglichst umsetzbare Forderungen stellen. Dabei wäre gerade das Gegenteil notwendig, sogar dann, wenn man nur etwas ›Reformistisches‹ durchsetzen will«, ist Andreas überzeugt.
Kritik an der IL gab es in der linken Szene schon immer. Manchen galt sie als Organisation der Bewegungsmanager*innen oder als verkappte Vorfeldorganisation der Linkspartei, andere kritisierten den Fokus auf Großmobilisierungen oder den Mangel an politischen Analysen. Die IL laufe einfach immer dorthin, wo Bewegungen seien, hieß es.
Aktionskonsens und strategische Bündnisarbeit
Dass die IL sich weniger auf die Theorie und mehr auf die Praxis konzentrierte, ist kein falscher Eindruck. Das »Zwischenstandspapier«, eine Art provisorisches Programm, mit dem die IL im Jahr 2014 den Zusammenschluss der vormals eher lose verbundenen Mitgliedsgruppen zur bundesweiten Organisation erklärte, beginnt mit den Sätzen: »Linke und Linksradikale tendieren oft dazu, den Wahrheitsanspruch ihrer politischen Analysen dogmatisch zu fixieren. Das liegt uns fern. Wenn wir Marx’ Satz zustimmen, nach dem ›jeder Schritt wirklicher Bewegung wichtiger ist als ein Dutzend Programme‹, verpflichten wir uns auf Wahrheiten eines Prozesses, die sich nicht in formelhafte Bekenntnisse fassen lassen.« Über die Reflexion der gemeinsamen Praxis werde sich das gegenseitige Vertrauen entwickeln, auf dessen Basis die politische Analyse kollektiv weiterentwickelt werden könne, so die Erwartung.
Wenn wir Marx’ Satz zustimmen, nach dem jeder Schritt wirklicher Bewegung wichtiger ist als ein Dutzend Programme, verpflichten wir uns auf Wahrheiten eines Prozesses, die sich nicht in formelhafte Bekenntnisse fassen lassen.
Aus dem IL Zwischenstandspapier von 2014
Im weiteren Verlauf beschrieb das Papier die gemeinsame Arbeitsgrundlage der IL-Gruppen bis auf weiteres: Präsenz in den sozialen Kämpfen in Deutschland mit dem Ziel ihrer Radikalisierung; erklärter Wunsch, unterschiedliche linke Traditionen unter dem Dach der IL zu vereinen; Wirken in Bewegungen, ohne sie zu vereinnahmen; »strategische Bündnisorientierung«, also Zusammenarbeit mit anderen Teilen der gesellschaftlichen Linken, um Kräfteverhältnisse zu verschieben; das Ganze als außerparlamentarische Kraft, die sich antagonistisch zum Staat verhält. Das Mittel der Wahl seien »ungehorsame Massenaktionen«, etwa Blockaden von Naziaufmärschen oder Atommülltransporten, mit klaren und verbindlichen Verabredungen (»Aktionskonsens«), an denen sich viele Menschen beteiligen und kollektive Handlungsmacht erleben könnten.
In den Folgejahren bemühte sich die IL, diese Überlegungen in diversen Mobilisierungen in die Praxis umzusetzen, sei es im Rahmen vom Bündnis Dresden Nazifrei, bei den Blockupy-Protesten in Frankfurt gegen die EU-Sparpolitik, beim G20-Gipfel in Hamburg oder bei den Ende-Gelände-Aktionen gegen den Braunkohleabbau in der Lausitz.
Die Interventionistische Linke
Hervorgegangen ist die Interventionistische Linke aus einem »Beratungstreffen«, das sich seit 1999 in lockerer Abfolge traf, um über mögliche Auswege aus der Krise der radikalen Linken zu diskutieren. Einige Jahre später wurde das Treffen für linksradikale Gruppen geöffnet, es gab erste gemeinsame Mobilisierungen unter dem Namen Interventionistische Linke, etwa die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007. Bis 2014 nahm auch ak am IL-Prozess teil. Ab 2014 begann dann der Zusammenschluss zur bundesweiten Organisation. Seitdem ist die IL die größte Organisation aus dem postautonomen Spektrum. Sie beteiligt sich an bundesweiten Großaktionen; die Mitgliedsgruppen verfolgen aber auch eigene Aktivitäten vor Ort. Laut ihrer Website zählt die IL aktuell 29 Mitgliedsgruppen in 26 Orten. Im Laufe des letzten Jahres sind mehrere Gruppen ausgetreten. Kürzlich sorgte der Ausschluss und das Outing eines langjährigen Mitglieds der Kölner Ortsgruppe wegen sexualisierter Gewalt für Aufsehen. Als eine der wenigen linken Organisationen hat die IL einen Leitfaden zum Umgang mit sexueller Gewalt in den eigenen Reihen erarbeitet.
Die Autor*innen der Broschüre kritisieren nun, dass der gesellschaftliche Bruch mit dem Kapitalismus, den die IL in ihrem Zwischenstandspapier von 2014 anvisiert, in der politischen Praxis kaum noch eine Rolle spiele. Stattdessen seien die routinemäßigen Blockaden in reformistischer Langeweile erstarrt. »Der Ungehorsam ist inzwischen ritualisiert. (…) Den Rahmen dafür stellt ein linkes Regelwerk mit Aktionskonsens, für den auch die IL steht. Bestes Beispiel dafür ist Ende Gelände. Alles ist maximal kontrolliert. Wir sind darin ein Ordnungsfaktor, der Regeln setzt und verwaltet und letztlich zum Befrieden beiträgt. Zur Befriedung antagonistischer Konflikte gibt es die Zivilgesellschaft. Und wir sind inzwischen Teil dieser Zivilgesellschaft«, heißt es in einem in der Broschüre dokumentierten Text.
Unversöhnlichkeit vermisst
Dass der Widerspruch zwischen revolutionärem Anspruch und deprimierender Realität viel Stoff für Richtungsstreit birgt, ist bekannt. Klimawandel, Verarmung, neue internationale Konflikte, dazu die Frage nach der richtigen politischen Antwort auf die Corona-Pandemie – in den letzten Jahren haben sich die Herausforderungen vervielfacht; die Zeit, grundlegende Änderungen zu bewirken, bevor die Erderhitzung den Planeten in einen lebensfeindlichen Ort verwandelt, läuft ab. »Für uns wiegt besonders schwer, dass es keine Bereitschaft des Innehaltens und der eigenen Reflexion gibt. Nicht einfach weiterzumachen wie bisher, sondern Schritte zu wagen, die vielleicht ins Ungewisse führen oder zu weniger ›Output‹. Ein Eingeständnis der eigenen Schwäche, mit all seinen Konsequenzen, wäre für uns momentan wesentlich produktiver als ein ›was soll man sonst machen‹«, antworten die Autor*innen der IL-Kritik per Mail auf die Frage, warum einige von ihnen nicht mehr in der IL mitmachen wollen.
Dass sich die Linke in einer Phase der Neuorientierung befindet, würde vermutlich auch in der IL niemand bestreiten. »Es stimmt, die Welt verändert sich gerade in einem unglaublichen Tempo, und unsere Diskussionen können nicht mithalten«, gibt Greta von der Leipziger IL-Gruppe zu. »Der Krieg in der Ukraine hat uns zum Beispiel ziemlich unerwartet getroffen. Da gibt es kontroverse Debatten, es herrscht keine Einigkeit.« Gerade für eine bundesweite Organisation, in der unterschiedliche politische Auffassungen vertreten sind, wo der Großteil der praktischen Politik in den Ortsgruppen oder den themenbezogenen Arbeitsgruppen stattfindet, sei es nicht so leicht, schnell Antworten zu präsentieren, mit denen alle zufrieden sind. »Das ist natürlich frustig, ich hätte auch lieber schnell eine klare Analyse. Aber für mich ist es wertvoll, in einer großen Organisation zu sein, in der es unterschiedliche Positionen gibt, zwischen denen man eine möglichst produktive Diskussion hinkriegen muss. Demokratische Diskussionsprozesse brauchen Zeit, und dass wir uns die nehmen, finde ich richtig.«
Ich hätte auch gern schnell eine klare Analyse. Aber demokratische Diskussionsprozesse brauchen Zeit, und dass wir uns die nehmen, finde ich richtig.
Greta, IL Ortsgruppe Leipzig
Greta war die letzten Jahre in der AG Feministische Kämpfe und beim feministischen Streik aktiv, setzt dort aber momentan aus, weil sie die Erarbeitung ein neues »Zwischenstandspapiers« mitorganisiert. An dieser bundesweiten Diskussion, in die möglichst viele in der IL einbezogen werden sollen, gäbe es großes Interesse bei den Aktiven. Gleichwohl kann Greta die Kritik, dass der inhaltliche Austausch oft zu kurz komme, nachvollziehen. Es gebe zu wenig Raum dafür, kaum feste Orte in einer Organisation, deren Zusammenhalt vor allem über die Praxis entsteht. »Corona hat dabei auch nicht gerade geholfen. Viele Diskussionen fanden nur noch online statt, einige Arbeitsgruppen sind mehr oder weniger zum Erliegen gekommen. Über Zoom kannst du dich nicht gut über schwierige grundsätzliche Fragen verständigen, für gute Diskussionen brauchst du auch die Möglichkeit, danach noch miteinander weiterreden zu können. Ich habe das Gefühl, das fängt alles gerade erst wieder richtig an.«
Dass unterschiedliche Einschätzungen zum politischen Umgang mit der Pandemie ein weiterer Konfliktpunkt in der IL waren, ist ein Eindruck, den man auch beim Lesen der Broschüre gewinnt. Die IL hat bei ihren öffentlichen Aktionen in den letzten Jahren auf das Tragen von Masken und ausreichend Abstand geachtet; beim Ende-Gelände-Camp, das vom 9. bis 15. August 2022 in Hamburg stattfand und an dem die IL mitwirkte, konnte man nur teilnehmen, wenn man einen negativen Schnelltest gemacht hatte und geimpft war. Die IL-Kritiker*innen aus dem Kreis der Tagung wiederum benennen das Pandemie-Management als Katalysator für den »Versuch von Kapitalfraktionen, als Antwort auf stagnierende Wachstumsraten ein neues Akkumulationsregime auszubilden«.
Stabilisieren konkrete Forderungen den Status Quo?
Dabei könnte man sagen, dass die IL noch vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen ist. Während im Frühjahr 2020 viele linke Aktivitäten mindestens eine Weile auf Standby standen und diverse Gruppen seither von der Bildfläche verschwunden sind, gehören zwei Bewegungen mit starker IL-Beteiligung zu den wenigen politischen Lichtblicken: Ende Gelände, der wenn man so will radikalere Flügel der hiesigen Klimabewegung, der mehrfach Massenproteste in deutschen Kohlerevieren organisiert hat und nun auch gegen den Bezug von Flüssiggas protestiert, und die Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen, die in Berlin einen erfolgreichen Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne auf den Weg gebracht hat. Insbesondere das Mieter*innen-Organizing, aus dem die Enteignungsinitiative hervorging, und die während der Kampagne in Berlin gemachten Erfahrungen mit Haustürgesprächen und anderen Formen der direkten Kommunikation hätten auch andere IL-Ortsgruppen motiviert, berichtet Greta. »Viele haben gerade das Gefühl, dass wir mehr Basisarbeit machen und uns besser in den sozialen Kämpfen verankern müssen. Deutsche Wohnen enteignen ist dafür eine Inspiration.«
Für Andreas aus Münster ist die Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen gerade ein Beispiel für jene »anschlussfähigen Forderungen«, die er und seine Mitstreiter*innen kritisieren. »Sicher ist es richtig, wenn Immobilienkonzerne in Berlin und anderswo unter Druck geraten und sich der politische Horizont in der Mietenfrage nach links verschiebt«, sagt er. »Aber die Aufgabe einer linksradikalen Organisation wäre doch, in solche Initiativen von links zu intervenieren und beispielsweise die Eigentumsfrage überhaupt in den Vordergrund zu rücken. Konkrete Forderungen schließen an das Bestehende an und laufen immer Gefahr, auch wenn sie erfolgreich sind, den Status Quo zu stabilisieren.«
Die Frage nach konkreten Praxisbeispielen geht momentan am Problem antagonistischer Theorie und Praxis vorbei. Wer so fragt, hat immer schon eine Mitmach-Politik im Kopf.
Autor*innen der Broschüe zur Kritik an der IL
Ist das nicht ein sehr abstrakter Zugang? Beginnen soziale Kämpf nicht immer mit konkreten Fragen – gerade wenn die Zeiten härter werden? »Ja, das ist der gängige Einwand«, kontert Andreas. Ein Beispiel, dass es anders gehen kann, ist für ihn der Aufstand in Chile von 2019. Aus einem Protest gegen Fahrpreiserhöhungen wurde dort binnen kürzester Zeit ein Aufstand gegen das Leben im Neoliberalismus; inzwischen steht eine neue Verfassung zur Abstimmung. »In der Parole ›Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre‹ hat sich diese Unversöhnlichkeit gezeigt, nicht nur bei den Steine werfenden Aufständischen der Primera Línea, sondern auch bei denen, die mit Töpfen auf der Straße lärmen, Essen für alle in den Barrio-Küchen kochen oder Bildungskurse anbieten. Unsere Interventionen müssen die politische Fantasie anregen und auch ein kommunistisches Begehren angesichts der Zerstörung der Welt neu formulieren, nicht mit Einzelforderungen am Bestehenden herumwerkeln.«
Wie so ein »unversöhnlicher« Ansatz in der politischen Praxis aussehen könnte, scheint indes auch den IL-Kritiker*innen noch nicht ganz klar. »Schon die Frage nach konkreten Praxisbeispielen geht momentan am Problem antagonistischer Theorie und Praxis vorbei. Wer so nach unversöhnlicher Praxis fragt, hat immer schon eine Mitmach-Politik im Kopf«, lautet die Antwort der IL-Kritiker*innen. Bei den Revolten in Lateinamerika sei es auch nicht um Mitmachen und Anerkennungssucht gegangen, sondern – dabei beziehen sie sich auf den Aufstandstheoretiker Joshua Clover – um »Praktiken kollektiver sozialer Reproduktion in Camps und Besetzungen rund um die Riots«. Und weiter: »Was davon wie auf die Verhältnisse in der BRD übertragbar wäre, diskutieren wir weiterhin untereinander und mit Anderen. Und freuen uns, wenn eine Dynamik und Spontaneität entsteht, die unsere Diskussionen plötzlich mitreißt. Es geht uns nicht darum die Coolen und Lustigen zu sein, die fertige, smarte Antworten und Auftreten haben. Wir wollen Spielverderber sein.«
Was sich aus diesem Vorhaben entwickeln kann, wird möglicherweise schon der Herbst zeigen, wenn die Energiepreiserhöhungen voll durchschlagen und eine neue Runde sozialer Proteste ins Haus stehen könnte. In der IL laufen derzeit Diskussionen, wie in eine solche Situation von links interveniert werden könnte. Ob sich Gelegenheiten bieten werden, eine grundlegende Unzufriedenheit mit den Verhältnissen auszudrücken, werden wir bald erfahren.