Gestrandet im Niedriglohnsektor
Ukrainische Geflüchtete sind meist gut qualifiziert und landen dennoch vor allem in prekären Beschäftigungsverhältnissen
Von Stefan Dietl
Hans Peter Wollseifer ist hoch erfreut. »Aus der Ukraine kommen Menschen, die was draufhaben. Und die können wir gut gebrauchen«, so der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks. Grund für die Begeisterung des Handwerkspräsidenten sind die Maßnahmen der deutschen Bundesregierung zur Integration der Geflüchteten aus der Ukraine in den deutschen Arbeitsmarkt.
Die ersten Kriegsflüchtlinge hatten die Grenzen noch kaum überquert, da schuf die Ampelkoalition bereits die rechtlichen und politischen Voraussetzungen für die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft. Während Geflüchtete aus anderen Ländern wie Syrien, dem Irak oder Somalia oft monatelang auf die Feststellung ihres Asylstatus warten, den sie sich noch dazu häufig erst juristisch erstreiten müssen und teils über Jahre keine Arbeitsgenehmigung bekommen, erhalten Ukrainer*innen schnell und unbürokratisch Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt.
Rechtlicher Rahmen
Grundlage hierfür bietet eine bisher beispiellose Entscheidung der europäischen Regierungschefs, die sich – anders als 2015 – in Rekordgeschwindigkeit auf eine europaweite Regelung einigen konnten.
Der Rat der Europäischen Union setzte die mehr als 20 Jahre alte »Massenzustrom-Richtlinie« in Kraft. Geschaffen wurde diese bereits 2001 unter Eindruck des Jugoslawienkriegs. Die Richtlinie sollte es ermöglichen, künftig schneller auf große Fluchtbewegungen reagieren zu können. Angewandt wurde sie seitdem jedoch nie, auch nicht in Folge des Krieges in Syrien. Die Richtlinie ermöglicht es, Geflüchtete – jenseits des individuellen Asylverfahrens – kollektiv und europaweit aufzunehmen.
In Deutschland bekommen Ukrainer*innen auf Basis der Richtlinie eine Aufenthaltsgenehmigung nach §24 Aufenthaltsgesetz. Sie können außerdem visumsfrei in die EU einreisen. Anders als andere Geflüchtete können sie sich so frei in der gesamten Europäischen Union bewegen und weitgehend selbst entscheiden, wo sie sich niederlassen. Auf dieser Grundlage erhalten ukrainische Geflüchtete außerdem Zugang zu Sozialleistungen, zum Bildungssystem und eben auch zum Arbeitsmarkt. Dabei ist im Gegensatz zu anderen Asylsuchenden für die Arbeitsaufnahme keine Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit notwendig. Zudem haben Ukrainer*innen Anspruch auf die Unterstützung der Arbeitsagentur bei der Arbeitssuche und -vermittlung. In Kooperation mit der Deutschen Bahn etablierte die Bundesagentur für Arbeit sogar spezielle Jobberatungsstellen für ukrainische Geflüchtete an den Bahnhöfen Köln, Berlin und Frankfurt. Daneben wurde eine bundesweite Hotline eingerichtet, die auf ukrainisch und russisch Erstinformationen zu Themen wie der Jobvermittlung, Ausbildung oder der Anerkennung von Berufsabschlüssen und möglichen Deutsch-Kursen bietet.
In Kooperation mit der Deutschen Bahn etablierte die Bundesagentur für Arbeit sogar spezielle Jobberatungsstellen für ukrainische Geflüchtete an Bahnhöfen.
Durch die Visumsfreiheit und die Anwendung der Massenzustrom-Richtlinie haben Ukrainer*innen also gänzlich andere Voraussetzungen am Arbeitsmarkt als Geflüchtete aus anderen Ländern. Ein Vorgehen, das nicht nur Handwerkspräsident Wollseifer begrüßt. Zustimmung finden die Maßnahmen der Bundesregierung sowohl bei allen Wirtschaftsverbänden, als auch bei den Gewerkschaften. In einer gemeinsamen Stellungnahme rufen der DGB und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) dazu auf, möglichst schnell weitere Schritte zu ergreifen, um den Angekommenen den Weg in die Arbeitswelt zu erleichtern. »Die Unternehmen, Betriebs- und Personalräte stehen bereit, ihren Anteil zu tragen, diese Menschen aufzunehmen, aus- und fortzubilden und in den Arbeitsmarkt zu integrieren», heißt es außerdem in der gemeinsamen Erklärung.
Weniger als Hartz IV
Die Gewerkschaften befürchten jedoch auch, dass Unternehmen die Situation der Kriegsflüchtlinge zum Lohndumping nutzen. »Während der zurückliegenden Flüchtlingswellen hat sich gezeigt, dass Geflüchtete häufig in prekäre Arbeitsverhältnisse abgedrängt worden sind – zumeist wegen der Sprachbarriere oder auch wegen fehlender Qualifikationen und dergleichen«, kritisiert etwa ver.di- Vorsitzender Frank Werneke. Ein großes Risiko sieht Werneke in der von der Bundesregierung beschlossenen Anhebung der Verdienstgrenze bei Minijobs ab Oktober. Die prekären Beschäftigungsverhältnisse würden so massiv ausgeweitet – mit allen Nachteilen für die Betroffenen. »Das werden häufig auch Geflüchtete sein«, so Werneke. Der ehemalige DGB-Vorsitzende Rainer Hoffmann begrüßte im Interview mit der Funke Mediengruppe zwar den freien Arbeitsmarktzugang für Geflüchtete, warnt aber auch: »Auf der anderen Seite sehe ich schon die Schweinepriester, die Frauen unterhalb des Mindestlohns beschäftigen wollen. Das geht gar nicht.«
Die Sorgen der Gewerkschaften sind mehr als berechtigt. Schon heute arbeiten Ukrainer*innen hierzulande überproportional häufig in niedrigqualifizierten und schlecht bezahlten Bereichen, zum Beispiel in der häuslichen Pflege oder als Erntehelfer*innen. Zudem erhalten die Ankommenden Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. So bekommt eine alleinerziehende Mutter 367 Euro pro Monat – und damit deutlich weniger als die 449 Euro, die ihr als Hartz-IV-Empfängerin zustehen würden. Auch die Sätze für Kinder und Jugendliche liegen unter dem Niveau der Grundsicherung. Diese Kombination von geringen staatlichen Leistungen mit unbeschränktem Zugang zum Arbeitsmarkt steigert den Druck, jede verfügbare Arbeit anzunehmen.
Die Kombination von geringen staatlichen Leistungen mit unbeschränktem Zugang zum Arbeitsmarkt steigert den Druck, jede verfügbare Arbeit anzunehmen.
Eigentlich stünden die Voraussetzungen für ukrainische Arbeitskräfte auch in qualifizierten Tätigkeiten Fuß zu fassen gut. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) geht davon aus, dass etwa die Hälfte der in Deutschland angekommenen Ukrainer*innen über einen Hochschulabschluss verfügt und weitere 26 Prozent über einen höheren Schulabschluss. Zudem ist in der Ukraine wie auch in Deutschland der Anteil des Dienstleistungssektors am Arbeitsmarkt hoch. Viele der Ankommenden verfügen deshalb über eine gefragte Berufsqualifizierung in Bereichen, die seit Jahren einen Mangel an Fachkräften beklagen. IAB-Forscher Herbert Brücker spricht von einem »breiten Spektrum, von Erziehungs- und sozialen Berufen über technische Jobs bis zu kaufmännischen«.
Als Ärzt*in im Pflegeheim
Dennoch gehen Arbeitsmarktexpert*innen davon aus, dass die meisten ukrainischen Geflüchteten zunächst in Helfertätigkeiten im Niedriglohnsektor und in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen wie der Leiharbeit, Werkverträgen und Minijobs landen. Die Gründe dafür sind neben mangelnden Sprachkenntnissen, dass viele Ukrainer*innen aus hochqualifizierten Berufen stammen, zu denen hierzulande der Zugang stark reglementiert ist – wie Lehrer*in oder Erzieher*in – und sich für die Anerkennung ihrer Abschlüsse erst weiterbilden oder komplett neu ausbilden lassen müssen. Viele Geflüchtete »werden in Deutschland deshalb unter ihrer Qualifikation arbeiten«, so Brücker.
Tatsächlich sind bereits jetzt geflüchtete Frauen, die in der Ukraine als Ärztinnen tätig waren, als Pflegehelferinnen in Altenheimen im Einsatz. Gerade in der Pflege dürfte sich die Ausbeutung ukrainischer Arbeitskräfte durch Krieg und Flucht weiter verschärfen. Realität ist sie bereits seit Jahren. Insbesondere in der häuslichen Pflege spielen Pflegehelferinnen aus der Ukraine eine tragende Rolle. Als sogenannte Live Ins in der 24-Stunden-Pflege betreuen sie ihre Patient*innen beinahe rund um die Uhr unter katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen. Angeworben werden sie meist von speziellen Agenturen mit Sitz in Polen. Von diesen werden sie in deutsche Privathaushalte vermittelt. Ausbeutung, weitgehende Entrechtung, Arbeitszeit- und Lohnbetrug sind die Grundlagen des lukrativen Geschäfts der Agenturen. Während den Angehörigen mehrere tausend Euro monatlich in Rechnung gestellt werden, die in die Taschen der Agenturen fließen, werden die Betroffenen mit Hungerlöhnen abgespeist. (Siehe den Beitrag auf S. 15) Nachdem es aufgrund der prekären Bedingungen den Agenturen zuletzt immer schwerer fiel, Arbeitskräfte in Osteuropa anzuwerben, haben sie nun ein neues lukratives Geschäftsmodell für sich entdeckt: Die Vermittlung ukrainischer Kriegsflüchtlinge in die häusliche Pflege.