Keine Debatten-Charity
Warum eine Auseinandersetzung mit den Forderungen linker Aktivist*innen in der Ukraine Not tut
Von Nelli Tügel
Wir waren in der Ukraine, um dort mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die wir überall auf der Welt als Bezugspunkte sehen: Linke, Sozialist*innen, organisierte Arbeiter*innen, Anarchist*innen, Umweltbewegte, Feminist*innen. Das fehlte bislang. Doch geht es um viel mehr als »nur« darum, unmittelbar Betroffenen – das bedeutet in diesem Fall: Menschen, denen ein fürchterlicher Krieg aufgezwungen wurde – zuzuhören und ihnen hierzulande eine Stimme zu geben. Dass eine Verabsolutierung einer solchen Herangehensweise auch dazu führen kann, sich etwa zum Sprachrohr geschichtsrevisionistischer Lügen zu machen, bewies die taz, die am 9. Mai den Text einer oppositionellen russischen Journalistin verbreitete, in dem insinuiert wurde, nicht Nazi-Deutschland, sondern die Sowjetunion habe den Zweiten Weltkrieg zu verantworten.
Nicht jede*r oppositionelle*r Journalist*in aus einer Diktatur ist eine progressive Stimme, und nicht jede*r Linke auf der Welt stets im Recht. Eine der besseren Seiten der Internationalen unserer Geschichte war es ja gerade, auch in der scharfen Auseinandersetzung miteinander, zu verarbeiten, was auf der Welt geschieht, und daraus Politik abzuleiten. Ein Großteil der klassischen Texte des Sozialismus existieren nur deshalb. Immer dann, wenn eine solche Auseinandersetzung nicht mehr möglich war, waren die Internationalen am Ende.
Heute sind wir von wirklichen Auseinandersetzungen, die auch über Grenzen hinweg geführt werden, bis auf wenige Ausnahmen sehr weit entfernt. In den vergangenen Ausgaben haben wir das bereits versucht zu thematisieren; aber nicht zum ersten Mal: Als beispielsweise 2019/2020 in verschiedenen Teilen der Welt Aufstandsbewegungen eine Regierung nach der anderen zu Fall brachten, gab es hierzulande kaum das Bedürfnis, aus den dort gemachten Erfahrungen etwas zu lernen. Beim Ukraine-Krieg wird das noch deutlicher: Besonders diejenigen, die die globale Dimension dieser Ereignisse messerscharf als Kampf um Einflussspähren analysieren, scheinen sich für Subjekte kaum noch zu interessieren. Eine Analyse der Welt ohne Menschen aber kann keine Ansatzpunkte mehr für eigene Politik finden.
Ein ehrliches Interesse an denen, die mitten drin sind, ist indes nicht nur Voraussetzung für Politik, sondern auf für Solidarität, genauso wie für Kritik. Und zwar nicht als Gnadenerweis, als Debatten-Charity, sondern aus »Eigen«interesse; weil wir eine Neubestimmung des internationalistischen Grundanspruches der Linken brauchen, egal wo auf der Welt wir leben. Genau darum geht es. Nicht blind zu unterstützen, was Ähnlichgesinnte anderswo fordern, sondern sich damit eben: auseinanderzusetzen. So nimmt man nicht nur potenzielle Genoss*innen ernst, sondern auch sich selbst als Linke, die vielleicht doch noch etwas mehr möchte als die Wiederauflage der Sylter Chaostage.
Ohne direkten Kontakt, Kennenlernen, Miteinander reden, ohne Netzwerke, ohne die Positionen der anderen überhaupt zu kennen, wird dies niemals möglich sein, und deshalb haben wir die Einladung, an einer linken Delegationsreise in die Ukraine teilzunehmen, gerne angenommen. Indem wir die Einschätzungen und Positionen, die uns dort begegnet sind, weitertragen, machen wir sie uns nicht automatisch zu eigen. Aber wir können – in einem ersten Schritt – dazu beitragen, durch dieses Weitertragen den Boden zu bereiten, um auch die kontroverseren Fragen auf eine sinnvolle Art zu besprechen.
Und: Wir müssen uns nicht einig werden. Beispielsweise wäre es ja möglich, ohne Schaum vorm Mund einmal anzuerkennen, dass fast alle linken Kräfte in der Ukraine sich gegen den sie direkt bedrohenden russischen Imperialismus auch militärisch wehren wollen; aber aus guten Gründen abzulehnen, das Thema Waffenlieferungen zur Kernforderung von deutschen Linken zu machen. Es gibt dringende Themen, die – anders als beim Kriegsgerät, das ja derzeit ohnehin sehr viele Fürsprecher*innen hat – essenziell, aber öffentlich kaum beachtet sind: Etwa, dass freie Gewerkschaften in der Ukraine darin unterstützt werden sollten, humanitäre Hilfe zu leisten und gegen die Einschränkung von Arbeiter*innenrechten unter dem Kriegsrecht zu kämpfen. Oder dass es unbedingt einen Schuldenschnitt für die völlig überschuldete Ukraine braucht. Zumindest diese Forderungen dürften doch unstrittig sein.