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|Thema in ak 679: Wahnsinn

Das Geschäft mit dem Wahnsinn

Psychiatriekritik will viel mehr als psychiatrische Krankenhäuser schließen, sie denkt die Gesellschaft von Grund auf neu, sagen Aktivist*innen des DAMNMAD-Kollektivs

Interview: Bilke Schnibbe

Die Illustration zu diesem ak-Thema sind von Maik Banks.

Die Aktivistin Bonnie Burstow denkt Antipsychiatrie, Antikapitalismus und gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen zusammen – das Kollektiv DAMNMAD hat eines ihrer Bücher ins Deutsche übersetzt.

Ihr habt ein Buch von Bonnie Burstow übersetzt, einer kanadischen feministischen Psychotherapeutin, die sich für die Abschaffung der Psychiatrie als Institution und Wissenschaft eingesetzt hat. Wie kam es dazu?

Kim: Hui, das ist eine etwas verwickelte Geschichte. Ich bin Mitherausgeber:in von »Gegendiagnose«. Im zweiten Band hatte Clara einen Beitrag von Bonnie zu der Frage übersetzt, wie Aktivismus gegen Psychiatrie und gegen die Erweiterung der Psychiatrie ganz konkret aussehen kann. Und daraufhin entstand die Idee, ein Buch von ihr zu übersetzen, da Bonnie mit einem sehr reichen aktivistischen Erfahrungsschatz, aber auch akademisch und mit einem Ansatz, Zugänge zu schaffen, schreibt. Deshalb habe ich Clara auf den linken Buchtagen 2019 angesprochen, und dann ist das alles ins Rollen gekommen. Die meisten deutschen Veröffentlichungen sind sehr spezifisch oder führen szene-interne Debatten aus. Mit Szene meine ich in dem Fall die Antipsychiatrie-Bewegung. Und da war es gut, ein zusammenfassendes Buch zu veröffentlichen, das Leute mitnimmt von der Geschichte der Psychiatrie aus Perspektive der Antipsychiatrie über die Wirkungsweisen von Psychopharmaka, bis hin zur gesetzlichen Lage und der konkreten Frage: Wie kann Gesellschaft ohne Psychiatrie funktionieren? 

Clara: Für mich war es spannend, ein Antipsychiatrie-Buch zu übersetzen, weil ich mit der Antipsychiatrie-Bewegung vorher gar nicht so viel Kontakt hatte. Ich bin eher antifa-sozialisiert, habe aber gesehen, wie viel sich in dem Thema Antipsychiatrie vereint. Soziale und ökonomische Kämpfe im Gesundheitssystem und die Frage, wie wir uns aufeinander beziehen können, sind grundlegende linke Themen.

Antipsychiatrie war in den 1970er Jahren eine größere Bewegung. Da haben sich zum Beispiel auch linksliberale Psychiater*innen für Strukturreformen eingesetzt. Ist das als linkes Thema kleiner geworden?

Kim: Ich sehe das nicht so. Das Spezifische in Deutschland ist meiner Meinung nach, dass die Antipsychiatrie-Bewegung sehr nah an der linken Bewegung ist. Mir wird auch immer wieder international rückgemeldet, dass sich die US-amerikanischen und kanadischen Bewegungen freuen würden, wenn die Zusammenarbeit so eng wäre wie hier. Ich würde auch behaupten, dass das Thema in Deutschland, zumindest in Berlin, mehr Eingang in linke Debatten gefunden hat und bestimmte Diskussionen selbstverständlicher geworden sind.
2012 gab es eine große Zusammenarbeit zwischen verschiedenen queeren und feministischen Verbänden und dem AK Psychiatriekritik im Aktionsbündnis ALEX. Da ging es um die Frage, ob Alex, ein trans Mädchen, in die Psychiatrie eingewiesen werden soll. Aus diesem großen Bündnis heraus ist dann auch die Mad and Disability Pride Parade Berlin entstanden, die seitdem eine feste Instanz in Berlin ist. Und es haben sich nach langen Jahren der Arbeit des AK Psychiatriekritik auch in anderen Städten Gruppen gegründet. In Bremen gibt zum Beispiel eine, die sehr stark zur Forensik arbeitet, die psychiatrie-kritische Gruppe Bremen.
Ich würde außerdem sagen, dass die Linksradikale auch nicht immer das ist, was sie vor 15 Jahren war, und antipsychiatrische Themen heute nochmal anders aufgenommen werden als damals. Also, ich sehe jetzt nicht die Antifa mit einem antipsychiatrischen Banner im Front-Block laufen, das wird nicht passieren. Aber dass sich auch die linksradikale Bewegung mittlerweile ganz anders ausdifferenziert hat und Kämpfe rund um Ableismus und Normalität viel selbstverständlicher ausgefochten werden, das ist einfach Tatsache.

DAMNMAD

ist einem aktivistisch-künstlerisches Übersetzungskollektiv. DAMNMAD versucht in seiner Arbeit, die Balance zwischen Selbstausbeutung, Anspruch und Finanzierung zu halten.
Kim Wichera ist eine in Berlin lebende Künstler:in und Aktivist:in. Kim ist Mitbegründer:in des AK Psychiatriekritik und Mitherausgeber:in der Gegendiagnose-Buchreihe. Charlotte Pankalla ist Überlebende psychiatrischer Gewalt und antipsychiatrische Aktivistin. Clara Funk übersetzt aus Überzeugung linke Texte aus dem Englischen, sie lebt in Berlin und studiert Literaturwissenschaft.

Die Rolle von Medikamenten in der Pathologisierung und Kontrolle von als psychisch krank gelabelten Menschen ist ja ein zentrales antipsychiatrisches Thema. Ich habe mich gefragt, was ihr darüber denkt, dass es mit den psychologischen Psychotherapeut*innen in Deutschland eine Berufsgruppe gibt, die eigentlich keine Medikamente verschreibt und mit »netteren«, kommunikativen Mitteln arbeitet. Wie ist das aus antipsychiatrischer Sicht zu bewerten?

Kim: Antipsychiatrie nur als Institutionskritik zu verstehen, ist ein bisschen kurz gedacht. Die grundsätzliche Frage ist tatsächlich: Wie denken wir das Zusammenleben in einer Gesellschaft? Für mich geht es weniger darum, ob Medikamente oder Therapie hilfreich sind oder nicht. Wenn Leute da hingehen und sagen, das hilft: Super, sollen sie das machen. Das Perfide an dem Ganzen ist, dass du das Grundwissen von dir selbst und deinen Emotionen und wie du deine Mitmenschen unterstützt, abgibst und dass das Wissen im Laufe der Jahre und Jahrzehnte verlernt wird. Dieses Wissen sollten wir in die Communities zurückbringen.

Charlotte: Was mich persönlich stört, ist, dass du, auch um Psychotherapie machen zu können, eine Diagnose brauchst. Abgesehen davon arbeitet die Psychotherapie mit den gleichen Vorstellungen von psychischer Krankheit wie die Psychiatrie und stärkt so wiederum die Konstrukte, die die Psychiatrie aufrechterhalten. Bestimmt gibt es individuell auch Therapeut*innen, die das anders machen. Bonnie Burstow selbst bezeichnet sich ja auch als feministische Therapeutin. Das Problem bleibt trotzdem das gleiche Menschenbild, das auch in der Psychiatrie besteht. Und das stärkt, wie Kim gesagt hat, den Gedanken, dass die Verantwortung für Leid, für Anders sein, für Schwierigkeiten an Professionelle abgegeben werden muss.

Man kann nie über Psychiatrie reden, ohne von Dekolonisierung zu sprechen.

Kim Wichera

Was sind aus eurer Sicht Ansatzpunkte, um der utopischen, entpsychiatrisierten Gesellschaft näher zu kommen?

Kim: Schwierige Frage. Also, für mich selber hat sich da im letzten Jahr relativ viel verändert. Ich denke, wir stehen gerade an einem Wendepunkt. Das ist unter anderem an der offiziellen Position der WHO zu sehen, die das psychiatrische System sehr deutlich kritisiert hat, insbesondere aufgrund von Gewaltanwendung und Nicht-Wahrnehmung von Selbstbestimmung. Und dann gab es ein Übergabegespräch der neuen UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf physische und mentale Gesundheit, Dr. Tlaleng Mofokeng, die auch ganz klar gesagt hat, dass progressive Projekte im Bereich psychische Gesundheit ausgebaut werden müssen. Wie das Weglaufhaus in Berlin, an dem wir sehen, dass es anders geht. Daran sieht man meiner Meinung nach, dass das Gegeneinander-Kämpfen so nicht mehr funktioniert. Es braucht die Erkenntnis, dass Leute, die in einer Psychiatrie arbeiten, so sehr sie oftmals krass gewalt- und leidvoll agieren, eben auch in einem Rahmen arbeiten, in dem sie wenig Handlungsspielraum haben. Es braucht ein Gewinnen dieser Leute, um etwas Neues aufzubauen.
Gleichzeitig kann man nie über Psychiatrie reden, ohne von Dekolonisierung zu sprechen. Psychiatrie ist da ein Paradebeispiel, weil sie eigentlich noch im Prozess der Kolonialisierung nicht-westlicher Ländern steckt. Gleichzeitig gibt es bereits die ersten Kämpfe zur Dekolonisierung psychiatrischer Diskurse. Was da passiert, ist ganz klassisch: Der Westen schaut zum Beispiel auf ein afrikanisches Land und sagt: Das ist ja furchtbar! Die brauchen unbedingt unser Wissen und müssen Institutionen aufbauen, damit sie ein gescheites Gesundheitssystem haben! Sie bauen dann entsprechende Institutionen auf, behandeln Menschen, und ganz viel Wissen und Struktur, die die ganze Zeit schon da waren, aber natürlich aus so einer westlichen Arroganz heraus nicht gesehen wurden, gehen verloren.

Charlotte: Ich würde darauf gerne etwas entgegnen. Also, erstmal geht es in der antipsychiatrischen Kritik nicht darum zu sagen: Der »einzelne schlimme Mann« ist schuld, weil der hat schon wieder jemanden fixiert! Und, ja, die Menschen, die dort arbeiten, sind in extremen Abhängigkeiten, und ihnen wird beigebracht, dass es berechtigt und durch das Psych-KG (Psychisch-Kranken-Gesetz, Anm. d. Redaktion) legitimiert ist, anderen Menschen Gewalt anzutun. Ich denke aber schon, dass es in vielen Situationen einen Handlungsspielraum gibt, und wenn er noch so klein ist, wo sich Akteur*innen anders entscheiden könnten. Da wäre mein Anliegen, auch weiter darauf zu drängen, die Leute in die Verantwortung zu nehmen. Mein zweiter Punkt ist: Auch wenn durch die offiziellen Statements viel Veränderung in Gang kommt, reicht es mir trotzdem nicht, wenn die Psychiatrien »humaner« werden oder es »schöne Alternativen« gibt, wo wir dann alle an einem Tisch sitzen. Das würde für mich trotzdem nicht reichen … Nee, also ich will eigentlich schon immer noch die Abschaffung oder mindestens gleichwertige Alternativen.

Kim: Ich bin da auch ganz auf deiner Seite. Da ist noch viel Luft nach oben, dass die Menschen verstehen, dass sie durchaus auch anders handeln können. Gleichzeitig dürfen wir uns nicht vom System gegeneinander ausspielen lassen.

Psychiatrie Überwinden – Auswege aus dem Geschäft mit dem Wahnsinn

Das Buch Psychiatry and the business of madness: An ethical and epistemological accounting (2015) stellt umfassend die Arbeit der kanadischen Professorin, Therapeutin und Aktivistin Bonnie Burstow (1945-2020) dar. Durch kritische Analysen und eine institutionelle Ethnographie der Psychiatrie, die Beobachtungen, Interviews und insbesondere die Auswertung von Dokumentensammlungen einbezieht, zeigt sie die Wirkmächtigkeit von Sprache und geschriebenen Texten wie Diagnosekatalogen, Pflegeprotokollen oder auch Beipackzetteln im Geschäft mit dem Wahnsinn. Psychiatrie Überwinden – Auswege aus dem Geschäft mit dem Wahnsinn ist die deutsche Übersetzung von vier Kapiteln des Buches zur Geschichte der Psychiatrie, zur Wirkweise von Psychopharamaka und dem Entwurf einer Welt ohne Psychiatrie. Die Übersetzung der weiteren Kapitel zu psychiatrischen Texten, Zwangsmaßnahmen und Machtdynamiken in der Psychiatrie und Elektroschocks steht noch aus. Die Aktivistin Charlotte Pankalla schrieb das deutsche Vorwort.

Bonnie Burstow & DAMNMAD Kollektiv: Psychiatrie Überwinden – Auswege aus dem Geschäft mit dem Wahnsinn. edition assemblage, Münster 2021. 208 Seiten, 18 EUR.