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In linken Gruppen herrschen Individualismus und Produktivitätsnorm – wer nicht mehr mitkommt, fällt raus
Von Alex Klages
In fast jeder Politgruppe gibt es Menschen, denen es über längere Zeit psychisch nicht gut geht. Manchmal versuchen Einzelne, manchmal ganze Gruppen, zu unterstützen. Oft bekommt es niemand so richtig mit – die Kriselnden kommen irgendwann »einfach nicht mehr zum Plenum« und keine*r weiß, was mit den Fehlenden »eigentlich ist«.
Wie kommt es, dass Menschen in psychischen Krisen immer wieder aus linken Politkontexten aussteigen und nicht mehr wiederkommen wollen oder können, obwohl es den Anspruch gibt, dass Menschen nicht herausfallen sollen, weil sie nicht (mehr) »funktionieren«? Obwohl sich der Anspruch, emotionale und Care-Arbeit als politische Arbeit zu verstehen, immer weiter durchsetzt – zumindest theoretisch.
Die folgenden Überlegungen stammen einerseits aus meiner Perspektive als krisenerfahrene Person, andererseits aus der Erfahrung als Mitglied einer Unterstützungsgruppe für eine Freundin, die eine Krise erlebte – beides in selbstorganisierten, großstädtischen, vorwiegend weißen, (feministischen) linkspolitischen Zusammenhängen.
Das neoliberale Politarbeitsverhältnis
Ich erinnere mich noch gut, wie es sich anfühlte, im Krisen-Modus im Plenum zu sitzen. Dass es mir immer schwerer fiel, mich auf die besprochenen Inhalte zu konzentrieren, weil in mir so viel los war, was ich dort nicht besprechen konnte – zumindest nicht, ohne das Gefühl zu haben, damit komplett den Rahmen zu sprengen. Die Zeit in unseren Treffen war knapp und vor allem eines war betont wenig da: Kapazitäten.
Mit den Aufgaben, die ich trotz meiner Krise übernahm, kam ich immer schlechter hinterher. Keine anzunehmen erlaubte ich mir nicht – ich wollte die anderen nicht im Stich lassen. Die Kluft zwischen der Gestaltung unserer Treffen und dem, was ich brauchte, wurde immer größer. Auch wenn ich mir jede Woche aufs Neue vornahm hinzugehen, fing ich an zu fehlen. Ich hatte ständig ein schlechtes Gewissen. Bis ich irgendwann gar nicht mehr kam.
Wenn ich heute darüber nachdenke, entdecke ich in mir den Glaubenssatz, dass ich meine Mitgliedschaft in der Gruppe immer wieder durch produktive Beiträge legitimieren müsste. Dass es keinen Wert hätte, wenn ich einfach nur da säße und wenig oder gar nichts Sichtbares »beitragen« könnte.
Kapitalistisch-weiß geprägte Werte machen uns zu guten Mitarbeiter*innen, aber zu schlechten Revolutionär*innen.
Legitimation über sichtbaren »Output« findet nicht nur individuell, sondern auch auf Gruppenebene statt: Es ist erstaunlich, wie schnell linke Gruppen durch einen länger anhaltenden »Mangel« an Veranstaltungen und Aktionen zu verunsichern sind. Andersherum gibt es Gruppen, die bemerkenswert lange drum herum kommen, sich grundlegende Strategie- und Organisationsfragen zu stellen, indem sie immer »irgendwas Sinnvolles« machen.
Diese unausgesprochene Produktivitätsnorm in linken Gruppen setzt relativ einheitliche Kapazitäten und Lebensumstände der Aktivist*innen voraus. Es ist kein Platz dafür, dass Gruppenmitglieder dauerhaft nicht »funktionieren«.
Befeuert wird die Dynamik von einer Stimmung hoher Dringlichkeit bei gleichzeitig konstanter Überlastung. Der Druck entsteht nicht ausschließlich durch äußere Umstände – er steckt tief in unseren Gedanken- und Gefühlsstrukturen. Wir bringen ihn mit ins Plenum: Kapitalistisch-weiß geprägte Werte wie Individualismus und Leistungsdenken, Abwertung emotionaler Themen und Aufwertung von »Logik« machen uns – salopp gesagt – zu guten Mitarbeiter*innen, aber zu schlechten Revolutionär*innen.
Trotz Maßnahmen wie Konsensprinzip und »Emo-Runde« erinnern viele linke Gruppen an neoliberale Arbeitskontexte: Klar abgesteckte »Orga-Themen« werden priorisiert und weniger eingegrenzte, prozessorientierte, emotionale Themen nach hinten verschoben oder in private Beziehungen ausgelagert.
Ich erinnere mich (und schäme mich auch dafür), wie ich früher während der »Emo-Runde«, in der alle am Anfang des Plenums erzählten, wie es ihnen ging, genervt war. Besonders, wenn die »Befindlichkeiten« anderer viel Raum einnahmen und uns davon abhielten, mit dem »eigentlichen« Treffen zu beginnen. Mit der wirklichen Arbeit eben: Aktionen, Kampagnen, Veröffentlichungen.
Die Zweiteilung in gute Produktivität versus lästige Emotionalität führt dazu, dass sich das sowieso vorhandene Belastungserleben durch die Krise bei den Betroffenen, möglichen Unterstützer*innen und anderen Gruppenmitgliedern noch verstärkt. Auch wenn viele Linke nicht bewusst denken oder fordern würden, dass psychische Krisen in der Politgruppe nichts verloren haben, zeigt sich auch in unseren Gruppen die Privatisierung von Gefühlen und die damit zusammenhängende Individualisierung psychischer Probleme.
Ein Beispiel: Unterstützungsarbeit
Um zu verhindern, dass belastete Menschen alleine klarkommen und möglicherweise ins psychiatrische Hilfesystem müssen, werden manchmal Unterstützungsgruppen gegründet, um der kriselnden Person zu helfen. In linken Kontexten sind das oft Gruppen, die sich um Betroffene von sexualisierter Gewalt bilden.
Als Mitglied einer Unterstützungsgruppe war mein Alltag ein ständiger Balanceakt zwischen politisch aktiv sein, arbeiten, studieren und »nebenbei« Unterstützungsarbeit machen. Den anderen in der Gruppe ging es damals ähnlich. Trotz der neuen Aufgabe, eine Person in einer Krise zu begleiten, machten wir an anderen Stellen unseres Lebens kaum Abstriche – obwohl wir immer wieder betonten, wie wichtig und politisch diese neue Aufgabe sei. Wäre das anders gewesen, wenn sie nicht »nur« emotionale Unterstützung, sondern die Planung einer großen Aktion gewesen wäre? Vermutlich schon.
Die Krise unserer Freundin wollte einfach nicht aufhören. Es wurde immer anstrengender und überfordernder für uns, denn psychische Krisen kennen kein Plenumsende und kein Verschieben auf »nächste Woche«. Die Rollen als Freund*innen und Unterstützer*innen verschwammen. Warum hatten wir die Anforderungen eines Unterstützungsprozesses so unterschätzt?
Unterstützungsarbeit erscheint vielen wie ein erweitertes »Für-jemanden-da-sein«, womit die Aufgabe oft Freund*innen zufällt. Unterstützende und Betroffene unterschätzen oft die zeitlichen und emotionalen Ressourcen und das hohe Maß an langfristiger Verbindlichkeit, das für Krisenunterstützung notwendig ist. Von den Unterstützenden fordert die Arbeit eine gewisse psychische Stabilität, eine gute Selbsteinschätzung, einen reflektierten Umgang mit den eigenen Grenzen und möglicherweise eine Auseinandersetzung mit eigenen belastenden Erfahrungen. Unterstützende müssen sich darauf einlassen können, dass nicht absehbar ist, wie lange die Begleitung gebraucht wird.
Heute denke ich, dass wir diese Punkte unter anderem aufgrund unserer verinnerlichten Abwertung von Emotionen und Beziehungen übersahen. Die Fehleinschätzung (auf allen Seiten) bei gleichzeitig hohem moralischen Anspruch führt oft zu Überforderungen, es kommt zu Konflikten, unvermittelten Ausstiegen und dadurch zu zusätzlichen Belastungen für die Betroffenen. Insbesondere Betroffene von sexualisierter Gewalt erleben das als erschütternd: Die feministischen Freund*innen, mit denen so oft über die Bedeutung von Care-Arbeit und die Angründe sexualisierter Gewalt gesprochen habe, »lassen mich jetzt hängen«.
Angst und Fehler
Mitten in meiner Krise beschränkte sich mein Kontakt auf wenige Menschen. Ich konnte nicht mehr gut auf andere zugehen. Im Nachhinein habe ich gehört, dass Menschen zwar an mich gedacht, sich aber nicht gemeldet haben, weil sie nicht wussten, wie sie sich verhalten sollen. Weil sie Angst hatten, etwas Falsches zu sagen. Das kam mir bekannt vor: Was, wenn ich mein Gegenüber aus Versehen »triggere«? Wenn ich keinen guten Rat weiß? Was soll ich denn dann sagen?
Der Perfektionsanspruch an unsere politische Praxis führt dazu, dass wir glauben, alles durchdacht haben zu müssen, bevor wir uns trauen, überhaupt irgendetwas zu tun. Darunter liegt die Angst, abgestraft zu werden. Fehler sind Defizite. Fehler lösen Schuld- und Schamgefühle aus. Unser linkes Umfeld erscheint uns feindselig. So wird es schwer, auf Menschen zuzugehen, die Unsicherheiten bei uns auslösen (sei es durch psychische Krisenzustände oder durch eine gesellschaftliche Positionierung, die sich von unserer unterscheidet).
Selbstverständlich müssen wir uns in erster Linie selbst bilden und können nicht darauf setzen, dass Menschen, deren Perspektive wir nicht kennen, uns alle Antworten liefern. Dennoch: Unter ständiger Angst, etwas falsch zu machen, und ohne Raum für Fragen, Unsicherheiten und Austausch wird es schwerer, miteinander in Beziehung zu treten.
Wenn wir uns mit den patriarchal-kapitalistischen Mustern in unserem Denken, Fühlen, Handeln und Miteinander beschäftigen, können wir kollektive Umgangsweisen mit Leistungsdruck, der Abwertung von Emotionalität und unserem Umgang mit Fehlern finden, die uns dem näher bringen, wofür wir kämpfen. Denn zum Um-lernen, Um-denken, Um-organisieren und Ausprobieren brauchen wir einander. Für diese innere Arbeit braucht es Mut, Zeit und Geduld. Wir müssen akzeptieren, dass wir beim Ausprobieren Fehler machen und vielleicht auch verletzen und verletzt werden. Es braucht das Vertrauen, dass wir ehrlich versuchen, dass Letzteres nicht passiert.
Anmerkung
Eine längere Version des Artikels erscheint im August 2022 in dem Sammelband »Und dann Politisierung?! Momente, Prozesse, Reflexionen«, herausgegeben vom Kollektiv RTR Führungsproblem, bei edition assemblage.