Welche Wachstumskritiken sind emanzipatorisch?
Warum ein genauer Blick lohnt und was linke Projekte von Degrowth-Diskussionen lernen können
Von Andrea Vetter
Postwachstum ist doch reaktionär!«, tönt es aus der einen, »Kapitalismuskritik ohne Wachstumskritik ist doch 20. Jahrhundert!«, ruft es aus der anderen Ecke. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen Menschen, die Wachstumskritik betreiben, und solchen, die Kapitalismuskritik groß schreiben, nicht immer einfach. Doch wie meist, wenn zwei Pole gegeneinander in Position gebracht werden, lohnt es sich, differenzierter hinzuschauen. Denn Wachstumskritik gibt es nicht in der Einzahl, sondern es gibt sehr verschiedene Formen, von denen einige dezidiert kapitalismuskritisch sind. Und gleichzeitig kann eine zeitgemäße Kapitalismuskritik viel von diesen verschiedenen wachstumskritischen Gesellschaftskritiken lernen – und damit anschlussfähiger an diversere emanzipatorische Projekte und Bewegungen werden.
Für die Vision einer emanzipatorischen Postwachstumsgesellschaft lassen sich sieben verschiedene Formen von Wachstumskritik unterscheiden, die zusammengenommen ihre Basis bilden: 1. ökologische Kritik (weiteres Wirtschaftswachstum zerstört die Biosphäre des Planeten), 2. sozial-ökonomische Kritik (weiteres Wachstum führt nicht zu einem Zuwachs an Lebensqualität), 3. kulturelle Kritik (Wachstum führt zu Entfremdung und Sinnverlust), 4. Kapitalismuskritik (Wachstum basiert auf der Ausbeutung von Lohnarbeitenden), 5. feministische Kritik (Wachstum basiert auf ungerechten Geschlechterverhältnissen), 6. Industrialismuskritik (technische Infrastrukturen sind durch ihre Pfadabhängigkeiten selbst Wachstumstreiber), 7. Süd-Nord-Kritik (Wachstum basiert auf der Externalisierung von Kosten durch rassistische und (neo-)kolonialistische Strukturen). Anhand dieser Kritikformen lässt sich sehr gut zeigen, warum zum einen manche Formen von Wachstumskritik wenig emanzipatorisch sind und warum zum anderen bestimmte Strömungen der produktivistischen Linken die Realitäten des 21. Jahrhunderts nicht zur Kenntnis nehmen.
Verkürzte Wachstumskritik
Im deutschsprachigen Raum ist der Wirtschaftswissenschaftler Niko Paech einer der öffentlich am meisten wahrgenommenen Wachstumskritiker. Er lässt sich der politischen Richtung der suffizienzorientierten Wachstumskritik zuordnen. Paech schlägt vor, die weltumspannende Produktion für den Markt etwa um die Hälfte zu schrumpfen, unter anderem durch eine Lohnarbeitszeitverkürzung auf 20 Stunden pro Woche, während regionales Wirtschaften mit kurzen Wertschöpfungsketten und Selbstversorgung für den Eigenbedarf zunehmen sollen. Während er die ökologische Kritik der Notwendigkeit einer radikalen Senkung des globalen Ressourcenverbrauchs gut begründet und auch die kulturelle Kritik und die Industrialismuskritik überzeugend ausführt, fehlen bei Paech und anderen suffizienzorientierten Autor*innen Kapitalismus-, Süd-Nord- und die feministische Kritik.
Offensichtlich ist: Ein kapitalistisches Wirtschaftssystem bringt Wirtschaftswachstum hervor, und seine Institutionen – Unternehmen oder sozialstaatliche Institutionen – sind auf Wachstum angewiesen. Innerhalb kapitalistischer Marktstrukturen eine Wachstumsrücknahme durchzusetzen, wird eine Wirtschaftskrise mit Rezession, Überschuldung, Austeritätsprogrammen, Arbeitslosigkeit, Kürzung von Sozial- und Kulturausgaben usw. zur Folge haben. Eine emanzipatorische Postwachstumsgesellschaft muss darum eine postkapitalistische sein: Produktion, Reproduktion und gesellschaftliche Vermittlung müssen in anderen Institutionen eingebettet sein und anderen Logiken als der Tausch- und Profitlogik folgen. Postwachstum innerhalb der bestehenden Institutionen ist somit nicht zu haben, sondern erfordert ein Programm für einen grundlegenden Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft.
Eine emanzipatorische Postwachstumsgesellschaft muss postkapitalistisch sein.
Neben der suffizienzorientierten Strömung fehlt auch in der institutionenorientierten Strömung die Klarheit, dass Postwachstum Postkapitalismus bedeutet. Die Strömung findet sich vor allem innerhalb der Ökoforschungsinstitute und großer Umweltverbände. Die ökologische Kritik – und vor allem die Notwendigkeit der Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum – ist hier weniger konsequent argumentiert als bei Paech und anderen Suffizienzorientierten; ähnlich ist es mit der Industrialismuskritik. Dafür finden die sozial-ökonomische und die kulturelle Kritik breiten Raum, teilweise auch die feministische und Süd-Nord-Kritik.
Aus der fehlenden ausbuchstabierten Kapitalismuskritik ergibt sich ein Problem bei den Transformationsstrategien: Sie basieren auf einer starken Betonung von »Reallaboren« und sozialen und technischen Innovationen, die in Nischen entwickelt würden und dann durch ihr gutes Beispiel Gesellschaft und Wirtschaft transformieren würden. Dieses Diffussionsmodell von Veränderung ist aus Management-Diskursen übernommen, in denen beschrieben wird, wie sich technische und soziale »Innovationen« in einer Marktgesellschaft ausbreiten. Dieses Modell ist kaum geeignet, um komplexe gesellschaftliche Transformationsprozesse zu beschreiben, schon gar nicht eine Postwachstumstransformation, die gegen massive Interessen der Besitzenden durchgesetzt werden muss.
Zeitgleich mit Degrowth-Ansätzen wurden in der vergangenen Dekade auch linke Vorschläge für eine kommunistische Gesellschaft entworfen, die vor allem aufgrund der Potenziale digitaler Produktionsmittel dafür sorgen würde, dass, wenn diese Mittel nur vergesellschaftet würden, alle Menschen im Luxus leben könnten (Akzelerationismus, Roboter-Kommunismus etc.). Während diese Projekte zwar eine marxistisch geschulte Kapitalismuskritik vorweisen können, ignorieren sie jedoch weitgehend Erkenntnisse der ökologischen Kritik, der kulturellen, der Industrialismus- und der feministischen Kritik.
Zwar wird bisweilen vordergründig ökologische Kritik mitgedacht. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass es möglich ist, Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch voneinander zu entkoppeln. Eine Position, die auch allen öko-kapitalistischen Projekten zu eigen ist, wie dem Programm der Grünen, dem Green Deal der EU und dem grünen Wachstum von anderen internationalen Institutionen wie der OECD. Zahlreiche wissenschaftliche Studien kommen immer wieder zu dem Schluss, dass die Hoffnung auf eine solche Entkopplung so unwahrscheinlich ist, dass sie keine realistische Politikgrundlage bilden sollte – weder für ein kapitalistisches noch für ein kommunistisches Projekt.
Warum Degrowth doch wichtig ist
Die Postwachstumsdiskussionen mit ihrer gründlichen Analyse verschiedener Wachstumskritiken liefert daher wertvolle Anstöße für die Formulierung zeitgemäßer emanzipatorischer Projekte: Erstens existiert die Biosphärenkrise. Wir müssen sie in vollem Umfang zur Kenntnis nehmen. Entkopplung ist keine Möglichkeit, sondern ein Märchen. Und nicht »der Mensch« ist daran schuld, sondern die kapitalistische Produktions- und Gesellschaftsform. Hier treffen sich Postwachstumsdiskussion und Klimagerechtigkeitsbewegung. Die Verbindung von Ökologie- und Kapitalismuskritik spricht für Transformationsstrategien, die mit der Notwendigkeit von partiellen Brüchen argumentieren: der Abwicklung ganzer Wirtschaftssektoren und der grundlegenden Veränderung aller Produktionsweisen.
Zweitens: Die globale Gerechtigkeitskrise ungleicher materieller Verteilung ist keine Wachstumsfrage, sondern eine Verteilungsfrage. Im doppelten Sinne: Erstens ist der Nachkriegskonsens der frühindustrialisierten Staaten (»die Flut hebt alle Boote«) aufgekündigt: Zum einen nimmt die Ungleichheit trotz steigender Bruttoinlandsprodukte immer weiter zu. Zum anderen basierte der klassen- und schichtenübergreifende materielle Zugewinn im Globalen Norden nach 1945 immer auf imperialer Ausbeutung von Menschen und Natur anderswo (imperiale Lebensweise). Wir müssen die Verteilungsfrage also völlig anders angehen. Hier treffen sich Postwachstums- und dekoloniale und antirassistische Bewegungen. Für diese Verbindung von sozial-ökonomischer Wachstumskritik mit Industrialismus- und Süd-Nord-Kritik sind Transformationsstrategien wichtig, die für Veränderungen in bestehenden Institutionen und die Schaffung neuer Institutionen innerhalb rechtsstaatlicher Frames eintreten.
Und drittens ist Entfremdung ein Problem, Care-Arbeit ist lebensnotwendig. Freiheit und Verbundenheit sind beides Pole, die im menschlichen Leben wichtig sind. Materielle Güter alleine machen Menschen nicht glücklich, die kapitalistische Produktionsweise und die Imagination des Homo oeconomicus als alleinstehendes, stets rational agierendes autonomes Wesen machen Menschen krank. Daher geht es bei den kommenden Transformationen um das Recht auf Emanzipation und Einbettung gleichermaßen.
Hier treffen sich Postwachstums- und feministische Bewegungen: in der Betonung der Notwendigkeit anderer Beziehungsformen, queerer Banden, geteilter Sorgeverantwortung, Wahlverwandtschaften, Mikro-Ökonomien und Regionalentwicklung von unten. In dieser Verbindung von kultureller und feministischer Kritik rücken Transformationsstrategien in den Blick, die im Hier und Jetzt, bei Vorformen, Nischen, Keimen und Freiräumen oder in bestehenden informellen Kollektiven ansetzen.
Hinter diese in der vergangenen Dekade im Degrowth-Diskurs – in Kommunikation mit vielen anderen Bewegungen – klar herausgearbeiteten Einsichten sollte keine Utopie, kein Reformprojekt und kein emanzipatorischer Transformationsvorschlag der 2020er Jahre zurückfallen.