Abstimmen unter Tränen
Italiens Linke hat gelernt, dass verliert, wer regiert – doch wegen der Gefahr von rechts bleibt ein Dilemma
Von Jens Renner
Von schädlichen Auswirkungen des Regierens auch auf die Regierenden wollte Giulio Andreotti (1919-2013) nichts wissen. Sein Wahlspruch: »Die Macht verschleißt den, der sie nicht hat.« Der starke Mann der italienischen Christdemokratie (Democrazia Cristiana/DC) wusste, wovon er sprach: Sieben Mal war er Regierungschef, etliche Male Minister und immer wieder in politische Skandale verwickelt, ohne jemals rechtskräftig verurteilt zu werden. Verschlissen wurden die anderen, weniger Mächtigen.
Ein Blick auf die Jahrzehnte seit 1945 legt nahe, dass auch viele Kommunist*innen Andreottis Lebensmotto teilten, zumindest insgeheim. Nur von Dezember 1945 bis Mai 1947 war der Partito Comunista Italiano (PCI) Teil einer Koalitionsregierung unter Alcide De Gasperi (DC). Auf die Wahlniederlage des PCI 1948, im Bündnis mit den Sozialist*innen, folgten jahrzehntelange, letztlich erfolglose kommunistische Bemühungen, wieder mitzuregieren, gleichzeitig aber die Massen zu mobilisieren: »Partito di lotta e di governo« – Kampf- und Regierungspartei – wollte der PCI sein. Nach seinem Rekordergebnis von 34 Prozent bei den Parlamentswahlen 1976 schien das Ziel nahe. Sogar der »sorpasso« – das »Überholen« der DC, die auf 38 Prozent kam – war in Sichtweite. Es kam anders. Der von Enrico Berlinguer (1922–1984) durchgesetzte »historische Kompromiss« führte die einst revolutionäre Partei in dauerhafte Abhängigkeit, Ende der 1970er Jahre dann sogar in eine informelle »Koalition der nationalen Solidarität« mit der Christdemokratie. Begründet mit der Bedrohung durch den Terrorismus, richtete sie sich zugleich gegen linksradikale Bewegungen generell.
Mitregieren, tolerieren, opponieren
Belohnt wurde der PCI dafür nicht. Erst 1996 erhielten ehemalige Kommunist*innen Regierungsämter – fünf Jahre nach der Selbstauflösung des PCI. Die Minderheit, die sich der Auflösung widersetzte, formierte sich als Partei der kommunistischen Neugründung: Partito della Rifondazione Comunista (PRC). Regionale Wahlergebnisse bis zu zehn Prozent schienen dem Projekt recht zu geben. Das Problem der Regierungsbeteiligung allerdings stellte sich erneut, wenn auch auf ungewohnte Weise. Ursache dafür war Silvio Berlusconis Einstieg in die Politik und im März 1994 der triumphale Wahlsieg des von Berlusconi angeführten Rechtsblocks aus seiner Firmenpartei Forza Italia, der rassistischen Lega Nord und den Neofaschist*innen vom Movimento Sociale Italiano (MSI). Diese hatten ihre Partei schnell noch umbenannt in Alleanza Nazionale (AN); gleichwohl bedeutete ihre Aufnahme in Berlusconis Wahlbündnis und wenig später dann in die neue Regierung einen Tabubruch. Am Tag nach deren Vereidigung erschien die linke Tageszeitung Il Manifesto mit einer schwarzen Titelseite und der Headline »Governo Nero« – schwarze, faschistische Regierung.
Dagegen konnte man von links nicht einfach opponieren wie gegen eine beliebige bürgerliche Regierung. Vielmehr galt es, diese schnellstmöglich zu stürzen. Tatsächlich zerbrach das Rechtsbündnis schon nach wenigen Monaten – allerdings nur, weil die Lega Nord es aufkündigte. Die von einem Kabinett parteiloser Technokrat*innen moderierte Übergangszeit bis zu den Neuwahlen 1996 war knapp: Um ein rechtes Comeback zu verhindern, bastelte die Konkurrenz das Mitte-Links-Bündnis Ulivo unter dem ehemaligen Christdemokraten Romano Prodi. Der daran mitbeteiligte PRC verhalf Prodi zwar zur parlamentarischen Mehrheit, verzichtete aber auf Ministerposten: ein klassischer Fall von Tolerierungspolitik.
Es folgten Regierungskrisen, Vertrauensabstimmungen, linke Abspaltungen und Verratsgeschrei – spektakuläre Szenen in den Parlamentskammern mit einigem Unterhaltungswert. Für die Linke (im weiteren Sinne) auch heute noch lehrreich bleibt das variantenreiche Taktieren der Kräfte links der Sozialdemokratie, die sich heute Demokratische Partei (Partito Democratico/PD) nennt. Denn tatsächlich wurde von links einiges versucht, um rechte Wahlsiege zu verhindern, zugleich aber mit eigenem Profil sichtbar zu bleiben. Grob lassen sich drei Taktiken unterscheiden: mitregieren, tolerieren, opponieren.
Die Kommunist*innen wurden bei den Neuwahlen 2008 für ihre Politik des kleineren Übels brutal abgestraft.
Die verbindliche Teilnahme an einem Mitte-Links-Bündnis (Centrosinistra) war von Anfang an umstritten. Schon 1996, beim ersten Versuch dieser modernisierten Volksfrontpolitik, kritisierte Franco Turigliatto, Sprecher der linken Minderheit im PRC: »Um die Rückkehr der Rechten an die Regierung zu verhindern, unterstützt man die Regierung, die eine Politik betreibt, die die Rechten nur stärken kann.« Der 1994 gewählte PRC-Sekretär Fausto Bertinotti dagegen wollte durch die Unterstützung Prodis »die Regierungsachse nach links verschieben«. Der folgende Parteitag beschloss dann die »kritische Unterstützung« Prodis und gleichzeitig Massenmobilisierung, um dessen Regierung unter Druck zu setzen.
Rechenoperationen statt sozialer Dynamiken
Erfolgreich war das nicht, und 2001 lehnte auch Bertinotti die Neuauflage eines Mitte-Links-Bündnisses ab: »Warum begreifen die Führer des Centrosinistra nicht, dass Rechenoperationen keine sozialen Dynamiken auslösen? Sie verstehen nicht, dass gerade das Centrosinistra für den Aufstieg der Rechten mitverantwortlich ist.« Die gewannen dann auch im Mai 2001 die Wahl und machten wenig später mit dem Staatsterror von Genua deutlich, welcher Wind jetzt in Italien wehte. Nicht zuletzt diese Erfahrung und die folgenden fünf Jahre Rechtsregierung erhöhten den Druck auf die gesamte Opposition, ihre Kräfte zu bündeln. So kam 2006 die Bündnisliste Unione zustande, die – wenn auch mit hauchdünner Mehrheit – die Wahl gewann. Diesmal machten auch der PRC und die 1998 abgespaltenen Comunisti Italiani mit. In der neuen Regierung Prodi II waren sie mit einem Minister sowie einer Vizeministerin und einem Vizeminister vertreten.
Nennenswerte Spuren hinterließen die kommunistischen Regierenden nicht. Ihre Parlamentarier*innen wurden lediglich als Mehrheitsbeschaffer*innen gebraucht. Mehrfach und unter Tränen stimmten linke Abgeordnete und Senator*innen gegen ihre Überzeugung oder blieben entscheidenden Abstimmungen fern, um die Regierungsmehrheit nicht zu gefährden. Wichtigster Streitpunkt war die Präsenz italienischer Truppen in Afghanistan – deren Abzug war eine linke Kernforderung, die nun der Koalitionsräson geopfert wurde.
Zwar waren es Abtrünnige aus der christdemokratischen »Mitte«, die die Regierung Prodi II schon nach zwei Jahren zu Fall brachten. Die bündnistreuen Kommunist*innen aber wurden bei den Neuwahlen 2008 für ihre Politik zugunsten des »kleineren Übels« brutal abgestraft: Die auf die Schnelle zusammengezimmerte Liste La Sinistra l’Arcobaleno (Regenbogenlinke) scheiterte mit nur 3,1 Prozent an der Vier-Prozent-Hürde. Erstmals in der Geschichte der italienischen Republik gab es in den beiden Parlamentskammern keine kommunistischen Mandatsträger*innen mehr – ein historischer Tiefpunkt. Wer regiert, verliert – war das die Lehre, welche die Linke aus dem Scheitern zu ziehen hatte? Dafür spricht einiges. Allerdings: Hätte sich die Linke dem Bündnis mit der demokratischen Mitte verweigert, hätte der Rechtsblock schon zwei Jahre früher die Wahlen gewonnen, während die dafür zumindest mitverantwortlichen Linken mit massiven Stimmenverlusten hätten bezahlen müssen.
Antifaschistische Einheitsfront ohne Ministerposten
Leider ist das hier im Konjunktiv erörterte Problem aktuell geblieben – und für die italienische Linke kaum lösbar. Denn der Rechtsblock liegt in Umfragen konstant bei etwa 48 Prozent. Anders als vor 20 Jahren heißt sein Anführer nicht mehr Silvio Berlusconi, auf dessen Opportunismus stets Verlass war. Vielmehr streiten sich derzeit zwei Figuren um die Führung, mit denen ein neuer Faschismus Gestalt annehmen könnte: Matteo Salvini von der Lega und Giorgia Meloni, der Shooting Star der postfaschistischen Fratelli d’Italia, der einzigen Partei in Opposition zu Mario Draghis extrabreiter Koalition.
In einigen Umfragen liegt Meloni vor Salvini. Die italienische Rechte sieht sie in einer Art Endkampf gegen den wachsenden Niedergang der Nation, an dessen Ende die von den »Patrioten« erstrittene nationale Wiedergeburt stehen und die Politik sich an der ultra-reaktionären Formel »Gott, Vaterland, Familie« ausrichten soll. Auch alte Kämpfer von Mussolinis Sozialrepublik gehören zu Melonis Idolen, allen voran Giorgio Almirante (1914-1988), 1944 Kabinettschef im Propagandaministerium, erklärter Rassist und Antisemit, 1946 Mitgründer des MSI und lebenslang Bewunderer von Militärdiktaturen.
An der gegen diese Bedrohung aufzubauenden antifaschistischen Einheitsfront wird sich auch die radikale Linke beteiligen müssen. Mitregieren muss sie deshalb nicht. Aber auch die Tolerierung einer anti-rechten Koalitionsregierung löst das Dilemma nicht, wenn das Überleben dieser Regierung auf dem Spiel steht. In diesem Fall wird Politik dann eben doch zur »Rechenoperation« (Bertinotti). Wer sich darauf einlässt, wird dann mitstimmen – mit zusammengebissenen Zähnen oder mit Tränen.