500 Mal im Jahr
Ein Fall in Frankfurt zeigt, wie Zwangsräumungen verhindert werden können
Von Philipp Leserer und Phuong Thanh Tran
Frankfurt am Main ist nach München die Stadt mit den höchsten Mietpreisen in Deutschland; die Wohnraumfrage nimmt daher in der Mainmetropole eine zentrale Rolle ein. Für viele Menschen bis weit in die Mittelschicht hinein wird es zu einem existenziellen Problem, eine bezahlbare Wohnung in Innenstadtnähe zu finden. Verwahrlosung und Modernisierung, Leerstand und Luxusneubau, Entmietung und Aufwertung – der Markt fungiert nach dem Prinzip: Wer es sich nicht leisten kann, muss die Stadt verlassen. Für viele Menschen, die von Mieterhöhungen betroffen sind oder aus anderen Gründen ihre Wohnung verlassen müssen, bedeutet dies faktisch die Verdrängung aus der Stadt und aus ihrem sozialen Umfeld. Im schlimmsten Fall droht die Wohnungslosigkeit. Zwangsräumungen als sichtbarste Form der Verdrängung illustrieren die Rücksichtslosigkeit eines Wohnungsmarktes, der den Interessen von Menschen mit wenig Einkommen keinen Raum gibt.
In Frankfurt wird jährlich fast 500 Mal zwangsgeräumt. Das entspricht mehr als einer Räumung pro Tag. Von diesen 500 Räumungen entfallen ca. 100 auf die städtische ABG-Holding. Die ABG ist eine zu hundert Prozent städtische Wohnungsbaugesellschaft und macht mit insgesamt 54.000 Wohnungen knapp 14 Prozent des Frankfurter Wohnungsbestandes aus. Sie positioniert sich öffentlichkeitswirksam gern als »Garant für bezahlbare Mietwohnungen«, agiert jedoch wie andere private Wohnungskonzerne gewinnorientiert. Selbst im Corona-Winter sprach sie trotz anderslautender Versprechen Zwangsräumungen aus.
Jede Zwangsräumung bedeutet den Entzug einer wesentlichen Lebensgrundlage von Menschen, oftmals von ohnehin marginalisierten. Zwangsräumungen zeigen wie durch ein Brennglas das Problem am profitorientierten Wohnungsmarkt: den Mangel an bezahlbarem und würdigem Wohnraum für alle Einkommensschichten.
Das Beispiel der Familie Taouil
Familie Taouil sollte Ende 2020 ihre ABG-Sozialwohnung verlassen. Grund für die Kündigung durch die Wohnungsbaugesellschaft war ein bereits neun Jahre andauernder Rechtsstreit wegen Schimmel. Die Familie wandte sich mit einem Hilfeaufruf an die Öffentlichkeit, woraufhin der Kontakt mit der Initiative Eine Stadt für Alle! zustande kam. Eine erste Pressemitteilung wurde versendet. Mit Unterstützung der Hilfen zur Wohnungssicherung, die sich bei drohenden Wohnungsverlust einschaltet, wurde der Zwangsräumungstermin um ein halbes Jahr auf den 30. Juni dieses Jahres verschoben. Eine sechsköpfige Familie mitten im Corona-Winter zu räumen war selbst der ABG zu heikel. In der Zwischenzeit wurden aufgelaufene Mietschulden beglichen und der Schimmel beseitigt. Trotz der Niederlage vor Gericht in drei Instanzen bestand die ABG-Holding bis zuletzt auf die Räumung. Das ist reine Einschüchterungstaktik. Ihr drohten Obdachlosigkeit oder die Unterbringung in einer Notunterkunft.
Selbst im Corona-Winter sprach die städtische ABG-Holding trotz anderslautender Versprechen Zwangsräumungen aus.
Dieses Schicksal konnte abgewendet werden. Allerdings musste die Familie Taouil nun einer monatlichen Wohnungsbegehung zur Feststellung von Schimmel zustimmen, was eine erneute Schikane darstellt. Zudem wurde sie über Wochen nicht schriftlich darüber informiert, dass sie vorerst in ihrer Wohnung bleiben kann.
Ohne Druck von unten wäre die Zwangsräumung nicht verhindert worden. Es gab eine Solidaritätsaktion vor der konstituierenden Stadtverordnetenversammlung mit der neuen Regierung aus SPD, Grüne, FDP und Volt, eine von der Nachbarschaftsinitiative Nordend-Bornheim-Ostend organisierte Kundgebung mit ca. 100 Teilnehmenden, und am 8. Juli thematisierten Aktivist*innen von Eine Stadt für Alle! die Zwangsräumung der Familie Taouil in der letzten Sitzung des Ortsbeirats im Nordend. Immer wieder wurde das Thema im öffentlichen Raum und in parlamentarischen Debatten in enger Zusammenarbeit mit der betroffenen Familie eingebracht.
Die Lehren aus der verhinderten Zwangsräumung
Was können Frankfurter stadtpolitische Initiativen aus der verhinderten Zwangsräumung der Taouils lernen? Trotz hunderter Zwangsräumungen jährlich war diese die erste, die breit öffentlich diskutiert wurde. Die Erkenntnis aus dem Beispiel ist: Obwohl so viel abseits der Öffentlichkeit zwangsgeräumt wird, sind Interventionen möglich. Im Gegensatz zu Städten wie Berlin oder Bremen, in denen das Thema seit Jahren aufgegriffen wird, stellen sich in Frankfurt folgende Fragen: Wie kann das Thema weiter zugespitzt werden und wie lassen sich wirksame Strategien entwickeln?
Erstens besteht das Problem, Kontakt mit den betroffenen Personen aufzunehmen. Es braucht einen Austausch zu den Mieter*innen in den Stadtteilen. Hierfür gibt es in Frankfurt bereits konkrete Ansatzpunkte mit Stadtteilgruppen, sozialen Zentren, Hausprojekten, Mieter*inneninitiativen usw. Des Weiteren ist ein engerer Kontakt zwischen den Initiativen und Projekten notwendig, um sich zu unterstützen und Erfahrungen auszutauschen. Nur so kann gemeinsam Druck aufgebaut und können praktisch Unterstützungsangebote bei Zwangsräumungen kommuniziert werden. Damit einher geht auch: Wir müssen transparent machen, dass wir Zwangsräumungen begleiten und zu verhindern suchen. In den Stadtteilen und darüber hinaus muss sichtbar gemacht werden, dass verschiedene Initiativen ansprechbar sind, um bei Zwangsräumungen zu intervenieren.
Offensivere Konfrontationen
Der zweite Punkt sind Solidaritätsaktionen mit den Betroffenen von Zwangsräumungen. Im Fall der Familie Taouil konnte die Kombination aus Öffentlichkeitsarbeit, Kundgebungen und Zusammenarbeit mit anderen Initiativen und Akteur*innen die Zwangsräumung verhindern. Bedeutungslose Appelle hätten nicht ausgereicht. Für die Skandalisierung des Falls war hilfreich, dass der Zwangsräumung ein konkretes Gesicht gegeben wurde: eine sechsköpfige, migrantisierte Familie mit geringem Einkommen und einem Vater mit Schwerbehinderung. Zudem hat die Familie die Konfrontation mit der ABG nicht gescheut und damit den Grundstein für die Verhinderung der Zwangsräumung gelegt. Wenn alle öffentlichkeitswirksamen Mittel ausgeschöpft sind, sollten, sofern das von den Betroffenen gewünscht ist, auch offensivere Mittel der direkten Verhinderung angewendet werden. Die Botschaft ist dann klar: Alle Zwangsräumungen sind unverhältnismäßig.
Natürlich können Vermieter*innen davor zurückschrecken, eine offensivere Konfrontation einzugehen. Ob eine Zwangsräumung erfolgreich verhindert werden kann, hängt jedoch stark von den politischen Kräfteverhältnissen ab. Das vergleichsweise defensive Vorgehen der Stadt und der ABG ist ohne die Umbrüche in der Stadtregierung kaum erklärbar. Die politischen Entscheidungsträger*innen in Frankfurt wollten schlichtweg negative Schlagzeilen in Verbindung mit der neuen Koalition verhindern.
Drittens: Die Diskussion muss sich auf das generelle Problem von Zwangsräumungen richten. Die Forderung muss die Abschaffung von Zwangsräumungen sein. Um dies zu erreichen, müssen Zwangsräumungen mit Problemen der Verdrängung und der unsozialen Wohnraumversorgung thematisch verknüpft und eigenen Forderungen Nachdruck verliehen werden. Forderungen wie z.B., dass die städtische ABG mehr sozialen Wohnungsbau bereitstellt und weniger gewinnorientiert handelt, wie es der Mietentscheid Frankfurt (ak 647) fordert, oder die Vergesellschaftung von finanzialisierten Wohnungskonzernen, wie es gerade die Initiative Deutsche Wohnen und Co. Enteignen in Berlin versucht. Nur ein grundlegender Wechsel in der Wohnraumpolitik, u.a. die Überführung des privaten Wohnungsbestandes in öffentliche Hand inklusive Demokratisierung der Strukturen, schützt vor Zwangsräumungen und Verdrängung.
Das Thema Zwangsräumungen bietet in Frankfurt die Möglichkeit, direkte Solidarität mit den Betroffenen, also konkrete Klassenpolitik, mit der Zuspitzung wohnungspolitischer Fragen zu verbinden. Der Fall der Familie Taouil war hoffentlich erst der Beginn.