»Wir wollen den Tisch umwerfen«
Fridays-for-Future-Aktivist*innen über Neuorientierungen vor der Klimawahl, die Gefahr der Parlamentarisierung und zivilen Ungehorsam
Interview: Hannah Eberle
Zwei Strategieprozesse liegen hinter der Klimagerechtigkeitsbewegung Fridays for Future. Nicht nur die Auseinandersetzung um die Orientierung auf die Bundestagswahl, sondern die Frage nach Organisierung und Einbindung der Basis sind Knackpunkte, auf die noch keine abschließenden Antworten gefunden wurden. Viele der Fridays-for-Future-Aktivist*innen sind seit zwei Jahren dabei, haben mittlerweile die Schule hinter sich gelassen und orientieren sich auch politisch in neue Richtungen.
Peter, du bist über Migrantifa for Future zweimal als Delegierter ins Strategieteam gewählt worden und ordnest dich selbst einem eher linksradikalen Flügel zu. Wie beurteilst du die Strategieprozesse?
Line, du bist eine der bundesweiten Pressesprecherinnen – wie bewertest du die Prozesse?
Peter Odrich: Mitten im Corona-Loch wurde klar: Wir müssen eine Perspektive aufzeigen, wie wir über 2021 hinaus denken können. Es gab dann einen ersten Strategieprozess. Beteiligt waren Personen von den unterschiedlichen politischen Flügeln. Die Idee war, erst einmal gemeinsam zu analysieren, dann eine Strategie zu verfassen und einen Kompromiss zu finden. Am Ende wurde ein Papier vorgelegt, aber der Prozess verlief im Sande und endete im Januar ohne bindende Ergebnisse. Neben Prozessfehlern lag das auch daran, dass bundesweite Machtstrukturen nicht wirklich Interesse an einer basisdemokratischen Abstimmung hatten. Der ausgehandelte Kompromiss war für die damaligen und heutigen Verhältnisse wohl zu radikal. Ab März startete dann ein nächster Prozess mit dem Ziel, eine verbindliche Strategie zu entwickeln. Im Mai wurden dazu zwei weitere Papiere vorgelegt. Es wurde festgelegt, dass zwei Drittel der Plätze im Strategieteam tatsächlich von den Arbeitsgruppen bundesweit besetzt werden und ein Drittel anonym von den bereits Delegierten gewählt wird. Von der Zusammensetzung ergab sich ein ähnliches Bild. Jetzt liegen zwei ausgearbeitete Strategieentwürfe vor, die zurzeit in den Ortsgruppen final abgestimmt werden.
Line Niedeggen: Klar ist, wir müssen an Strukturen ansetzen und die Basis stärken. Die Ortsgruppen müssen mehr unterstützt werden. Wir reden nicht mehr nur übers Klima, sondern über Gerechtigkeit und Themen wie Antirassismus. Da die Entwürfe noch abgestimmt werden, will ich sie nicht bewerten, aber es gibt unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten, und wir wollen uns nicht von den medialen Debatten aufreiben lassen.
Die Gesprächspartner*innen
Tristan Linsmayer ist seit Anfang 2019 bei FFF Mannheim aktiv und zugleich in der IL Rhein-Neckar organisiert. Line Niedeggen ist seit 2019 bei FFF Heidelberg aktiv und eine der Pressesprecherinnen der bundesweiten Presse-AG. Sie studiert Physik. Peter Odrich war lange bei FFF in Frankfurt am Main. Er hat während Corona sein Abitur gemacht, studiert jetzt Jura in Köln und war an den bundesweiten Strategieprozessen beteiligt. Mila Vitsikounakis ist seit 2019 bei FFF in Mannheim aktiv und außerdem organisiert bei akut+c/der IL Heidelberg. Sie studiert Politische Ökonomik und Altgriechisch.
Mir war gar nicht klar, in welcher Professionalität FFF mittlerweile organisiert ist. Wohin entwickelt sich denn FFF – ist das ein Organisierungsprozess, den ihr hier startet?
Peter: Sehr viel Macht liegt bei den bundesweiten Arbeitsgruppen, die ihre eigene Struktur haben. Häufig treffen sie die Entscheidungen. Die Idee des Strategieprozesses war es, dem eine basisdemokratische Perspektive entgegenzustellen. Ich weiß nicht, ob ich das als Organisierung bezeichnen würde. Ich glaube, die primäre Rolle von FFF bleibt es, eine Schnittstelle zwischen linksliberalem Mainstream und linksradikaler Organisierung zu sein.
Tristan Linsmayer: Ich glaube schon, dass FFF in den letzten anderthalb Jahren eine Organisation geworden ist. In der lokalen Arbeit machen wir die Arbeit einer Politgruppe. In der Bewegungsphase mit den vielen Menschen auf der Straße haben wir kein Organizing gemacht. Es gab nur kleine Gruppen und riesige Mobilisierungen. Dann sind wir an einem Punkt angelangt, wo das nicht mehr funktionierte. Aktuell machen wir mehr Kampagnenpolitik mit begrenzter Mobilisierung. Zentral ist es, wieder zum Moment der Bewegung zu kommen, zu FFF in der Anfangszeit. Da war ich noch an der Schule und FFF wurde im Alltag thematisiert.
Peter: Aus einer Organizing-Perspektive geht es auch darum, jetzt eine zweite Generation an Menschen einzubinden. Durch die Pandemie ist die Generationen- und auch die Klassenfrage gestellt worden. Einfach, weil es viele Probleme während der Pandemie in der Schule gab. Auch deshalb müssen wir an die Schulen zurück und uns dort organisieren.
Line: Die Aufgabe ist es weiterhin, gesellschaftliche Kritik an Politik oder Unternehmen auf die Straße zu tragen. Und zu zeigen, Politik machen bedeutet nicht, in eine Partei zu gehen. Wir haben ja auch schon mehr bewirkt, auch wenn die Grünen das anders sehen. Unser Fokus wird deshalb auch weiter auf dem globalen Protest liegen. Uns ist aber bewusster geworden, dass wir dafür Supportstrukturen brauchen und überlegen müssen, wie die Menschen mitmachen.
Darf man noch Klimawahl sagen, oder ist der Begriff bereits Wahlkampf für die Grünen?
Mila Vitsikounakis
In welchem Verhältnis seht ihr euch zu anderen linken und linksradikalen Bewegungen und Gruppen, wie beispielsweise der Interventionistischen Linken (IL), in der zwei von euch ja schon gelandet sind?
Tristan: Das lässt sich mit einer Scharnierfunktion vergleichen. Jetzt hat das Scharnier zwei Klappen. Auf der einen Seite FFF und auf der anderen die IL. Als FFF bringen wir die Leute auch dazu, zu Regelübertritt und zivilem Ungehorsam bereit zu sein.
Peter: Der Grundgedanke ist vielleicht ähnlich, aber wir sind jugendlicher, offener und anschlussfähiger und haben bewusst keine Szeneperspektive.
Mila Vitsikounakis: Bei FFF ist es schön zu wissen, dass man gesellschaftlichen Rückhalt hat. Wenn man eine Demo organisiert, zum Beispiel 2019 in Mannheim, kamen da 10.000 Menschen zum Klimastreik. In der IL hingegen kann man besser linksradikale Positionen ausleben und dazulernen. Das kann dann auch in FFF übermittelt werden, das Interventionistische und die Organisierungserfahrung.
Stichwort ziviler Ungehorsam – kein leichtes Thema bei FFF, nicht wahr?
Line: Wir diskutieren diese Frage seit zwei Jahren, aber mittlerweile haben wir schon offen zu Ende Gelände-Aktionen mobilisiert. Proteste rund um den Dannenröder oder den Hambacher Forst haben gezeigt, dass sich die Klimagerechtigkeitsbewegung an dieser Frage nicht spalten lässt. Und lokal passiert auch mehr von FFF oder assoziierten Gruppen wie den Anti Kohle Kidz, die ein niedrigeres Level haben.
Tristan: Parallel dazu gibt es die Entwicklung hin zu autonomeren Aktionsformen, die zwar nicht von Ortsgruppen, aber von Menschen aus FFF getragen werden – zum Beispiel Wald- und Baumbesetzungen. Das ist auch Ausdruck dessen, dass viele unzufrieden mit den FFF-Strukturen sind. Insgesamt gibt es eine Entwicklung in Richtung ziviler Ungehorsam.
Peter: Diese Parallelität sehe ich auch, und es wäre wichtig, dem etwas entgegenzusetzen: alle einzubinden in die Strukturen mit dem Ziel, den zivilen Ungehorsam gesellschaftsfähig zu machen. In Frankfurt machen wir seit 2019 Aktionen zivilen Ungehorsams mit mehr als 10.000 Leuten. Das ist zwar nicht besonders High Level, nimmt aber die Leute mit. Bundesweit gibt es davor geradezu eine Phobie. Es wird argumentiert, wir stünden dann in der linksradikale Ecke und würden in bürgerlichen Milieus Rückhalt und Support verlieren.
Wie passt hier das Narrativ der »Klimawahl« hinein? Ihr seid ja an der Klimaallianz, einem Zusammenschluss von verschiedenen NGOs wie Campact, BUND und Greenpeace, beteiligt, die recht offen für eine grüne Regierungsbeteiligung wirbt. Und nicht zuletzt kandidieren FFF-Aktivist*innen für den Bundestag.
Peter: Zunächst einmal, gibt es einen Unvereinbarkeitsbeschluss für Kandidierende und für Menschen mit Ämtern über die kommunale Ebene hinaus. Aber ein Jakob Blasel wird überall als FFF-Aktivist dargestellt, auch wenn er gar nicht mehr für FFF sprechen darf.
Mila: Allein mit dem Begriff »Klimawahl« sieht man die Aufgeladenheit des Diskurses. Gerade diskutieren wir, ob man überhaupt noch Klimawahl sagen darf oder ob der Begriff bereits Wahlkampf für die Grünen ist.
Line: Mit dem Begriff »Klimawahl« sind die Grünen gemeint. Und unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass sich die Debatte nicht auf sie fokussiert. Ich habe die Hoffnung, dass alle, die bisher beim Klimaschutz blockierten, im Herbst nicht mehr mitregieren. Angst habe ich trotzdem vor Schwarz-Grün. Wo bleibt dann die soziale Gerechtigkeit? Eigentlich wäre es eine Aufgabe der SPD. Am Ende bleibt nur der Druck von der Straße, der Parlamentarismus wird keine ausreichende Transformation in Gang setzen.
Peter: Ein Teil der Bewegung findet das Narrativ der Klimawahl gut. Es gibt die romantisierte Vorstellung, wonach wir uns unsere progressive Regierung wählen, und dann jagen wir diese. Klima-, Klimagerechtigkeits- und Zukunftswahl – das sagt alles dasselbe aus. Aber es gibt dieses Pressenarrativ der Klimawahl, und das ist in der Hand der Linksliberalen, häufig Grüne-Jugend-Kader. Ähnlich ist es bei der Klimaallianz. Da sitzen Einzelpersonen von FFF und sagen, was sie persönlich denken. Hier zeigt sich unser Problem: Wenn wir keine strategische Linie haben, machen wir hier und da eine Kampagne, und es passiert, was wir NGOisierung nennen. Das bringt nur denen etwas, die mit der Presse reden.
Tristan: Gerade macht jede/r macht, was sie/er für richtig hält – und aneinander vorbei. Wir haben Debatten geführt, ob wir Veranstaltungen mit Politike*rinnen machen wollen oder nicht. Mache haben das dann ohne Legitimation gemacht. Vom Strategieprozess erhoffe ich mir dazu eine Klärung. Das Klimawahl-Narrativ wird zunehmend kritisiert. Vor allem in Baden-Württemberg stehen viele den Grünen skeptisch gegenüber, weil Winfried Kretschmann hier Ministerpräsident ist. Und die Grünen liefern mit ihm keine Klimagerechtigkeit. Zudem wird die Räumung des Dannis mit den Grünen assoziiert.
Mila: In unserer Ortsgruppe in Mannheim gibt es einen organisierten Linksradikalismus und einen schwächeren Linksliberalismus. Als Linksradikale wollen wir Einfluss auf die Debatte nehmen – aber zugleich ist die Klimafrage eine drängende Frage. Das Problem ist eine gewisse Alternativlosigkeit. Wenn wir jetzt nicht intensiv zur Klimawahl arbeiten und die Grünen unterstützen, was machen wir stattdessen? Die Linksliberalen setzen auf Parlamentarismus und verdeutlichen mit ihrem Realismus der Dringlichkeit. Linksradikale haben dem wenig entgegenzusetzen, weil es ja stimmt, dass jetzt gehandelt werden muss.
Der Staat basiert auf Umweltzerstörung. Wie soll er fähig sein, diese zu beenden?
Mila Vitsikounakis
Aber du lehnst die parlamentarische Strategie trotzdem ab?
Mila: Ich mag die Metapher »Egal wer das Auto fährt, es fährt mit Benzin« und frage mich, wie man auf die Idee kommt, dass ein Staat, der auf Umweltzerstörung basiert, fähig sein soll, diese zu beenden. Die Strukturen sind viel zu festgefahren, als dass eine neue, progressive Regierung daran etwas ändern könnte.
Tristan: Der Parlamentarismus hat einen integrativen Charakter. Er zielt darauf, dass wir mit am Tisch der Mächtigen sitzen. Dadurch eignen wir uns deren Logik an. Wir wollen aber den Tisch umwerfen.
Peter: Der Parlamentarismus repräsentiert weder die Jugend noch die Menschen im Globalen Süden. Solange sich der Diskurs im Parlament nicht um mehrere Grad verschiebt, bringt Parlamentarismus nichts. Wir nutzen aber die Wahlen zum Bundestag und setzen das Klimathema auf die Agenda. Eine Diskursverschiebung ohne reale Änderung wird den Protest stärken. Um mit einer Metapher aus dem Strategieprozess zu kommen: Wir sind der Elefant im Raum. Und daran anschließend eine zweite Metapher, die bisher aber nur gedacht wird: Wenn uns unser Platz nicht gewährt wird, sind wir der Elefant im Porzellanladen, also im Berliner Regierungsviertel.
Was sind denn die nächsten Mobilisierungen und Aktionen?
Peter: Obwohl die Kooperation mit ver.di und unteilbar mit dem Slogan »Aufbruchsklima« zuletzt ein wenig ruhte, gibt es ein Potenzial, auch wenn wir Care-Kämpfe, migrantische Arbeiter*innenkämpfe und Klimagerechtigkeit zusammen denken. Am 18. Juni wird es einen Aktionstag dieser Krisenbündnisse geben. Und am 13. August folgt ein bundesweiter Zentralstreik gegen den Finanzsektor in Frankfurt!
Mila: In Mannheim planen wir gerade ein Camp mit dem Schwerpunkt System Change not Climate Change.
Wie ist der Stand international? Ist Klimazerstörung im Globalen Süden ein Thema?
Peter: Die internationale Bewegung als Ganze ist schwierig einzuschätzen; vieles ist intransparent, Fäden laufen da vor allem bei Einzelpersonen zusammen.
Mila: Wenn internationale Vernetzungen stattfinden, dann eher aktionsorientiert. Letzten Monat war die Jahreshauptversammlung bei Heidelberg Cement. Da gab es Vernetzungen mit palästinensischen, togolesischen und indonesischen Gruppen. Aber es gibt eben keine Kontinuität in der Zusammenarbeit – gerade nicht mit den Most Affected People and Areas (MAPA).
Line: Nach 2019 hat sich viel verändert, auch wenn der Hauptfokus immer noch auf globale Streiks für Klimagerechtigkeit liegt. Aber die inhaltliche Arbeit kam erst nach den großen Mobilisierungen, weil es viele junge Leute waren, die erst darüber politisiert wurden. Dann kam Corona, und jetzt gibt es die Herausforderung, wie mobilisieren und arbeiten wir in über 700 Ortsgruppen. Wir haben in den Monaten begonnen, uns mit strukturellem Rassismus und »most affected people und areas« (MAPA) zu befassen. Und das müssen wir noch vertiefen.
Wenn uns unser Platz nicht gewährt wird, sind wir der Elefant im Porzellanladen, also im Berliner Regierungsviertel.
Peter Odrich
Und zuletzt: Ihr werdet den Ruf, eine bürgerliche Bewegung zu sein, nicht ganz los, oder? Richtet sich Klimapolitik immer an ein bürgerliches Publikum, obwohl dieses vermutlich als letztes betroffen sein wird?
Peter: Auf einer hochtheoretischen Ebene wird das reflektiert; es gibt beispielsweise ein Antiklassismusforum. Aber es ist dasselbe Problem wie bei der Repräsentativität von People of Color. Man eignet sich entsprechende Positionen an, aber es wirkt sich nicht aus. Leider bleiben wir eine elitäre und weiße Bewegung.
Mila: Bei »Aufbruchsklima« gibt es den Versuch der Zusammenarbeit mit Gewerkschaften. Und in Mannheim gibt es Bestrebungen, sich mit Arbeiter*innen von Kohlekraftwerken zu vernetzen.
Peter: Es gibt eine Diskrepanz zwischen inhaltlichem Anspruch und Praxis. Dabei ist klar: Soziale und ökologische Bewegungen bedingen sich in dem Sinne, dass Sozialpolitik nicht nur ein »Nice to have« ist. Das 1,5-Grad-Ziel gibt es nur mit sozialen Änderungen. Die Frage, wie sich das mit einer Klassenpolitik verbinden ließe – die stellt sich über FFF hinaus. Bislang finden wir da keine Lösung.