Aus ist aus und an ist an
Die medialen Rufe nach Atomkraft werden lauter – doch in Deutschland sind die Weichen in der Energiefrage anders gestellt
Atomkraft: Sie ist wieder da«, konstatierte Die Zeit zum zehnten Jahrestag des Dreifach-GAUs von Fukushima im März, und Die Welt stellte die Frage: Sollen wir wieder Kernkraftwerke bauen? Auch in den zahlreichen Dokus, die zum Jahrestag gesendet wurden, wird der Betrieb von Atomanlagen vor dem Hintergrund des Klimawandels als reale Option gehandelt.
Hat es die Atomenergie tatsächlich geschafft? Ist sie wieder im Spiel und die Klimakrise ihre stärkste Verbündete? Anti-Atom-Gruppen befürchten eine solche Entwicklung seit Langem. Zu beobachten war eine gezielte Verhinderungspolitik, die den zunächst schwungvollen Ausbau von regenerativen Energien in den Jahren nach Fukushima bis zum Jahr 2019 fast vollständig zum Erliegen brachte. Mehrere Zehntausende Arbeitsplätze in der Windkraftbranche wurden dabei zerstört. Hinzu kommt: Nach Ende des 20-jährigen Förderzeitraums werden immer mehr Windparks abgeschaltet, während der Windanlagen-Neubau diesen Verlust kaum kompensieren kann. Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies (SPD) spricht von einer Katastrophe, auf die der Ausbau Regenerativer zusteuert.
Auch beim Netzausbau hapert es. Zwar wurde Ende Mai die Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungstrasse nach Norwegen eingeweiht, die die Leistung eines AKWs wie Brokdorf übertragen kann. Zudem ist die erste der drei Hochspannungstrassen nach Dänemark inzwischen einsatzbereit. Doch diese Fortschritte ändern zunächst nichts daran, dass der im Norden erzeugte Windstrom nicht in den Süden gelangt. Die dafür notwendigen Trassen befinden sich immer noch in verschiedenen Phasen der Planung und Bewilligung.
Neu hinzugekommen ist der dringende Wunsch, die Schwerindustrie zu dekarbonisieren, etwa Stahl und Zement in Zukunft mithilfe von Wasserstoff und nicht mehr unter Nutzung fossiler Energieträger herzustellen und zu verarbeiten. Und dann wäre da noch der immense Strombedarf durch die sich entwickelnde Elektromobilität und der steigende Stromverbrauch durch die voranschreitende Digitalisierung.
Falsche Ausstiegsreihenfolge?
Da passt es ins Bild, dass Armin Laschet vor anderthalb Jahren Angela Merkel für den Atomausstieg scharf kritisierte und darüber schwadroniert, die Grünen hätten mit dem Atomausstieg den falschen Schwerpunkt gesetzt. Es hätte viel früher, so Laschet, um einen klimafreundlichen Kohleausstieg gehen müssen. In ein ähnliches Horn stieß Laschets Konkurrent um das Amt des CDU-Vorsitzenden, Friedrich Merz. Er erklärte die Klimakrise zum politischen Thema Nummer eins unterhalb der Ebene von Krieg und Frieden und zeigte seine Liebe für »moderne« Dual-Fluid-Reaktoren, einen Reaktortyp aus den 1960er Jahren, den auch die AfD als energiepolitischen Hoffnungsträger pusht.
Im Sommer letzten Jahres startete dann die Kampagne »Safe GER6«. Mit Kundgebungen vor allen AKW-Standorten forderte diese den Weiterbetrieb der Kraftwerke. Kampagnensprecherin Anna Veronika Wendland war zum Thema Atomausstieg omnipräsent und auch zum Fukushima-Jahrestag in den Debatten der Medien vom NDR bis zum Bayerischen Rundfunk beliebte Gesprächspartnerin.
Auch auf internationaler Ebene kann man den Eindruck gewinnen, dass die Halbwertzeit politischer Entscheidungen zehn Jahre unterschreitet. In Polen sollen AKWs gleich im Dutzend entstehen, ebenso unterstützen Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Rumänien und Slowenien den AKW-Neubau. Unter der Führung von Emmanuel Macron gingen sie kurz nach dem Fukushima-Jahrestag an die Öffentlichkeit und ließen verlauten: »Wir sind überzeugt, dass alle verfügbaren emissionsfreien und emissionsarmen Technologien, die zur Klimaneutralität beitragen …, von der Europäischen Union nicht nur anerkannt, sondern auch aktiv unterstützt werden sollten…«. Diese aktive Unterstützung soll auch die Anerkennung der Atomenergie als CO2-arm im Rahmen der sogenannten EU-Taxonomie, die Vorgaben für nachhaltige Finanzinvestitionen definiert, umfassen. Das würde erhebliche Summen an Krediten und EU-Förderungen für den Atomsektor zur Folge haben.
Angesichts all dessen kann das politische Umfeld des Atomausstieges zehn Jahre nach Fukushima aus Sicht der Anti-Atom-Bewegung als durchaus beunruhigend beschrieben werden. Doch die Möglichkeit zur Laufzeitverlängerung, die im Ausstiegsdrehbuch 2011 angelegt war, wird nicht von allen zentralen Akteur*innen genutzt. Gäbe es ein ernsthaftes Interesse an einem Ausstieg aus dem Ausstieg, so müsste das Thema sechs Monate vor der Stilllegung dreier Reaktoren vor allem von den Betreiber*innen stark forciert werden. Schließlich geht es um die Profite von E.on und RWE. Doch es bleibt still.
Konzernchef: »Im Labyrinth verrannt«
In diesem Jahr äußerten sich sogar die Konzernchefs öffentlich zur Stilllegung der AKWs. Im März beschrieb Johannes Teyssen, scheidender E.on-Vorstandsvorsitzender, dass er zu Beginn seiner Amtszeit 2010 fest von der Notwendigkeit der Atomenergie überzeugt war, sich aber »im Labyrinth verrannt« habe und Atomenergie für »zu teuer, zu riskant und politisch zu brisant« halte. Einen Monat später formulierte es sein RWE-Pendant Rolf Martin Schmitz in seiner Rede vor der RWE-Hauptversammlung so: »Wir bauen eine moderne und klimafreundliche Stromproduktion auf. Zugleich verabschieden wir die Energiewelt aus Kohle und Kernenergie.«
Die Entscheidung für Gas als Brückentechnologie auf dem Weg zur Klimaneutralität scheint gefallen zu sein.
Eine entschlossene Initiative zur Verlängerung der Kraftwerkslaufzeiten sieht anders aus, und auch auf Seiten der Sachzwänge tut sich 2021 etwas. Gerade die CSU war in Bayern in den vergangenen zehn Jahren Garant für eine Blockade des Netz- und Windenergieausbaus. Es mussten gar zentrale Stromleitungen um Bayern herumgeführt werden. Doch im Februar verkündete der bayerische Wirtschafts- und Energieminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) den Bau »besonderer netztechnischer Betriebsmittel«, um die zu befürchtenden Stromengpässe nach der Stilllegung der letzten AKWs ab 2022 zu bewältigen.
Hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich der Bau von vier Gaskraftwerken mit einer Leistung von je 300 Megawatt. Sie werden nicht für die kommerzielle Stromerzeugung errichtet, sondern mit dem Ziel, Produktionsengpässe in Süddeutschland zu kompensieren. Eine ziemlich hektische und teure Kurskorrektur der bis dato geltenden Verweigerungshaltung aus Bayern.
Auch bundesweit scheint die Entscheidung für Gas als »Brückentechnologie« auf dem Weg zur Klimaneutralität gefallen zu sein. Ebenso verbissen wie Macron für Atomenergie als vermeintlich klimaneutrale Technologie wirbt, setzt sich die Bundesregierung dafür ein, Gaskraftwerke in die EU-Taxonomie aufzunehmen. Dafür riskiert sie sogar erhebliche diplomatische Flurschäden – wie schon beim Beharren auf die Gaspipeline Nord Stream 2.
Wir halten fest: Zehn Jahre nach Fukushima ist das mediale Feld für einen Weiterbetrieb der AKWs in Deutschland bereitet. Sowohl in den öffentlich-rechtlichen Sendern als auch in vielen Printmedien verfängt das Argument eines Weiterbetriebs von AKWs aus Klimaschutzgründen. Durch die während der Corona-Pandemie forcierte Digitalisierung und die vorangetriebene Wasserstoffstrategie des Industriesektors vergrößert sich die Lücke zwischen installierter regenerativer Kraftwerksleistung und dem Bedarf an CO2-freiem Strom nochmals.
Auf der anderen Seite wird die schon im Ausstiegsbeschluss von 2011 angelegte Möglichkeit eines Zurück zum Atomstrom weder von der aktuellen Bundesregierung gepusht noch von den Kraftwerksbetreibern unterstützt. Stattdessen zeichnet sich in den letzten Monaten ein Ausweichen in den Betrieb von Gaskraftwerken als »Brückentechnologie« ab.
Die Chance auf einen Weiterbetrieb von AKWs in Deutschland wird derzeit ungenutzt gelassen und mag für die drei Kraftwerke in Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen bereits vertan sein. Doch eine zentrale Erkenntnis der Anti-AKW-Bewegung war immer: »Aus ist aus« und »An ist an«. In diesem Sinne bleibt es notwendig, den politischen Gegner genau im Blick zu halten und die Hände nicht in den Schoß zu legen. Dies umso mehr, als die Atomfabriken in Lingen und Gronau noch immer boomen und die »Entsorgung« des Atommülls weiter ihren bürokratischen Lauf nimmt.