»Nahrungsmittelproduktion ist eine Form von Sorgearbeit«
Sabrina Gerdes über die Macht der Supermarktketten, die vermeintliche Effizienz des konventionellen Agrar-Anbaus und Solidarische Landwirtschaft
Interview: Carina Book
Hunderte Bäuerinnen und Bauern blockierten Ende 2020 Aldi-Filialen. Der Grund: Die Butterpreise sollten gesenkt werden. Wie die Preise für Lebensmittel entstehen und was sich ändern muss, berichtet Sabrina Gerdes im Interview.
Es heißt: Im Kapitalismus bestimmt der Markt den Preis. Aber welcher Markt bestimmt den Preis von Nahrungsmitteln?
Sabrina Gerdes: Umstritten ist ja, ob man das überhaupt noch Markt nennen kann. Es gibt vier große Supermarktketten, die den Markt in Deutschland bis zu 85 Prozent dominieren. Das sind Edeka, die Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland), Rewe und Aldi. Die Metro-Gruppe hat auch einen gewissen Anteil. Alle übrigen Lebensmitteleinzelhändler machen meist nicht mehr als drei Prozent des Marktes aus. Es ist also eine sehr geballte Marktmacht, die es den vier Großen ermöglicht, die Preise zu diktieren und Handelspraktiken zu nutzen, die eigentlich verboten gehören.
Welche Praktiken sind das?
Mithilfe von Verträgen, die die Supermarktketten mit ihren Zulieferern abschließen, werden die Preise enorm gedrückt. Wenn ein Milchbauer oder ein Marmeladenhersteller sein Produkt im Supermarkt verkaufen will, muss er sich an den Marketingkosten beteiligen oder mit Werbeaktionen verbundene Preisnachlässe selbst tragen. Es werden Gebühren erhoben, damit ein Produkt ins Sortiment aufgenommen wird. Wenn eine neue Filiale gebaut wird, werden die Zulieferer an den Kosten beteiligt. Oft werden auch nicht verkaufte, verderbliche Waren einfach zurückgeschickt oder es gibt kurzfristige Stornierungen. Vorausgezahlt wird in der Regel nicht, sondern erst Wochen später, gerade bei Milch. Die Verluste tragen die Zulieferer. Es klingt absurd, aber all das ist vertraglich festgehalten und heute noch legal. Die Erzeuger*innen sind gezwungen, ihre Produkte unter dem Wert der Produktionskosten zu verkaufen. Warum Zulieferer solche Verträge unterschreiben? Sie kommen einfach an Rewe, Aldi, Lidl und Edeka nicht vorbei, wenn sie nicht direkt vermarkten wollen.
Die Erzeuger*innen sind gezwungen, ihre Produkte unter dem Wert der Produktionskosten zu verkaufen.
Was hat das zur Folge?
Wenn die Zulieferer überleben wollen, müssen sie investieren und sich vergrößern. Wenn ihnen das nicht gelingt, müssen sie den Betrieb dichtmachen. Das führt zum Verlust von kleinbäuerlicher Landwirtschaft. Hinzu kommt, dass aus der Preisdrückerei schnell Lohndrückerei wird. Das bekannteste Beispiel ist wohl Almería im spanischen Andalusien: Die Arbeiter*innen ernten die Tomaten oder Gurken, die wir zum Angebotspreis im Supermarktregal finden, zu niedrigsten Löhnen und ohne Schutzkleidung, trotz Einsatz von giftigen Spritzmitteln. Seit ein paar Jahren schließen sich Arbeiter*innen zu Gewerkschaften zusammen und wehren sich – doch die Angst vor Kündigungen sitzt tief. Das hängt auch mit dem europäischen Grenzregime zusammen, denn vielfach wird die Situation von illegalisierten Migrant*innen, die nur schwer Arbeit finden, ausgenutzt.
Stichwort EU: Die EU hat schon 2019 in einer Richtlinie festgehalten, dass unfaire Handelspraktiken der großen Supermarktketten verboten werden sollen. Warum hat sich bisher nichts geändert?
Die EU-Richtlinie gegen unlautere Handelspraktiken (UTP-Richtlinie) musste von den Mitgliedsstaaten bis zum 1. Mai dieses Jahres in nationales Recht umgesetzt werden. Die Handelspraktiken der »schwarzen Liste«, z.B. verspätete Kaufpreiszahlungen oder kurzfristige Stornierungen, müssen verboten werden. Bei der »grauen Liste«, die auch Listungs- und Marketinggebühren enthält, hat man den Mitgliedsstaaten Spielräume in der Umsetzung gelassen, die in Deutschland sehr weitläufig ausgenutzt werden. Das am 6. Mai beschlossene Agrarorganisationen-und-Lieferkettengesetz enthält zwar Verbote von unlauteren Handelspraktiken. Allerdings ist darin kein Verbot von Einkaufspreisen, die unterhalb der Produktionskosten liegen, vorgesehen.
Sabrina Gerdes
hat Umwelt- und Nachhaltigkeitswissenschaften in Lüneburg studiert. Inzwischen wohnt sie in Leipzig und arbeitet beim Verein Allmende Taucha e.V., der sich für eine gemeinschaftlich getragene Grundversorgung im ländlichen Raum einsetzt. Sie ist Gründungsmitglied des Leipziger Ernährungsrates und Mitglied der Genossenschaft Rote Beete eG.
Es ändert sich also weiterhin nichts?
Zumindest nicht grundlegend. Außerdem steht zu befürchten, dass die Supermarktketten einfach andere Formulierungen für ihre Verträge finden werden, um Verbote zu umgehen. Eine Initiative des Bundesrats wollte das mit einer Generalklausel verhindern und forderte auch das Verbot des Einkaufs unterhalb der Produktionskosten. Die Bundesregierung aber lehnt ein umfassendes Verbot der grauen Handelspraktiken ab. Die derzeitige Agrarwirtschaft und -politik begünstigt Supermarktriesen und Agrarkonzerne mit mehreren tausend Hektaren. Wer nicht dazugehört, und das ist die Mehrheit der Landwirt*innen, hat langfristig das Nachsehen
Aber der konventionelle Bauer hat doch immer noch die dicksten Kartoffeln …
Im konventionellen Anbau wachsen auf die Fläche gesehen mehr Kartoffeln als im ökologischen Anbau, aber die Fläche wird langfristig gesehen weniger fruchtbar. Diese externen Kosten werden in den Effektivitätsrechnungen der Konventionellen nicht mit einkalkuliert. Wenn man das aber macht, wäre das Resultat, dass ökologischer Anbau und regionale Vermarktung effektiver sind. Daher ist es auch nicht mit höheren Preisen, die von den Supermarktketten gezahlt werden, getan. Vielmehr braucht es eine grundsätzliche Transformation hin zu regionalen, solidarischen Versorgungssystemen, zum Beispiel durch Solidarische Landwirtschaft oder andere faire Direktvermarktung.
Ökologischer Anbau und regionale Vermarktung sind effektiver als konventionelle Landwirtschaft.
Was ist Solidarische Landwirtschaft?
Es gibt nicht die eine Solidarische Landwirtschaft, sondern vielfältige Formen, in denen die Mitglieder einer Solidargemeinschaft die Produktionskosten sowie die erzielten Ernten eines Betriebs untereinander aufteilen. Hier wird nicht das Lebensmittel bepreist, sondern die Arbeit. In unserem Fall, der Gemüsekooperative Rote Beete eG, werden die benötigten Produktionskosten inklusive fairer Löhne für 230 Anteile berechnet, und dann wird darüber gemeinschaftlich abgestimmt. Daraus ergibt sich ein Richtwert für die Kosten eines Ernteanteils, der aber in einer anonymen Bieterrunde von jedem Mitglied selbst gewählt werden kann. Wird die Deckung des Jahresetats erreicht, werden die individuellen Mitgliedsbeiträge für ein Jahr vertraglich festgehalten. Damit haben die Produzierenden Planungssicherheit, was ihnen zum einen den wirtschaftlichen Druck nimmt und zum anderen viel mehr Spielraum schafft, die Äcker ökologisch zu bewirtschaften. Die Mitglieder sind angehalten, drei Mal im Jahr auf den Acker zu fahren. Ansonsten können sie sich wöchentlich zu einer bestimmten Zeit ihren Gemüseanteil in einer Verteilstelle abholen.
Aber ist es nicht ein bisschen viel verlangt, sich um all das kümmern zu müssen? Wie soll denn die Schichtarbeiterin jede Woche zur gleichen Zeit ihren Anteil abholen und dann am Wochenende noch auf den Acker fahren?
Sich kümmern ist das richtige Stichwort. Auch Nahrungsmittelproduktion ist eine Form von Sorgearbeit, ebenso wie das Verarbeiten. Solange es noch eine 40-Stunden-Woche gibt, ist es nicht möglich, dass sich alle darum kümmern können. Das heißt, wir brauchen auch eine radikale Lohnarbeitszeitbeschränkung. Interessanterweise erlebt die Solidarische Landwirtschaft trotz dieses Mehraufwands seit Beginn der Pandemie einen regelrechten Boom.
Woran liegt das?
Viele wünschen sich eine regionale Versorgungssicherheit. Es hat zwar in den Supermärkten keine ernsthaften Versorgungsengpässe gegeben. Doch durch die Hamsterkäufe und leeren Regale zu Beginn der Pandemie ist das vorstellbar geworden. Wir müssen also Nahrungsmittelproduktion als eine Care-Arbeit verstehen lernen, die die menschliche und nicht-menschliche Natur mit einbezieht, sich darum kümmert und sie pflegt. Die unsichtbare Hand des Marktes jedenfalls tut es nicht.