Auf der Bullenparty
Die steigenden Preise für Lebensmittel erfreuen Finanzanleger, werden aber für eine Verschärfung der Hungerkrise sorgen
Von Guido Speckmann
Ende April gab es an den wichtigen Terminbörsen für Agrarrohstoffe in Chicago und Kansas unerwartete Kursfeuerwerke. Die Terminkontrakte für Weizen und Mais sandten »bullische Signale« aus, es war gar von einer Bullenparty die Rede. Ins Normaldeutsche übersetzt: Die Anleger setzen auf steigende Preise. Warum aber die Preise für zukünftige Weizen- oder Maislieferungen anstiegen, war nicht klar. In der Analyse eines Futtermittelmaklers hieß es: »Marktbeobachtern zufolge gab es keinen konkreten Auslöser für das unerwartete Kursfeuerwerk, vielmehr schaukeln sich die Warenmärkte derzeit aufgrund möglicher Versorgungsängste gegenseitig in die Höhe.« Aber noch ein weiterer Faktor wird genannt: spekulative Investoren.
Mais und Weizen sind nicht irgendwelche Rohstoffe. Die Verfügung über sie entscheidet darüber, ob Abermillionen von Menschen in der Lage sind, sich ausreichend zu ernähren. Wenn jedoch die Preise für Nahrungsmittel zunächst an den Terminmärkten in die Höhe schießen, steht Folgendes zu befürchten: In wenigen Monaten werden insbesondere im Globalen Süden zahllose Menschen nicht mehr ausreichend über das verfügen, was in kapitalistischen Ökonomien für die Befriedigung von einem so grundlegenden Bedürfnis wie Essen notwendig ist: zahlungskräftige Nachfrage.
Denn das Geschehen an den Terminbörsen für (Agrar)rohstoffe, an denen Investoren Finanzprodukte (Derivate) auf Rohstoffe handeln, hat nach Meinung vieler Analyst*innen Folgen für die sogenannten Kassa- oder Spotmärkte, an denen Mais oder Weizen tatsächlich umgeschlagen wird. Die agrarindustriellen Akteure werden gestiegene Einkaufspreise weitergeben. Nach einem Quartal kommen die Preisänderungen bei den Konsument*innen an. In Nordamerika und Europa ist das für die meisten Menschen verschmerzbar, weil ihre Ausgaben für Nahrungsmittel im Verhältnis zum Einkommen gering sind. Im Globalen Süden, wo teilweise bis zu 80 Prozent des Einkommens für Essen ausgegeben werden müssen, nicht. Weil im Zuge der neoliberalen Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds viele Staaten zu Nettolebensmittelimporteuren geworden sind, sind sie abhängig von den globalisierten Agrarmärkten, deren Preise auf den US-Terminbörsen gemacht werden. Für Millionen Menschen können gestiegene Preise für das Essen somit Mangelernährung und Hunger bedeuten.
Hungeraufstände 2007/08
So war es 2007/08 in der globalen Hungerkrise. Schätzungen zufolge schnellte die Zahl der Hungernden um über 100 Millionen auf über eine Milliarde im Jahr 2009 an. In zahlreichen Ländern kam es zu Hungeraufständen. Auch im Arabischen Frühling 2011 spielten gestiegene Preise für Lebensmittel eine wichtige Rolle. Der Lebensmittelpreisindex der Food and Agriculture Organization der UN (FAO), der die Entwicklung der Weltmarktpreise von 55 Agrarrohstoffen erfasst, ging in den besagten Zeiträumen durch die Decke.
Seitdem wird die Frage diskutiert, inwiefern Spekulationen auf den Rohstoffmärkten für die Preissprünge mitverantwortlich sind. Schaut man sich die Fachliteratur an, wird es kompliziert: Da wird mit ökometrischen Modellen hantiert, sich gegenseitig vorgeworfen, nur unzureichende Ausschnitte untersucht zu haben und daher keine aussagekräftigen Schlussfolgerungen ableiten zu können. Auffällig ist, dass viele Studien, die keine negative Rolle der Spekulation sehen, oft von jenen veröffentlicht werden, die als Investoren an den Agrarrohstoffmärkten aktiv sind. Intern haben aber auch Deutsche Bank und Allianz in Forschungspapieren eingeräumt, dass Spekulation mit Agrarrohstoffen sehr wohl Einfluss auf die Preise haben kann.
Im März dieses Jahres war der FAO-Lebensmittelpreisindex den zehnten Monat in Folge gestiegen – er lag auf dem höchsten Stand seit Juli 2014.
NGOs wie Oxfam, Welthungerhilfe und WEED hingegen sehen kausale Zusammenhänge zwischen der Zunahme von spekulativen Anlegern und gestiegenen Preisen und/oder den teils heftigen Preisschwankungen. Naheliegend ist, dass die Spekulation zwar nicht für langfristige Preissteigerungen, aber für kurzfristige heftige Preisschwankungen verantwortlich ist.
Deregulierung und Kapitalströme
Wenig Zweifel gibt es indes, dass infolge der Liberalisierung der Agrarrohstoffmärkte um die Jahrtausendwende extrem viel Anlage suchendes Kapital in eben diese Märkte geflossen ist. Moment, die Terminmärkte für Rohstoffe waren einmal reguliert? Das waren sie – und zwar seit den New-Deal-Reformen der Roosevelt-Regierung in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Damals wurden etwa Positionslimits eingeführt. Darunter versteht man die Höchstzahl von gehaltenen Futures-Optionskontrakten. Denn es hatte sich gezeigt, dass der Terminmarkt – ursprünglich erfunden, um Landwirt*innen eine kalkulatorische Grundlage zu geben – von Finanzanlegern okkupiert worden war. Folge schon damals: ein Anstieg der Preisschwankungen.
Die unter Roosevelt erlassenen Regulierungsvorschriften galten jahrzehntelang. Erst ein massiver Lobbyeinsatz von Goldman Sachs führte dazu, dass diese geschliffen wurden. Die Investmentbank setzte überdies die Zulassung für weitaus kompliziertere Future-Kontrakte an den Rohstoffmärkten durch. Die Anzahl von Rohstoff-Derivaten nahm rapide zu. Und bereits 1991 sind Rohstoff-Indexfonds geschaffen worden. Diese bestehen aus einem Portfolio aus oft 20 verschiedenen Anlagen in Rohstoffen wie Gold, Öl, Kupfer, Weizen etc. Eine Besonderheit dieser Indexfonds ist, dass sie im Vergleich zu den Future-Kontrakten nicht an den großen Rohstoffbörsen gehandelt werden. Sie unterliegen damit auch keiner Kontrolle (»over the counter«). Durch diese Anlagemöglichkeit verschafften sich zudem institutionelle Investoren wie Pensionsfonds, Hedgefonds etc. Zugang zu den Rohstoffmärkten.
Allein zwischen Anfang 2006 und April 2008 soll sich der Wert des in Rohstoffterminkontrakten investierten Kapitals von 70 auf 235 Milliarden US-Dollar erhöht haben. Dieser Zufluss wird auch damit erklärt, dass bereits 2007 die Immobilienpreise in den USA in den Keller gegangen waren. Die Folge: Zunehmend schichteten Finanzprofis Rendite suchendes Kapital von diesen Märkten in andere um – beispielsweise in den Agrarrohstoffmarkt. Oder sie begannen, überall Äcker zu kaufen, Stichwort Landgrabbing. So liegt es auf der Hand, die spekulativen Preisschwankungen auf den Agrarrohstoffmärkten mit dem allgemeinen Trend zur Finanzialisierung der kapitalistischen Ökonomie in Verbindung zu bringen.
Neue Unruhen?
Die Preisspitzen bei Nahrungsmitteln und die Hungerkrisen führten zu Regulierungsbemühungen sowohl in den USA als auch in der EU. Die US-Terminbörsenaufsicht verabschiedete schon 2011 die Einführung zusätzlicher Positionslimits für Agrarrohstoffderivate. Zusätzlich wurde beschlossen, den außerbörslichen Handel wieder an die Börse zu zwingen. Die Umsetzung zog sich bis in dieses Jahr hin. In der EU mahlen die Mühlen ebenfalls langsam. Erst 2018 wurden mit Inkrafttreten einer EU-Direktive zum Wertpapierhandel (Mifid II) Positionslimits vorgeschrieben.
Zahl der Hungernden
Laut Angaben der FAO hungerten im Jahr 2019 rund 690 Millionen Menschen – ein Anstieg zum Vorjahr um zehn Millionen. Binnen der letzten fünf Jahre hat sich die Zahl der Hungernden um 60 Millionen erhöht. Doch die Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Die Definition besagt, dass nur Personen gezählt werden, die über ein Jahr schweren Hunger litten. Zudem wird Mangelernährung weitgehend ausgeklammert, und der zugrunde gelegte Kalorienverbrauch bezieht sich auf Menschen mit bewegungsarmem Lebensstil. Umstritten auch die Methodik der Zählweise. Als diese 2012 geändert wurde, gab es plötzlich 100 Millionen Hungernde weniger. Das wahre Ausmaß dürfte also weit über den 690 Millionen liegen. Globale UN-Zahlen für 2020 gibt es noch nicht, aber für 55 »Krisenländer« wird die Zunahme der Hungernden um 20 Millionen auf 155 Millionen geschätzt. Und Umfragen im Globalen Süden besagen, dass vier von zehn Menschen im ersten Jahr der Pandemie einen schlechteren Zugang zu Nahrung haben. Und dabei werden laut FAO gegenwärtig so viele Nahrungsmittel wie noch nie produziert.
Zwei Jahre später kam Corona. Um die Finanzmärkte zu beleben, wurden diese Vorschriften wieder gelockert – allerdings nicht für Agrarrohstoffe. Ohnehin stehen die EU-Regularien in der Kritik. So monierte die Hilfsorganisation Brot für die Welt, die neue Regelung erlaube nationalen Behörden weiterhin, sehr hohe und damit unwirksame Grenzwerte zu setzen. Befürchtet wurde zudem, dass bei Inkrafttreten der Richtlinie neue Finanzprodukte geschaffen würden, die die Neuregelungen umgingen.
Im März dieses Jahres war der FAO-Lebensmittelpreisindex den zehnten Monat in Folge gestiegen – er lag auf dem höchsten Stand seit Juli 2014. Als Ursachen werden Rekordimporte seitens China, unterbrochene Lieferketten infolge der Corona-Pandemie sowie mancherorts schlechtes Wetter genannt. Zweifelsohne sogenannte Fundamentaldaten, die das Spiel von Angebot und Nachfrage bestimmen. Aber die aufmerksamen Investoren haben längst die Zeichen der Zeit erkannt und spekulieren verstärkt auf steigende Preise, auf eine Bullenparty – befeuert werden sie von der anhaltenden expansiven und Nullzinspolitik der Notenbanken. Das wiederum bestärkt die Preistrends nach oben. Expert*innen rechnen damit, dass Weizen, Korn, Sojabohnen und Öle dieses Jahr noch teurer werden. »Harte Zeiten stehen uns bevor«, sagt Abdolrezea Abbassian, ein Ökonom bei der FAO. Soziale Unruhen und neue Hungeraufstände sind nicht ausgeschlossen – vor allem auch, weil Corana-Pandemie und Shutdowns für Millionen Menschen weniger Einkommen bedeuten.