Früchte des Streiks
Die Bedingungen auf deutschen Feldern sind prekär, doch Arbeiter*innen können sich wehren – wie bei Spargel Ritter
Von Andrei Botorog
Kaum hatte die deutsche Spargelernte 2021 begonnen, kam es zu einem ersten Corona-Ausbruch. In einem Betrieb bei Diepholz in Niedersachsen infizierten sich Anfang Mai mehr als hundert Arbeiter*innen. Über die anderen verhängte der Landkreis eine polizeilich bewachte »Arbeitsquarantäne«, bei der die Unterkunft nicht verlassen werden darf – außer, um für die Arbeit aufs Feld zu kommen.
Angesichts der Arbeits- und Unterkunftsbedingungen waren massenhafte Infektionen nur eine Frage der Zeit. Zwar behauptet die Agrarlobby, es würden strengste hygienische Vorgaben eingehalten, doch bleibt fraglich, ob das der Realität in den Betrieben entspricht. Gewerkschaften dürfen meist das Betriebsgelände nicht betreten; es ist unklar, wie häufig behördliche Kontrollen stattfinden. Noch unsicherer wird die Situation dadurch, dass der Bundestag im April – wie schon im vergangenen Jahr – die Erntearbeiter*innen betreffende Verlängerung der sozialversicherungsfreien Beschäftigung auf 102 Tage beschlossen hat: Ein Geschenk an die Agrarlobby und eine Gefahr für die Arbeiter*innen, die so mitunter ohne Krankenversicherung bleiben.
Überbelegte Unterkünfte mit bis zu acht Betten in einem Wohncontainer, Essenausteilung in Großkantinen oder der Transport zu den Feldern bei 23 bis 30 Grad und in vollen Bussen waren auch während der Erntesaison 2020 üblich. Die Corona-Pandemie hat einmal mehr klar gemacht, dass sich herrschende Politiker*innen einzig den Interessen der Agrarindustrie verpflichtet fühlen: Um den Ausfall der Spargelernte 2020 zu verhindern, organisierte das Landwirtschaftsministerium trotz Reisesperre Charterflüge für 80.000 rumänische Saisonarbeiter*innen – auf Drängen des Bauerverbandes.
Denn bei den aktuellen Löhnen ist hierzulande kaum jemand bereit, zehn Stunden pro Tag auf Feldern den Spargel zu stechen oder Erdbeeren zu pflücken. Für Menschen aus Rumänien hingegen entspricht der in drei Monaten erarbeitete Lohn einem Jahresgehalt. Die Betriebsinhaber*innen wissen das und machen es sich zu nutze, indem sie überhöhte Kosten für die Unterkunft, die Verpflegung oder den Transport direkt vom Lohn abziehen. Auch Bezahlung nach Menge – sogenannte Akkordarbeit – wird häufig in den Verträgen festgehalten. Inwieweit solche Verträge legal sind, bleibt meist ungeklärt. Arbeiter*innen aus Osteuropa kennen ihre Rechte in Deutschland oft nicht. Gewerkschaftliche Organisierung scheitert vielfach bereits an sprachlichen Barrieren.
Arbeitskampf in Bornheim
Dass es auch anders geht und Barrieren überwunden werden können, zeigte im vergangenen Jahr der Arbeitskampf beim Betrieb Spargel Ritter in Bonn-Bornheim, der seit Anfang des Jahres 2020 unter Zwangsverwaltung eines Insolvenzverwalters stand. Im Mai 2020 traten dort Teile der Belegschaft in einen wilden Streik. Die Bonner Ortsgruppe der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft Freie Arbeiter*innen Union (FAU) organisierte erste Unterstützung am Betriebsgelände. Auslöser des wilden Streiks waren Gerüchte unter der Belegschaft, wonach der Betrieb geschlossen werden sollte und spätestens alle in der nächsten Woche abreisen müssten. Arbeiter*innen erzählten, man habe sie bei der Lohnauszahlung massiv unter Druck gesetzt, eine Verzichterklärung auf weitere Lohnforderungen zu unterschreiben, welche sie, da auf Deutsch verfasst, nicht verstanden. Erst anschließend bekamen sie einige wenige hundert Euro für eineinhalb Monate Arbeit. Sie sollten dann abreisen.
Nach dem ersten Austausch zwischen den Unterstützer*innen der FAU und den Arbeiter*innen war ein wichtiger Schritt, kulturelle und sprachliche Barrieren zu überwinden und Vertrauen aufzubauen. Viele der rumänischen Arbeiter*innen bei Spargel Ritter waren Rom*nja, die in ihrem Leben extreme Diskriminierung erfahren haben und bis dahin keine Gewerkschaften kannten, die sich freiwillig und kostenlos für ihre Rechte einsetzen. Zentral für die Herangehensweise der FAU und ihrer Unterstützer*innen war, dass die Arbeiter*innen politisch aktiv handelnde Subjekte sind, die für sich selbst sprechen können. Dies geschah auf Demonstrationen vor Ort und in Bonn, wo sie über die katastrophalen Wohn- und Verpflegungszustände berichteten und ihre Forderungen artikulierten. Später wurde von vielen Beteiligten benannt, wie bestärkend es gewesen sei, dass sich fremde Menschen für ihre Belange interessierten. Für alle beteiligten Arbeiter*innen wie Unterstützer*innen waren das wichtige Erfahrungen, die auch in zukünftige Arbeitskämpfe einfließen sollten.
Arbeiter*innen sind politisch aktiv handelnde Subjekte, die für sich selbst sprechen können.
Neben diesen Aspekten hatte der Streik jedoch auch ein konkretes ökonomisches Ziel: die Auszahlungen der vertraglich zugesicherten Löhne für den Zeitraum April bis Juni. Der Druck auf den Insolvenzverwalter sollte dabei nicht nur mittels der Proteste ausgeübt werden – auch konkrete juristische Unterstützung wurde mit Hilfe zweier Anwälte vor Ort organisiert. Eine große Herausforderung war hierbei, zunächst mit den Arbeiter*innen zu einer realistischen Einschätzung bezüglich des Einflusses der Anwält*innen zu kommen. Diese arbeiteten zwar kostenlos für sie, jedoch konnte nicht garantiert werden, dass die Arbeiter*innen dadurch bei der nächsten Auszahlung tatsächlich ihren vollen Lohn erhielten.
Gerade hierbei zeigten sich große Differenzen bei den Erwartungen sowie Kommunikationsprobleme. Viele Arbeiter*innen verstanden zu diesem Zeitpunkt nicht, warum die bei dem Streik anwesende Polizei nicht einfach in die Bürobaracken ging und den Lohn holte. Den Übersetzer*innen – zu denen ich gehörte – gelang es nicht immer, die realistischen Chancen und Möglichkeiten transparent darzustellen. Die FAU setzte zwar die Anwesenheit eines Anwaltes bei der Auszahlung durch, der verhinderte, dass die Arbeiter*innen Verzichtserklärungen unterschrieben. Nichtsdestotrotz wurden seinerzeit nur geringfügige Beträge zwischen 100 und 600 Euro ausgezahlt. Unter vielen der Arbeiter*innen machte sich große Enttäuschung breit, die in Wut – auch gegenüber der FAU und ihren Unterstützer*innen – umschlug.
Juristischer Erfolg
Trotz dieser ersten Niederlage waren nach weiteren Gesprächen mit den Arbeiter*innen und in der Unterstützer*innen-Gruppe alle davon überzeugt, die zweigleisige Strategie aus Demonstrationen und juristischer Unterstützung weiter zu verfolgen. Die Demonstration am Folgetag in Bonn vor der Anwaltskanzlei, die den insolventen Betrieb verwaltete, und vor dem rumänischen Konsulat sorgte für weitere Aufmerksamkeit. Die deutsche und rumänische Presse berichtete über den Streik. Die zu dem Zeitpunkt durch Deutschland reisende rumänische Arbeitsministerin sah sich zu einer Stellungnahme gezwungen. Sie versprach, den Betrieb zu besuchen und einen kostenlosen Rücktransport der Arbeiter*innen zu organisieren. Dieser Rücktransport fand so jedoch nie statt, was abermals zeigte, dass man sich nicht auf die Versprechen der herrschenden Politiker*innen verlassen kann.
Gleichzeitig sammelten wir alle wichtigen Dokumente der Arbeiter*innen für ein gerichtliches Verfahren. Auch wenn die Arbeiter*innen realisierten, dass ihre Hauptforderung – die volle Lohnauszahlung – nicht durchzusetzen war, vertrauten sie der FAU und den Anwält*innen, sie in den bevorstehenden Gerichtsverfahren zu vertreten. Weder die Belegschaft noch die Unterstützer*innen empfanden das Ende des Streiks nach vier Tagen als Niederlage. Im Gegenteil: Viele Beteiligte erzählten von dem positiven Gefühl der eigenen politischen Handlungsmacht. Nach jahrelang erfahrener Diskriminierung und Ausbeutung hatten einige von ihnen erstmals Widerstand geleistet.
Ebenso zeigten sich langfristige Veränderungen und Erfolge. Jene Arbeiter*innen, die nach Spargel Ritter bei anderen Agrarbetrieben anheuerten, da sie sich nicht leisten konnten, ohne Geld nach Rumänien zurückzureisen, blieben meist in Kontakt mit der FAU. So konnten sie weiter unterstützt und beraten werden, um faire und menschenwürdige Bedingungen zumindest im Ansatz durchzusetzen. Ehemalige Arbeiter*innen des Betriebes Ritter, die später in Großbritannien arbeiteten, organisierten dort im August 2020 einen Streik für bessere Arbeitsbedingungen, nachdem sie sich an die lokale Gewerkschaft gewandt hatten. Und letztlich waren die Anwält*innen der FAU zu Beginn dieses Jahres juristisch doch noch erfolgreich. Mit dem Insolvenzverwalter einigte man sich auf Vergleichszahlungen im insgesamt fünfstelligen Bereich.
Die Tage in Bonn-Bornheim zeigten, was nötig ist, um einen erfolgreichen Arbeitskampf zu führen. An erster Stelle steht die Bereitschaft, den Menschen zuzuhören und transparent zu machen, welche Ziele realistisch erreicht werden können. Unterstützer*innen sollten konsequent für Forderungen der Belegschaft eintreten und nicht die eigene politische Agenda durchsetzen. Trotz widriger Umstände – wie Pandemie, Kommunikationsproblemen und unterschiedliche Vorstellungen der politischen Akteur*innen – können auch in Zukunft solche Erfolge wiederholt werden.