Das Tabu
Arme sterben im Durchschnitt früher – und besonders häufig an Covid-19, doch in Deutschland interessiert das kaum
Von Nelli Tügel
In sozial benachteiligten Regionen lag die Sterblichkeit während der zweiten Corona-Welle in Deutschland um 50 bis 70 Prozent höher als in Regionen mit geringer sozialer Benachteiligung. Mit einem schnöden Informationsblatt teilte das Robert-Koch-Institut Mitte März auf seiner Webseite dies mit und bestätigte: Nicht nur die sozialen Folgen von Corona sind extrem ungleich verteilt, sondern auch die Risiken, an Covid zu erkranken, einen schweren Verlauf zu haben oder zu sterben.
Ganz zu Beginn der Pandemie sah das noch etwas anders aus, zumindest bezüglich des Erkrankungsrisikos: Im Journal of Health Monitoring des Robert-Koch-Instituts von September 2020 hieß es, in der frühen Phase der Epidemie in Deutschland habe sich zunächst »ein sozioökonomischer Gradient mit höheren Inzidenzraten in sozioökonomisch bessergestellten Kreisen« gezeigt, der sich »im weiteren Verlauf des Ausbruchsgeschehens beginnt zu wandeln und sich (…) ab Mitte April umdreht«.
Eine Studie der Stadt Köln und des Fraunhofer-Instituts verweist ebenfalls auf dieses Muster: Im März 2020 trat Corona zunächst in den gutbürgerlichen Stadtteilen der Rheinmetropole auf, bevor es sich in den ärmeren Teilen der Stadt verbreitete und festsetzte. Vermuteter Grund: Der sogenannte Ischgl-Effekt. Während wohlhabendere Kreise mobiler sind und im Frühjahr 2020 mit der Rückkehr aus dem Skiurlaub das Virus nachweislich über ganz Europa verbreiteten, kamen dieselben Kreise relativ gut durch den ersten Lockdown. Doch seitdem wütet das Virus am heftigsten in ärmeren Schichten. Im Sommer 2020, als die Fallzahlen insgesamt sanken, kam es zunächst immer wieder zu Ausbrüchen in besonders prekären Arbeitsbereichen wie der Fleischindustrie oder in Logistikzentren. Zu Beginn der zweiten Welle zeigte sich erneut der Ischgl-Effekt, die Inzidenzen stiegen zuerst in sozioökonomisch bessergestellten Regionen, dann drehte sich die Betroffenheit nach kurzer Zeit um: Das große Sterben setzte schließlich ein, als die zweite Welle in den ärmeren Regionen angekommen war.
Keine Daten, keine Klassen
In den USA oder dem Vereinigten Königreich weiß man schon lange um den Klassencharakter des Virus. In deutschen Medien konnten sich Interessierte früh in der Pandemie darüber informieren, dass dort, also in den USA und im UK, überdurchschnittlich oft Arbeiter*innen – vor allem sogenannte frontline workers – Covid zum Opfer fielen, unter ihnen besonders viele Angehörige von Minderheiten. Im UK beispielsweise gehörten während der ersten Welle zwei Drittel der Covid-Opfer unter den Pflegekräften BAME-Minderheiten (»Black, Asian and Minority Ethnic Communities«) an.
Zugleich entstand der Eindruck, dass dies alles in Deutschland ganz anders sei, schlicht und ergreifend deshalb, weil es hier lange kein Thema war. Warum ist Ostdeutschland nicht betroffen oder – dann später – besonders betroffen? Sollten Männer als vulnerable Gruppe prioritär geimpft werden? Alles Mögliche wurde in deutschen Massenmedien lebhaft diskutiert. Ein Tabu hingegen das Offensichtliche: Dass das Virus auch in der Bundesrepublik Deutschland eine Massen-Krankheit der Lohnabhängigen, prekär Beschäftigten, Erwerbslosen und Armen ist.
Noch Anfang März raunte RKI-Chef Lothar Wieler auf einer Pressekonferenz, überdurchschnittlich viele Migrant*innen landeten auf Intensivstationen, weil sie sich – so der Subtext – nicht an Regeln hielten. Das Naheliegende, nämlich dass im racialen Kapitalismus vor allem sie es sind, die in Leiharbeitsverhältnissen und in schlechten Wohnungen stecken, sprach er nicht aus. Bild und AfD stürzten sich natürlich begeistert auf das Thema.
Die Verweigerung, den Zusammenhang von sozialem Status, Arbeits- und Wohnverhältnissen und Corona-Risiken zu thematisieren, fängt schon mit den Daten und Zahlen an: Der Soziologe Oliver Nachtwey erklärte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung im März den Zusammenhang zwischen der Nicht-Thematisierung und der in Deutschland verbreiteten und auch historisch verankerten Leugnung der Klassengesellschaft. Auf staatlicher Seite, so Nachtwey, »weiß und kommuniziert man viel zu wenig über die Sozialstruktur der Infektionen. Schließlich müsste man dann ja zugeben, dass Deutschland eine Klassengesellschaft ist und Menschen aus der Unterklasse ein höheres Infektionsrisiko haben«. Es werde versucht, »jegliches Klassenbewusstsein aus dem öffentlichen Bewusstsein herauszuhalten«, wofür die Statistik ein Mittel sei. Eine Anfrage von NDR, WDR und SZ ergab Anfang März, dass 14 von 16 Bundesländer nichts über die sozioökonomische Verteilung der Infektionsrisiken wissen, weil sie außer Alter und Geschlecht keine Daten etwa zum Einkommen, Wohnort oder der Herkunft erheben.
Die Verweigerung, den Zusammenhang von sozialem Status und Corona-Risiken zu thematisieren, fängt schon mit den Daten an.
Dennoch weisen die wenigen vorliegenden Zahlen in dieselbe Richtung. So hatte der Professor für Medizinische Soziologie in Düsseldorf, Nico Dragano, schon im Juni 2020 Krankenkassen-Daten der AOK ausgewertet und herausgefunden, dass das Risiko für Bezieher*innen von ALG II, wegen Covid ins Krankenhaus zu kommen, fast doppelt so hoch ist wie bei anderen. Auch er kritisierte gegenüber dem ARD-Magazin Panorama die dünne Datenlage.
Eine weitere Krankenkassen-Daten-Auswertung aus dem Jahr 2020, diesmal von der Barmer, stellte ein besonders hohes Erkrankungsrisiko bei Leiharbeiter*innen fest. »Auffällig waren insbesondere die hohen Erkrankungsrisiken bei Beschäftigten in Leiharbeit, berechnet auf Basis der Krankenhausdaten«, heißt es dort. »Zudem war die Hospitalisierungsrate für diese Beschäftigten mit 55,7 Prozent fast dreimal so hoch wie der Durchschnitt aller erwerbstätigen Stammversicherten der Barmer.« Daten aus Berlin, neben Bremen das einzige Bundesland, das etwas über sozioökonomischen Hintergrund der Erkrankten weiß, belegen: Je höher der Anteil der Arbeitslosen beziehungsweise Transferbeziehenden in den Bezirken, desto höher ist auch die Corona-Inzidenz.
Und das eingangs zitierte Informationsblatt des RKI von Mitte März, das ebenfalls die ungleich höhere Betroffenheit sozial und ökonomisch benachteiligter Menschen in der Pandemie festgestellt hatte? Auch dieses verarbeitet leider keine Hintergrund-Daten, aussagekräftig ist die Methode dennoch. So wurden bundesweite Meldedaten zu Covid-19-Todesfällen mit dem »German Index of Socioeconomic Deprivation« verknüpft, das Ausmaß sozioökonomischer Deprivation der Bevölkerungen in verschiedenen Regionen Deutschlands misst. Über diesen Weg gelangten die Forscher*innen des RKI zu der Erkenntnis, dass während der zweiten Corona-Welle in Regionen mit sozialer Benachteiligung die Sterblichkeit um 50 bis 70 Prozent höher war als in Regionen mit geringer sozialer Benachteiligung.
Soziale Determinanten von Gesundheit
All das bestätigt, was jene Soziolog*innen, Ärzt*innen und Gesundheitsarbeiter*innen etwa, die sich mit sogenannten sozialen Determinanten von Gesundheit beschäftigen, schon lange sagen: Arme sterben früher – und daran etwas zu ändern ist eine gesellschaftliche, keine individuelle Aufgabe. In einer Veröffentlichung der Leopoldina aus dem Jahr 2019 heißt es: »Nach neuen Daten des Sozioökonomischen Panels, die bis zum Jahr 2016 reichen, beträgt die Differenz der mittleren Lebenserwartung bei Geburt zwischen Mitgliedern der niedrigsten und höchsten Einkommensgruppe 8,6 Jahre bei Männern und 4,4 Jahre bei Frauen.« Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung zeigte ebenfalls 2019 in einer Auswertung von 27 Millionen Datensätzen, dass das Risiko von Männern aus dem am schlechtesten verdienenden Fünftel, im Alter zwischen 30 und 59 Jahren zu sterben, um 150 Prozent höher ist als bei Männern aus dem am besten verdienenden Fünftel.
Nur: Zum Selbstbild einer klassenlosen Gesellschaft passen diese Zahlen eben so wenig wie zur Gesundheitspolitik. Diese predigt seit Jahren die Eigenverantwortung bei der Prävention von Krankheiten. Wer Sport treibe, nicht rauche und in die Rückenschule gehe, der verlängere sein Leben und falle dem Gesundheitssystem nicht zur Last, so die Botschaft. Nähme man die Erkenntnisse zum Zusammenhang von sozialen Faktoren und Gesundheit ernst, müsste es indes um ganz andere Fragen gehen: Was kann getan werden, damit Menschen nicht in schimmeligen, engen Wohnungen leben müssen? Was muss sich ändern, damit Arbeit nicht krank macht? Wie können Reproduktionstätigkeiten gesellschaftlich organisiert werden, damit Frauen nicht doppelten Belastungen ausgesetzt sind?
Man würde zu dem Schluss kommen, dass Ungleichheit und Ausbeutung die größten Gesundheitsrisiken sind und dass ihnen nur gesellschaftlich, nicht individuell, ja nicht einmal allein mit einer guten Behandlung von Krankheitssymptomen beizukommen ist. Leiharbeit, Outsourcing, Niedriglöhne, Wohnungspolitik und vieles mehr wären dann plötzlich auch gesundheitspolitische Themen.