Weiter so für die Mehrheitsgesellschaft
Nach dem antisemitischen Anschlag von Halle verfolgt die Politik das Ziel, schnellstmöglich zu einem Normalzustand zurückzukehren, den es für Marginalisierte nicht gibt
Am 9. Oktober 2019 machte sich ein 27 Jahre junger Neonazi auf den Weg, um in der halleschen Synagoge an Jom Kippur ein Massaker anzurichten. Er tötete zwei Menschen, verletzte mehrere körperlich, dutzende psychisch. Er bediente die Waffen allein, wusste aber um die Rückendeckung, die er regional und global erfuhr und erfährt, gebündelt auf 4chan und in anderen virtuellen Räumen.
Dass der Täter nicht aus privat-persönlichen, sondern aus politischen Motiven heraus zur Tat schritt, zeigen neben dem anvisierten Ziel – die Synagoge und ein migrantisch gelesener Imbiss – auch sein Pamphlet, die Live-Übertragung der Tat ins Netz sowie seine Einlassungen vor Gericht. Unbestritten ist daher, dass es sich bei der Tat um Rechtsterrorismus handelt, also um einen Anschlag auf das demokratisch verfasste Gemeinwesen, als welches sich der deutsche Staat verstehen will.
Dem Wort nach ist mit Terrorismus die Verbreitung von Furcht und Schrecken gemeint. Für den Terroristen ist weniger die Tathandlung selbst entscheidend als vielmehr ihre psychische Nachwirkung, ein Trauma, das noch lange nach der Tat in den Knochen sitzt. Die Botschaft der Tat sollte lauten: »Ihr Juden, Schwarze, Feministinnen könnt euch in diesem Land nicht sicher fühlen!« An dieser Stelle dürfte dem Attentäter von Halle daher auch geglaubt werden, wenn er sagt, dass die Verbreitung der Tat wichtiger sei als die Tat selbst.
Eine terroristische Gewalthandlung verlangt seit jeher nach einem öffentlichen staatlichen Gedenken. Wo der Staat einen Angriff auf seine demokratische Organisationsstruktur erkennt, zumal in Form solch brutaler Attentate wie denen von Halle und Hanau, da wollen seine Vertreter*innen zur Stelle sein, in höflichen Worten der Erschütterung Raum geben, den Betroffenen und ihren Angehörigen ihr Beileid aussprechen, um dann aber schnellstmöglich eine staatliche Ordnung wiederherzustellen. Eine kritische Perspektive muss dazu jedoch folgende Fragen stellen: Kann eine staatliche Ordnung so einfach wiederhergestellt werden? Ist dieses Bestreben sinnvoll, bzw. von was für einer Ordnung ist dabei überhaupt die Rede? Und: Wie kann angemessen auf eine terroristische Tat reagiert und der Opfer würdig gedacht werden?
Die erste Frage lässt sich relativ leicht beantworten: Eine Ordnung lässt sich durchaus mit ein paar warmen Worten wiederherstellen – jedenfalls für einen Teil der Bevölkerung, nämlich den, der zum Einen nicht (zufällig) in die Tathandlung involviert war und der zum Anderen nicht von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit betroffen ist. Für einen Teil der Bevölkerung, zumeist weiß und christlich oder konfessionslos, kann das Leben also ziemlich genauso weitergehen wie vor der terroristischen Attacke. Für einen anderen Teil der Bevölkerung aber kann die Frage wohl klar verneint werden. Hier ist aufgrund des Opferdaseins oder der unmittelbaren Möglichkeit, selbst zur Getroffenen zu werden, keine Rückkehr zu einer solchen Ordnung möglich bzw. hat es für diese Menschen schon zuvor keine solche Ordnung gegeben, denn für sie gehören rassistische, antisemitische und andere Übergriffe zum Alltag.
Aus ebendiesem Grund, aus dem es nicht möglich ist, eine öffentliche Ordnung wiederherzustellen – jedenfalls nicht für alle –, kann schon der Versuch dessen nicht sinnvoll sein. Wer die »Ordnung«, aus der heraus der Terrorakt entstanden ist, wiederherzustellen versucht, zeigt sich mit den Bedingungen rechter Gewalt und mit täglich erlebtem Leid einverstanden. Zu der Vorstellung, die staatliche Ordnung sei in dem Moment wiederhergestellt, in dem der Terrorist von der Polizei gefasst und ihm der juristische Prozess gemacht wird, gehören ein Vertrauen in den polizeilichen und juristischen Staatsapparat und die Überzeugung, dass in ihm die Werte der Demokratie zum Tragen kommen. Dass dies nicht durchweg der Fall ist, wurde etwa im Prozess gegen den Attentäter vom 9. Oktober offensichtlich. An den dort getätigten Aussagen von BKA-Beamt*innen und letztlich der Urteilsbegründung zeigte sich, dass Ressentiments verbreitet sind und die rassistische Motivation des Täters, gerade in Bezug auf die Geschädigten İsmet Tekin und Aftax I., nicht vollumfänglich berücksichtigt wurde.
Wessen öffentliche Ordnung?
Beim staatlichen Gedenken zum ersten Jahrestag des Anschlags von Halle hielt der Bundespräsident eine Rede, in der er die Ideologie des Täters benannte und erkannte, dass diese eine offene Gesellschaft gefährdet. Er rief die Gemeinschaft dazu auf, sich klar dagegen zu positionieren. Was aber außerdem nötig sei, um den marginalisierten Teil der Gesellschaft zukünftig besser zu schützen, blieb im Verborgenen. Auch schwieg Steinmeier zu der Problematik, dass die von ihm benannten Ideologeme wie Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus eben nicht nur bei Einzelnen zu erkennen sind, sondern durch die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft erst hervorgebracht werden und besonders im Staatsapparat wirkmächtig sind. Ein Grund für dieses Schweigen wird sein, dass ein staatliches Gedenken immer auch den Zweck der Selbstvergewisserung verfolgt und damit die wehrhafte Demokratie beschwört:
So bezeichnet er die »alte, hölzerne Tür«, die den Attentäter auf seinem Weg in die Synagoge aufhielt, als »Symbol der Stärke und des Zusammenhalts«. Und er beginnt und endet seine Rede, indem er den 9. Oktober als Tag der Trauer und des Schmerzes neben den 9. Oktober als Tag des Mutes und der Freude über die Wiedervereinigung in Hinblick auf die Leipziger Montagsdemo von 1989 stellt. Noch einmal wird damit die Stärke des Kollektivs suggeriert, die es bloß zu reaktivieren gelte. Inwieweit eine durchweg positiv besetzte Erinnerung an die Wiedervereinigung problematisch ist, weil auch nach dem Öffnen der Mauer viele von der Gesellschaft ausgegrenzt und von rechter Gewalt gefährdet blieben, beschreibt etwa der kürzlich erschienene Sammelband »Erinnern stören«.
Beispielhaft zeigt der erste Jahrestag des Anschlags von Halle, wie staatliches Gedenken, ein »Erinnern von oben«, an der Oberfläche bleibt und nicht den Ursachen für das Geschehene auf den Grund geht. Um den Missständen in Staat und Gesellschaft, die Terrorismus hervorbringen, etwas entgegenzusetzen, braucht es daher ein »Erinnern von unten«. Wie aber kann das aussehen, und inwieweit gab es das im Fall des Anschlags vom 9. Oktober?
Klar ist, dass ein angemessenes, kritisches Gedenken nicht auf einen Tag im Jahr oder ein einzelnes Objekt, wie eine Gedenkplakette, reduzierbar ist. Solche Jahrestage und Erinnerungsorte und -bilder sind wichtig, um öffentlich zu mahnen und die konkreten Tatorte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Darüber hinaus braucht es aber vor allem eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Bedingungen, die zur Tat geführt haben. Im Fall des Anschlags von Halle sind es mehrere der rechten Ideologie inhärenten und sich kreuzende Ismen, die bei der Tat eine Rolle gespielt haben.
Antisemitismus, Rassismus, Antifeminismus und allgemein Frauenverachtung wären hier als erstes zu nennen. Diese Ideologeme gilt es zu analysieren, auch historisch, damit sie in ihrer heutigen Erscheinungsform erkannt und kritisiert werden können und damit ihre Reproduktion künftig unterbunden werden kann. Weiter ist eine konkrete Beschäftigung mit dem Täter notwendig: Mit wem hat er kommuniziert, mit wem seine extremen Gewaltfantasien geteilt? Für derlei Fragen ist die Justiz zuständig, doch muss notwendigerweise, wenn die Gesellschaft solche rechten Strukturen erkennen und gegen sie vorgehen soll, eine Öffentlichkeit an der Klärung der Fragen teilhaben.
Im Prozess gegen den Attentäter gab es einige Plätze für Berichterstattung und Besucher*innen, letztere haben von dieser Möglichkeit auch regen Gebrauch gemacht. Mitunter erschreckend war zu sehen, wie fahrlässig einige BKA-Beamt*innen ihre Arbeit angegangen sind und so wertvolle Indizien über die Strukturen, in denen der Täter aktiv war, verlorengingen. Daran zeigte sich auch, dass mitunter die Kompetenz oder der Wille in Behörden fehlt, rechtsextreme Machenschaften aufzudecken. Hier muss eine kritische Gedenkform besonders aufmerksam sein, hat sich doch in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass neonazistische Gewaltverbrecher nicht selten Beziehungen zu behördlichen Vertreter*innen pflegen.
Betroffenenperspektiven sind entscheidend
Bei der Aufklärung des Attentats im Prozess und seiner Zerlegung in die einzelnen Tathergänge kam es vor allem auf die Deutung der jeweiligen Geschehnisse an. Am 9. Oktober gab es zahlreiche Geschädigte, die unter verschiedenen Umständen und durch verschiedene Motivationen zu solchen wurden. Besonders war an diesem Prozess, dass den einzelnen Betroffenen im Zeugenstand gewährt wurde, das Geschehen aus ihrer Perspektive wiederzugeben und dabei Schwerpunkte zu setzen, die ihnen wichtig erschienen. Dabei war es ihnen in Teilen auch möglich, eine Interpretation des Geschehenen mitzuliefern. So wurde etwa bei mehreren Betroffenen, die der Täter aufgrund ihres Jüdischseins angriff, deutlich, dass sie die Tat klar als Anschlusstat an die Shoa verstehen. Bei ihnen müsse mitbedacht werden, dass sich die Dimension des Traumas durch den 9. Oktober auf ein transgenerationelles Trauma ausdehnt.
Der Perspektive der Betroffenen Gehör zu geben, ist ein weiterer wichtiger Aspekt eines kritischen Gedenkens. Ein Zusammenschluss innerhalb der Nebenklage hat noch vor Prozessbeginn eine Erklärung veröffentlicht, in der dazu aufgerufen wurde, nicht den Namen des Täters zu nennen und ihm so die Plattform zu entziehen. Wenn auch nicht alle Medien dem Aufruf gefolgt sind, war doch ein Erfolg zu verzeichnen: Es ist ersichtlich geworden, dass Betroffene des Anschlags durch diesen nicht mundtot gemacht wurden, sondern eine Stimme haben und diese nutzen, um Forderungen an Staat und Gesellschaft zu stellen.
Gleichzeitig dürfen starke Betroffenenstimmen nicht darüber hinwegtäuschen, dass am 9. Oktober 2019 viele Menschen, und einige sicher nicht zum ersten Mal, Opfer von rechter Gewalt wurden. Menschen, die sich im Sinne eines kritischen Gedenkens mit ihnen solidarisieren möchten – im besten Fall also alle – sollten durch Zuhören und Aufbringen von Empathie versuchen, die Erschütterung der Opfer zu teilen. Das bedeutet, entgegen der beim »Erinnern von oben« praktizierten kollektiven Selbstvergewisserung, eine kollektive Selbstverunsicherung.