Wie der Westen den Aufstieg Chinas beschleunigt
Die Volksrepublik geht ökonomisch gestärkt aus der Corona-Krise hervor. Weswegen sich die Aggressionen gegen das Land häufen
Von Jörg Kronauer
Es geht bergauf: Diese Botschaft vermitteln die neuen Wirtschaftsdaten aus China, die Anfang September vermeldet wurden. Schlimm hatte die Corona-Krise das Land zu Jahresbeginn getroffen, hatte mehrere tausend Todesopfer gefordert, harte Lockdowns erzwungen und die chinesische Wirtschaft lahmgelegt. Jetzt aber verzeichnet die Volksrepublik wieder Erfolge: Die Industrie wuchs im August so rasant wie seit einem Jahrzehnt nicht mehr, die Exportaufträge stiegen erstmals in diesem Jahr wieder an, die Arbeitslosigkeit ging zurück. Während die USA und die EU noch schwer mit der Pandemie zu kämpfen haben, kehrt in China beinahe wieder der gewohnte Alltag ein.
Dass China glimpflicher durch die Corona-Krise kommen würde als die Vereinigten Staaten oder die EU, zeichnete sich spätestens im April deutlich ab. Im Januar und im Februar, als die chinesische Wirtschaft durch die Pandemie ins Wanken gebracht wurde, der Westen sich aber noch sicher wähnte, da waren in der westlichen Öffentlichkeit gelegentlich schadenfrohe Äußerungen zu hören: China werde sich seine Wachstumsziele und seine ökonomische Aufholjagd wohl fürs Erste abschminken können. Der Mitte April publizierte »World Economic Outlook« des Internationalen Währungsfonds (IWF) ergab dann allerdings ein ganz anderes Bild. Der Grund: Es zeichnete sich mittlerweile deutlich ab, dass die Volksrepublik mit ihren harten Maßnahmen gegen die Pandemie recht erfolgreich war, während die Länder der EU und die USA, die zunächst einen Lockdown hatten vermeiden wollen – nicht zuletzt, um ihre Wirtschaft nicht zu schädigen –, erheblich härter getroffen werden würden.
Der IWF prognostizierte Mitte April, Beijing werde sein ursprüngliches Wachstumsziel – mehr als sechs Prozent im Jahr 2020 – zwar nicht erfüllen können; es dürfe für das Gesamtjahr 2020 aber immerhin auf ein Wachstum von 1,2 Prozent hoffen. Das sei bemerkenswert, denn die US-Wirtschaft werde wohl um 5,9 Prozent, die der Eurozone mutmaßlich sogar um 7,5 Prozent abstürzen. Und wenngleich die USA und die Eurozone für das Jahr 2021 auf ein Wachstum von 4,7 Prozent spekulieren könnten: Der Volksrepublik traute der Währungsfonds für 2021 einen Anstieg der Wirtschaftsleistung um gar 9,7 Prozent zu. In absolute Zahlen umgerechnet ergab dies, dass China seine Wirtschaftsleistung bis 2021 auf 15,7 Billionen US-Dollar werde steigern können, während die USA und die Eurozone auf einen Rückgang zusteuerten – auf 20,9 Billionen bzw. 13,6 Billionen US-Dollar im Jahr 2021.
China klar auf Wachstumskurs
Bislang deutet alles darauf hin, dass sich die IWF-Prognose im Wesentlichen bestätigt. Chinas Wirtschaft erholte sich im zweiten Quartal 2020 zusehends. War das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im ersten Quartal noch um 6,8 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum eingebrochen, so wuchs es im zweiten Quartal schon wieder um 3,2 Prozent. Rechnerisch lag das chinesische BIP damit im ersten Halbjahr 2020 um nur noch 1,6 Prozent unter dem BIP des ersten Halbjahres 2019 – und der Aufschwung setzte sich fort. Ende August setzten manche Finanzinstitute ihre Schätzungen für das chinesische Wirtschaftswachstum im Gesamtjahr 2020 weiter nach oben; die US-Bank JP Morgan prophezeite nun ein Plus von 2,5 Prozent, die Ratingagentur Fitch sogar von 2,7 Prozent.
Es stimmt: Viele Unwägbarkeiten bleiben bestehen. Auch China, dem es im Juni gelang, ein neues Aufflackern der Pandemie mit harschen Maßnahmen binnen kürzester Zeit zu unterdrücken, ist nicht vor einer nächsten Welle sicher; hinzu kommen schwere Ungewissheiten beim Export, der davon abhängig ist, dass die Absatzmärkte nicht in der Corona-Krise versinken. Und im Herbst droht eine neue Krise wegen Kreditausfällen. Dennoch: Nach aktuellem Stand befindet sich die Volksrepublik wieder klar auf dem Wachstumspfad, was sich weder von den USA noch von der Eurozone sagen lässt.
Im Herbst drohen in den USA, China und der Eurozone neue Krisen aufgrund von Kreditausfällen.
Was dies für das ökonomische Verhältnis zwischen den westlichen Mächten und China bedeutet, das zeigen Berechnungen, die die Deutsche Bank im August vornahm. Vor der Corona-Krise war das Kreditinstitut davon ausgegangen, das chinesische Wachstum werde in diesem Jahr dasjenige der Eurozone um 5,1 Prozentpunkte übertreffen. Nun hieß es, der Abstand werde vermutlich doppelt so groß sein: China hänge die Eurozone rasant ab. Hatte die Deutsche Bank zu Jahresbeginn noch prognostiziert, die Volksrepublik werde von 2019 bis 2023 um 26 Prozent wachsen, die Vereinigten Staaten um 8,5 Prozent, so sagte sie nun voraus, China müsse leichte Einbußen befürchten – ein Wachstum von nur 24 Prozent -, während das US-Wachstum im gleichen Zeitraum um mehr als die Hälfte auf nur noch 3,9 Prozent einbrechen werde. Die Volksrepublik hole also noch schneller als gedacht auf. Ein Experte der Brookings Institution rechnete weiter und kam zu dem Resultat, China werde, weil es die Corona-Krise deutlich besser überstehe, mit seiner Wirtschaftsleistung – berechnet in absoluten Dollarwerten – nicht erst im Jahr 2030 mit den USA gleichziehen, sondern wohl schon 2028.
Größter Absatzmarkt für deutsche Waren?
Ökonomisch dürfte China auch in anderer Hinsicht gestärkt aus der Corona-Krise hervorgehen: Es gewinnt für westliche Unternehmen noch größere Bedeutung als Standort und als Absatzmarkt. Das gilt ungeachtet des US-Wirtschaftskriegs gegen die Volksrepublik für US-Unternehmen. Ein Beispiel für viele andere: Nike verzeichnete von März bis Mai weltweit einen Geschäftseinbruch um 38 Prozent, konnte in China aber im selben Zeitraum seine Verkäufe um ein Prozent steigern. Es gilt aber auch für Unternehmen aus der EU, nicht zuletzt für deutsche, die in der Volksrepublik besonders aktiv sind. Für die deutsche Industrie hat der Kfz-Markt besondere Bedeutung – und der schrumpfte im Juli in Westeuropa und in den USA noch, während er in China bereits den dritten Monat in Folge wuchs. Die Volksrepublik ist für die deutsche Kfz-Industrie ohnehin schon längst der wichtigste Markt überhaupt; sie baut nun in der Corona-Krise ihre Stellung noch weiter aus.
Das gilt auch für den Gesamtexport Deutschlands, der mit Abstand stärksten Wirtschaftsmacht der EU. Lag China im ersten Halbjahr 2019 noch auf Platz drei unter den Abnehmer*innen deutscher Waren, so teilte es sich im ersten Halbjahr 2020 bereits mit Frankreich den zweiten Platz – und es konnte den Abstand auf die Nummer eins, die Vereinigten Staaten, von elf Milliarden Euro auf vier Milliarden verkürzen. Gut möglich, so urteilte das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Mitte Juli, dass China bis zum Jahresende zum größten Absatzmarkt deutscher Konzerne aufsteigen werde. Dabei lege die Erfahrung aus der Finanzkrise der Jahre 2008/09 nahe, dass es sich nicht um eine nur »temporäre Verschiebung« handeln werde. Zwar könne man davon ausgehen, dass die Exporte in die USA wieder stiegen, sobald die Wirtschaft dort wieder rund laufe; das sei auch 2010 so gewesen, als die deutsche Ausfuhr in die Vereinigten Staaten um 20,6 Prozent stieg. Doch seien im selben Jahr die Exporte nach China »um beeindruckende 44,3 Prozent« in die Höhe geschnellt. Ähnliches sei auch diesmal zu erwarten.
Gefahr einer neuen Bankenkrise?
Insolvenzen und das Auslaufen von Stundungsmöglichkeiten für Kredite könnten Banken schon bald in Bedrängnis bringen. Eine Studie des Leibnitz-Instituts in Halle sieht bis zu 28 Prozent der Geldinstitute ernsthaft gefährdet. Für Sparkassen und Genossenschaftsbanken, die klassischen Kreditgeberinnen kleiner und mittelständischer Firmen, seien massive Kreditausfälle wahrscheinlich. Großbanken und Anleihegläubiger, die etwa Flugzeug- und Schiffsbauten finanzieren, könnten nach Einschätzung des IW Köln von coronabedingten Umsatzrückgängen in der Touristik- und Luftfahrtbranche betroffen sein. Seriös vorhersagen lassen sich die längerfristigen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Bankensektor indes kaum, da hier auch ein zweiter Lockdown eine Rolle spielen würde. Viele verweisen zudem auf die verstärkte Regulierung und erhöhte Eigenkapitalausstattung des Bankensektors seit der letzten Finanzkrise und halten die Krisenszenarien für übertrieben. Linke Ökonom*innen betonen wiederum die niemals gebannte Gefahr eines weiteren Bankencrashs. Die Bankenlobby habe grundlegende Reformen blockiert, das (spekulative) Geschäftsmodell der Institute habe sich mithin kaum geändert und die tatsächliche Höhe der Eigenkapitalausstattung sei Dank etlicher Rechentricks undurchsichtig. Die Nullzinspolitik der EZB habe schließlich zu einer Auftürmung fiktiven Kapitals im Finanzsystem geführt und die Abhängigkeit der Wirtschaft vom Finanzmarkt weiter erhöht. Im Falle einer neuen Krise entstünden so wieder enorme Kosten für die Gesamtgesellschaft.
Wie man es dreht und wendet: Nach gegenwärtigem Stand scheint die Corona-Krise Chinas Aufstieg in der Weltwirtschaft, seine Aufholjagd gegenüber dem Westen, weiter zu beschleunigen. Und nicht nur das. Konnten die USA noch vor wenigen Jahren im Kampf gegen die Ebola-Epidemie die globale Führung beanspruchen, so stellte der Harvard-Politikprofessor Stephen M. Walt bereits im März erschüttert fest, der Umgang der Trump-Administration mit der Covid-19-Pandemie sei ein »peinliches Debakel«. Und im April stellte Richard Haas, Präsident des einflussreichen US-Council on Foreign Relations, trocken fest, in Ermangelung von »US-Führung« wendeten sich Länder, die auf der Suche nach Hilfe seien, nicht mehr an Washington, sondern in zunehmendem Maß an Beijing. Der desaströse Umgang der Trump-Administration mit der Pandemie hat das weltweite Ansehen der USA seither noch weiter lädiert.
Dass sich die weltwirtschaftlichen und damit perspektivisch auch die weltpolitischen Gewichte wohl schneller als gedacht in Richtung China verlagern, führt schon jetzt zu Konsequenzen. Die USA, gegen ihren Abstieg kämpfend, weiten ihre Aggressionen gegen die Volksrepublik auf allen Ebenen in immer höherem Tempo aus – mit stets neuen Wirtschaftssanktionen, in zunehmendem Maß auch mit militärischen Provokationen etwa im südchinesischen Meer, wo sie in diesem Jahr ihre Marinemanöver ausgeweitet haben und den Druck auf Anrainerstaaten erhöhen, sich wider ihren Willen offen gegen Beijing zu positionieren.
Auch die EU intensiviert ihre Bemühungen, sich im Machtkampf mit China zu behaupten. Der mittlerweile an Schwung gewinnende Versuch, sich mit den Konzernen Ericsson und Nokia als globaler Marktführer beim Aufbau der 5G-Netze zu etablieren, zeugt ebenso davon wie die zunehmende antichinesische Agitation; erst kürzlich beschimpfte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell die Volksrepublik als ein »neues Imperium«, das »autoritär« und »expansionistisch« auftrete und das Völkerrecht missachte – ein interessanter Vorwurf mit Blick etwa auf die völkerrechtswidrigen Kriege und den »Anti-Terror-Krieg« der westlichen Mächte.