Warum sich die Polizei nicht ändern wird
Die Polizei wurde geschaffen, um die Arbeiterklasse und arme Menschen zu kontrollieren – nicht, um sie zu schützen
Von Sam Mitrani
Den meisten Debatten über die Polizeimorde an unbewaffneten Schwarzen Männern liegt die Annahme zugrunde, dass die Polizei die Bevölkerung schützen und ihr dienen soll. Dazu sei sie schließlich geschaffen worden. Wenn nur die normalen, guten Beziehungen zwischen der Polizei und der Bevölkerung wieder hergestellt werden könnten, könnte das Problem gelöst werden.
Arme Menschen werden häufiger Opfer von Verbrechen als jede andere Bevölkerungsgruppe, so die Argumentation, und deshalb brauchen sie mehr als alle anderen den Schutz der Polizei. Vielleicht hat sie ein paar Übeltäter in ihren Reihen, aber wenn die Polizei nicht so rassistisch wäre, wenn sie Polizeipraktiken wie Stop and Frisk (1) beenden würde, wenn sie nicht so viel Angst vor Schwarzen hätte, oder wenn sie weniger unbewaffnete Männer erschießen würde, könnte sie eine nützliche Behörde sein, die uns gute Dienste leistet.
Die Polizei wurde nicht geschaffen, um die Bevölkerung zu schützen oder Verbrechen zu verhindern
Diese liberale Art, das Problem zu sehen, beruht auf einem Missverständnis über die Ursprünge der Polizei und darüber, wozu sie geschaffen wurde. Die Polizei wurde nicht geschaffen, um die Bevölkerung zu schützen und ihr zu dienen. Sie wurde nicht geschaffen, um Verbrechen zu verhindern, zumindest nicht so, wie es sich die meisten Menschen vorstellen. Und sie wurde sicher nicht geschaffen, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Sie wurde geschaffen, um den neuen auf Lohnarbeit basierenden Kapitalismus, der Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts entstand, vor eben jener Bedrohung zu schützen, die dieses System hervorbrachte: der Arbeiterklasse.
Wie die Polizei entstand
Vor dem 19. Jahrhundert gab es nirgendwo auf der Welt Polizeikräfte, wie wir sie heute kennen. Im Norden der Vereinigten Staaten gab es ein System gewählter Constables und Sheriffs, die der Bevölkerung gegenüber auf sehr direkte Weise viel mehr Rechenschaft schuldeten als die Polizei heute. Im Süden waren die »Slave Patrols« das, was einer Polizei am nächsten kam. Diese Milizen bestanden aus Weißen, die Jagd auf versklavte Schwarze machten, die zu fliehen versuchten, Versammlungen und Rebellionen niederschlugen und oft auch Bestrafungen auf den Plantagen übernahmen.
Als dann die Städte im Norden wuchsen und sich mit zumeist eingewanderten Lohnarbeiter*innen füllten, stellte die wohlhabende Elite, die die Stadtregierungen stellte, Hunderte, bald dann Tausende bewaffneter Männer ein, um in den neuen Arbeitervierteln Ordnung zu schaffen.
Der Klassenkonflikt erschütterte im späten 19. Jahrhundert amerikanische Städte wie Chicago, das 1867, 1877, 1886 und 1894 große Streiks und Unruhen erlebte. Bei jeder dieser Unruhen griff die Polizei die Streikenden mit brutaler Gewalt an, auch wenn die US-Armee 1877 und 1894 schlussendlich eine größere Rolle bei der Unterdrückung der Arbeiterklasse spielte. Im Gefolge dieser Bewegungen präsentierte sich die Polizei zunehmend als jene dünne blaue Linie, die die Zivilisation (womit sie die bürgerliche Zivilisation meinte) vor dem Chaos der Arbeiterklasse schützte. Diese Ordnungsideologie, die sich im späten 19. Jahrhundert entwickelte, hallt nach bis in die Gegenwart – mit dem Unterschied, dass heute eher arme Schwarze und Latinos als eingewanderte Arbeiter*innen als größte Bedrohung gelten.
Im Süden der USA waren im 19. Jahrhundert die Slave Patrols das, was einer Polizei am nächsten kam.
Natürlich bekam die herrschende Klasse nicht alles, was sie wollte, und musste in vielen Punkten den eingewanderten Arbeiter*innen nachgeben. Das ist zum Beispiel der Grund, weshalb die Stadtregierungen davon Abstand nahmen, das Sonntagstrinken zu unterbinden, und weshalb sie so viele Einwanderer, vor allem Iren, als Polizisten anheuerten. Trotz dieser Zugeständnisse sorgten die Unternehmer dafür, dass die Polizei der demokratischen Kontrolle weitgehend entzogen wurde, dass sie ihre eigenen Hierarchien, Kodizes und Verhaltensregeln entwickelte.
Die Polizei grenzte sich von der Bevölkerung ab, indem sie Uniformen trug, eigene Regeln für Einstellung, Beförderung und Entlassung aufstellte, einen speziellen Korpsgeist ausbildete und ein Selbstverständnis als Hüter der Ordnung entwickelte. Und trotz Beschwerden über Korruption und Ineffizienz erhielt sie immer mehr Unterstützung von der herrschenden Klasse. Das ging so weit, dass in Chicago Geschäftsleute Geld sammelten und der Polizei aus eigener Tasche Gewehre, Artillerie, Schnellfeuergeschütze wie Gatling Guns und Gebäude finanzierten und Mittel für den Aufbau einer Polizeirente bereitstellten.
Bewaffneter Arm der herrschenden Klasse
Es gab keine Zeit, in der die städtische Polizei »das Gesetz« neutral durchsetzte oder auch nur diesem Ideal nahe kam (genauso wenig, wie das Gesetz selbst je neutral war). Im Norden der USA verhaftete sie im gesamten 19. Jahrhundert meist Menschen wegen des vage definierten »Verbrechens«, gegen die öffentliche Ordnung verstoßen zu haben, oder wegen Landstreicherei. Das bedeutete, dass die Polizei jeden festnehmen konnte, den sie als Bedrohung ansah. Im Süden setzte sie in der Nach-Bürgerkriegszeit die Vorherrschaft der Weißen durch und verhaftete im großen Stil Schwarze auf Grundlage erfundener Verstöße, um sie in das System der Sträflingsarbeit zu zwingen. (2)
Die von der Polizei ausgeübte Gewalt und ihre moralische Trennung von denen, über die sie »wachte«, sind nicht der Brutalität einzelner Beamter anzulasten. Sie sind die Folge einer kalkulierten Politik, die darauf zielte, die Polizei zu einer Institution zu machen, die die sozialen Probleme, die eine auf Lohnarbeit beruhende Wirtschaftsweise mit sich bringt, mit Gewalt zu lösen.
In der kurzen, heftigen Depression Mitte der 1880er Jahre war Chicago zum Beispiel voll von Prostituierten, die auf der Straße arbeiteten. Viele Polizisten erkannten, dass diese Sexarbeiterinnen meist verarmte Frauen waren, die versuchten, ihr Überleben zu sichern, und tolerierten ihr Verhalten zunächst. Doch die Polizeiführung bestand darauf, dass die Streifenpolizisten ihre Pflicht taten und diese Frauen festnahmen, Geldstrafen verhängten und sie von den Straßen und in die Bordelle vertrieben.
Ähnlich bei der Streikwelle von 1885. Auch hier sympathisierten einige Polizisten zunächst mit den Streikenden. Doch als die Polizeiführung und der Bürgermeister von Chicago beschlossen, die Streiks zu zerschlagen, wurden Polizisten, die sich weigerten, entlassen. In diesen und tausend ähnlichen Ereignissen wurde die Polizei zu einer Kraft geformt, die der Arbeiterklasse und den armen Leuten die Ordnung aufzwingt, unabhängig von den individuellen Gefühlen der beteiligten Beamten.
Kann es eine demokratische Polizei geben?
Seit der Gründung der Polizei hat sich viel verändert – vor allem der Zuzug von Schwarzen in die Städte des Nordens, die Schwarze Bürgerrechtsbewegung Mitte des 20. Jahrhunderts und die Schaffung des aktuellen Systems der Masseninhaftierung (3), die zum Teil eine Reaktion auf diese Bewegung war. Diese Veränderungen hatten einige neue polizeiliche Methoden, aber keinen grundlegenden Wandel der Polizeiarbeit zur Folge.
Die Polizei wurde geschaffen, um mit Gewalt die Wahldemokratie mit dem industriellen Kapitalismus zu versöhnen. Heute ist sie nur ein Teil des Strafjustizsystems, das nach wie vor dieselbe Rolle spielt. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Ordnung gegenüber jenen durchzusetzen, die am meisten Grund haben, das System abzulehnen – das sind in unserer Gesellschaft überproportional viele arme Schwarze.
Ein demokratisches Polizeisystem ist vorstellbar – aber das ist nicht, was wir haben. Und es ist auch nicht das, wofür die Polizei geschaffen wurde.
Ein demokratisches Polizeisystem ist vorstellbar – ein System, in dem die Polizei von den Menschen, über die sie wacht, gewählt wird und ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Aber das ist nicht, was wir haben. Und es ist auch nicht das, wofür das aktuelle Polizeisystem geschaffen wurde.
Wenn es eine positive Lehre aus der Geschichte der Polizei gibt, dann die, dass, wenn Arbeiter*innen sich organisierten, sich weigerten, sich zu unterwerfen oder zu kooperieren, und den Stadtverwaltungen Probleme machten, sie die Polizei von den schlimmsten Aktivitäten abhalten konnten. Die Ermordung einzelner Polizeibeamter, wie am 3. Mai 1886 in Chicago oder am 20. Dezember 2014 in New York, hat jene, die nach harter Repression rufen, nur gestärkt. Aber Widerstand in großem Stil könnte die Polizei verunsichern. Das geschah in den frühen 1880er Jahren in Chicago, als die Polizei die Niederschlagung der Streiks abbrach, Einwanderer einstellte und versuchte, nach ihrer Rolle bei der brutalen Niederschlagung des Aufstands von 1877, eine gewisse Glaubwürdigkeit in der Arbeiterklasse wiederzuerlangen.
Die Polizei könnte zurückgedrängt werden, wenn die Proteste nach den Morden an Eric Garner, Michael Brown, Tamir Rice und zahllosen anderen weitergehen. Wenn das passiert, wäre das ein Sieg für all jene, die heute auf die Straße gehen. Und es würde Leben retten – auch wenn, solange das System, das Polizeigewalt zur Kontrolle eines großen Teils seiner Bevölkerung benötigt, überlebt, jede Änderung der Polizeiarbeit das Ziel hat, die Armen wirksamer in Schach zu halten.
Wir sollten im Kopf behalten, dass der Ursprung einer Institution entscheidend ist – und die Polizei wurde von der herrschenden Klasse geschaffen, um die Arbeiterklasse und die Armen zu kontrollieren, nicht, um ihnen zu helfen. Daran hat sich nichts geändert.
Die englische Originalversion des Artikels erschien bereits am 29. Dezember 2014 bei The Labor and Working Class History Association. Übersetzung: Jan Ole Arps
Anmerkungen:
1) Stop and Frisk ermöglicht es Polizist*innen in New York City, Personen verdachtsunabhängig zu kontrollieren, festzunehmen und zu verhören. Von Stop and Frisk sind überdurchschnittlich People of Color und Schwarze Amerikaner*innen betroffen. Im Jahr 2017 waren 90 Prozent derer, die in New York mittels Stop an Frisk kontrolliert wurden, Schwarz oder latinx.
2) Die massenhafte Vermietung Schwarzer Gefangener an Unternehmen und Privatpersonen in den Südstaaten hatte Bestand bis in die 1930er Jahre. Hunderttausende wurden, häufig mittels rassistischer Straftatbestände, in dieses Zwangsarbeitssystem gepresst. Heute bieten vor allem privat geführte, profitorientierte Gefängnisse Häftlinge als günstige Arbeitskräfte an.
3) In den USA sitzen 2,3 Millionen Menschen hinter Gittern, das sind fast ein Viertel aller weltweit in Gefängnissen Inhaftierten. Etwa 33 Prozent der Inhaftierten (aber nur zwölf Prozent der US-Bürger*innen) sind Schwarz. Afroamerikaner*innen, vor allem junge Schwarze Männer, werden von der Polizei überdurchschnittlich häufig kontrolliert und bei Vergehen überdurchschnittlich oft inhaftiert. Zudem wächst die Wahrscheinlichkeit, wegen Bagatelldelikten wie nicht bezahlter Bußgelder im Gefängnis zu landen, wenn man arm ist. Das Armutsrisiko für Schwarze US-Bürger*innen liegt fast 100 Prozent über dem US-Durchschnitt.