Tödliche Solidarität
US-Polizeigewerkschaften entstanden aus der Opposition zur Bürgerrechtsbewegung – ihre Existenz begünstigt nachweislich Polizeigewalt
Von Malte Meyer
In US-amerikanischen Städten, deren Police Departments mit Gewerkschaften Tarifverträge abgeschlossen haben, kommt es nicht nur häufiger zu Beschwerden über polizeiliches Fehlverhalten, unter unbewaffneten Zivilist*innen fordert Polizeigewalt dort auch mehr Todesopfer. Begünstigt die Existenz von Polizeigewerkschaften also ein besonders gewalttätiges Auftreten der Polizei? Diesen Schluss jedenfalls legen Recherchen der Campaign Zero nahe, die aus der Black-Lives-Matter-Bewegung heraus entstanden ist. Seit 2015 setzen sich die Aktivist*innen der Kampagne dafür ein, dass die Zahl der Todesopfer polizeilicher Gewaltausübung in den USA von derzeit mehr als 1.000 pro Jahr möglichst rasch auf Null reduziert wird. Im Rahmen ihrer Untersuchungen werteten sie Tarifverträge aus zahlreichen Städten aus, bekamen aber auch Schützenhilfe von Hackern, die interne Dokumente der berüchtigten Fraternal Order of Police an den britischen Guardian weiterleiteten. Ergebnis: Zahlreiche Tarifverträge sehen vor, dass Vermerke über dienstliches Fehlverhalten nicht öffentlich gemacht werden dürfen und nach einem bestimmten Zeitraum auch wieder gelöscht werden müssen. Zudem muss verdächtigen Beamt*innen häufig viel Zeit gelassen werden, sich im (ohnehin seltenen) Fall einer internen Ermittlung auf ihre Aussage vorzubereiten.
Derartige Bestimmungen, die die Ahndung von Polizeigewalt und institutioneller Diskriminierung behindern, gehören zur Erbinformation gewerkschaftlicher Cop Culture in den USA. Immerhin entstanden die US-amerikanischen Polizeigewerkschaften in ihrer heutigen, sehr einflussreichen Form aus der direkten Opposition zum Civil Rights Movement der 1960er Jahre. Um den Gewaltexzessen des damals noch fast ausschließlich weißen Polizeiapparats zu begegnen, setzten sich insbesondere schwarze Bürgerrechtsorganisationen dafür ein, die Polizei mithilfe ziviler Aufsichtsgremien einer stärkeren demokratischen Kontrolle zu unterziehen. Weil viele Beamte aber bereits linksliberale Reformvorschläge wie die nach öffentlich einsehbaren Strafregistern und Personalakten von Polizisten mit einem drohenden Ende ihrer faktischen Immunität vor Strafverfolgung gleichsetzten, schlossen sie sich seit den frühen 1970er-Jahren verstärkt zu Polizeigewerkschaften zusammen. Seither bemühen sich diese Verbände mit beträchtlichem Erfolg darum, Ermittlungen gegen Straftäter*innen in Uniform durch tarifvertragliche oder auch gesetzliche Klauseln so effektiv wie möglich zu unterbinden. Etliche Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen, aber auch Dissident*innen aus der Polizeipraxis sehen Cop-Gewerkschaften deshalb als das größte Hindernis auf dem Weg zu einer antirassistischen Reform der US-Polizei an.
»Bad kind of unionism«
Wie groß genau dieses Hindernis ist, verdeutlichen bereits einige Zahlen. Mit Ausnahme einiger Reviere im tiefen Süden sind inzwischen die Polizeibehörden nahezu jeder Großstadt in den USA gewerkschaftlich organisiert. Nach Schätzungen sind sogar rund 70 Prozent aller 1,1 Millionen US-Ordnungshüter*innen Mitglied einer Polizeigewerkschaft und machen die Berufsgruppe (nach den Feuerwehrleuten) damit zu einer der bestorganisierten überhaupt. Die vor allem lokal verankerten Polizeigewerkschaften haben sich in drei nationalen Dachorganisationen zusammengeschlossen, von denen die Fraternal Order of Police mit knapp 350.000 Mitgliedern die größte ist und am weitesten rechts steht. Die National Organization of Police Associations hat 240.000 Mitglieder, aber auch der zum AFL-CIO zählenden und ebenfalls Donald Trump unterstützenden International Union of Police Associations gehören noch über 100.000 Polizeibeamt*innen an. Aufgrund ihres außergewöhnlichen Organisationsgrades gehören Polizist*innen heute zu den mit am besten bezahlten Beamtengruppen, und ihre finanziell gut gepolsterten Gewerkschaften werden von Demokraten (öffentlicher Dienst) und Republikanern (law and order) gleichermaßen hofiert.
Viele Tarifverträge enthalten Klauseln, die die Ahndung von Polizeigewalt und institutioneller Diskriminierung behindern.
Um ihre ökonomischen und politischen Ziele durchzusetzen, kaufen die Polizeigewerkschaften zum einen professionelle Lobbyist*innen ein oder leisten Wahlkampfhilfe für Politiker*innen, die sich tough on crime zeigen – Donald Trump gehört zu ihren größten Nutznießern. Daneben wenden sie aber auch klassischere gewerkschaftliche Kampfmittel an: demonstrative Nachlässigkeit bei der Ausstellung von Bußgeldbescheiden, kollektives Krankfeiern (blue flu) oder andere Formen von Arbeitsverweigerung. Wenn sie gegen eine vermeintliche »Diskriminierung von Polizisten« zu Felde ziehen oder dafür werben, dass in weiteren Bundesstaaten sowie auf Bundesebene Police-Officer-Bill-of-Rights-Gesetze eingeführt werden, bedienen sich die Gewerkschaften zur Vertuschung von rassistischer Polizeigewalt sogar der Rhetorik der Bürgerrechtsbewegung. Die jüngste Kapriole in diesem Zusammenhang scheint die Blue-lives-matter-Kampagne zu sein, die die Tötung von Polizist*innen als Hassverbrechen eingestuft und entsprechend hart bestraft sehen möchte, vor allem aber natürlich die Legitimität von Black Lives Matter bestreitet.
Weil US-amerikanische Polizeigewerkschaften die Militarisierung der Polizei genauso unterstützen wie die Präsidentschaft Donald Trumps und rassistische Polizeigewalt unter den Teppich kehren, während ihre Mitglieder dem gefängnisindustriellen Komplex loyale Zulieferdienste leisten, mehren sich in der US-amerikanischen Linken seit einigen Jahren Forderungen nach einer politischen Ächtung oder zumindest Distanzierung von Polizeigewerkschaften. Das ansonsten eher um Gewerkschaftsnähe bemühte Magazin Jacobin etwa erklärte Polizeigewerkschaften zum »bad kind of unionism« und forderte ihren Ausschluss aus dem Dachverband: »Der Bulle, der heute für Tarifverträge demonstriert, wird sich schon morgen um den Schutz von Goldman Sachs kümmern.« Und in Seattle hat das dortige Gewerkschaftsbündnis die ihm angehörende Seattle Police Officers‘ Guild mit 1.000 Mitgliedern unlängst ultimativ aufgefordert, sich öffentlich zum Kampf gegen Rassismus und Polizeigewalt zu bekennen – andernfalls drohe ihren 1.000 Mitgliedern der Ausschluss aus dem Ortskartell.
Polizist*innen raus aus dem DGB?
Auch in Deutschland sind in den letzten Jahren gewerkschaftslinke Forderungen nach Ausschluss der Gewerkschaft der Polizei (GdP) aus dem DGB etwas lauter geworden. Immerhin lassen sich hierzulande nicht nur bei der Deutschen Polizeigewerkschaft und ihrem AfD-nahen Anführer Rainer Wendt propagandistische Versuche beobachten, die realen Machtverhältnisse zwischen hochgerüsteten Staatsorganen und »beschwerdeschwachen« Bevölkerungsgruppen auf den Kopf zu stellen. Auch die GdP etwa fährt seit einigen Jahren eine PR-Kampagne mit dem Titel »Auch Mensch«, die Polizist*innen als Gewaltopfer darstellt und auf diese Weise von brutalen Polizeieinsätzen, rassistischem Profiling und extrem rechten Netzwerken in der deutschen Polizei ablenkt.
Im Fall des 2005 im Dessauer Polizeigewahrsam verbrannten Oury Jalloh erstattet die GdP Sachsen Anhalt über den gewerkschaftlichen Rechtsschutz für den 2012 wegen fahrlässiger Tötung verurteilten Dienstgruppenleiter Verfahrenskosten in Höhe von mehreren Hunderttausend Euro. Gegenwärtig läuft die GdP vor allem gegen das neue Berliner Antidiskriminierungsgesetz Sturm, weil sie berufliche Nachteile für ihre Mitglieder befürchtet, falls Beschwerden über diskriminierende Polizeipraxis laut werden. Der nordrhein-westfälische Landesverband der GdP forderte das Innenministerium in Düsseldorf deshalb sogar dazu auf, fortan keine Kolleg*innen mehr zu Einsätzen nach Berlin zu schicken.
Weil sie von Korpsgeist, Kameraderie und dem unter Uniformträger*innen ohnehin verbreiteten Autoritarismus zehren, erweisen sich Polizeigewerkschaften tatsächlich nicht nur in den USA, sondern auch in anderen Ländern als besonders effektive Hindernisse bei der Durchsetzung demokratischer Polizeireformen. Umgekehrt dürfte es aber kaum ausreichen, beim Kampf gegen rassistische Polizeigewalt lediglich die Polizeigewerkschaften in den Fokus zu rücken und vom sonstigen Polizeiapparat und seiner Funktion zur Stabilisierung der herrschenden Ordnung abzusehen. Bereits eine weitreichende Demilitarisierung der Polizei, wie sie von der Campaign Zero ebenfalls gefordert wird, dürfte sich deshalb nur im Zuge fundamentaler gesellschaftspolitischer Veränderungen durchsetzen lassen.