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|Thema in ak 661: Polizei

Die notwendige Abschaffung der Polizei

Um die Black-Lives-Matter-Bewegung war es still geworden, aber sie war nie weg – ihr ist es zu verdanken, dass nun über die Definanzierung der Polizei gesprochen wird

Von Mihir Sharma

Zeichnung einer Black-Lives-Matter-Demonstration, im Vordergrund hält eine Demonstrantin ein Schild mit der Aufschrift "Defund the Police" in die Höhe
Nach den heftigen Protesten gegen den Polizeimord an George Floyd hat der Stadtrat von Minneapolis inzwischen versprochen, die Polizei abzuschaffen. Wird er das Versprechen halten können? Illustration: Andreas Homann

Kollektiv einen Lynchmord mitzuerleben, kann lähmend sein«, sagte der afroamerikanische Denker Robin D. G. Kelley bei einer Veranstaltung mit Angela Davis am Freitag, den 5. Juni. »Der Mut der Menschen ist daher außergewöhnlich.«

Seit nach dem Mord an George Floyd am 25. Mai die ersten Demonstrant*innen die Straßen von Minneapolis in Beschlag genommen haben, ist in allen großen und vielen kleineren Städten der USA die Empörung gegen die brutale Polizeigewalt gegen Schwarze Menschen Anlass für Demonstrationen, Gedenkveranstaltungen, Riots – und ein Ende ist nicht in Sicht. Trotz der prekären Umstände nach dem Corona-Lockdown gab es an manchen Tagen Proteste in allen 50 US-Bundesstaaten gleichzeitig. Sie inspirierten Demonstrationen in über 20 Ländern auf der ganzen Welt. Demonstrant*innen in Berlin, Hamburg, Paris, Wien, London, Glasgow, Amsterdam und anderswo skandierten Anfang Juni »Black Lives Matter!«; in Bristol versenkten Demonstrant*innen die Statue von Edward Colston, einem britischen Politiker und Sklavenhändler, der mit dem Denkmal als »Wohltäter« geehrt wird, im Hafenbecken.

Die Polizei von Minneapolis hat eine besonders schreckliche Bilanz, wenn es um die Tötung von Zivilist*innen geht, einschließlich einer besonders hohen Anzahl von People of Color – in einer Stadt mit einer weißen Bevölkerungsmehrheit von 63 Prozent. Allein im Jahr 2019 wurden in den Geschwisterstädten Minneapolis und St. Paul und ihrer unmittelbaren Umgebung acht Menschen von der Polizei getötet, darunter drei Schwarze Männer, ein Mann mit asiatischer, einer mit hispanischer Abstammung und ein Native American. Frühere Fälle im Bundesstaat Minnesota wie der des Afroamerikaners Philando Castile (1) hatten keine Anklagen gegen die beteiligten Beamten zur Folge.

George Floyd hatte laut Autopsiebericht eine Corona-Infektion überstanden, aber im Zuge der Pandemie seinen Job verloren.

Der lokale Kontext in Minneapolis hat aber auch viele Gemeinsamkeiten mit anderen US-Städten, die scheinbar spontane Proteste erlebten. Hierzu gehört die enorm gestiegene Arbeitslosigkeit in den USA seit Beginn der Corona-Pandemie: Hatte die offizielle Arbeitslosenquote USA-weit im Februar noch bei 3,5 Prozent gelegen, stieg sie im April auf beinah 20 Prozent an und pendelte sich im Mai bei gut 16 Prozent ein. Mehr als 40 Millionen Menschen haben demnach seit März zumindest vorübergehend ihre Jobs verloren – Medien und Beobachter*innen ziehen Parallelen zur Großen Depression in den 1930ern, auf deren Höhepunkt die offizielle Arbeitslosigkeit 25 Prozent betrug.

Auch die Zahl der Corona-Infektionen und -Todesfälle ist so hoch wie in keinem anderen Land der Welt: Zwei Millionen Infizierte zählen die USA offiziell, weit mehr als 100.000 Menschen sind an Covid-19 gestorben – nicht mit eingerechnet jene Todesfälle und Krankheiten, die infolge der Krise im Gesundheitswesen nicht behandelt wurden. Sowohl von der Arbeitslosigkeit als auch von der Corona-Krise sind überproportional viele Afroamerikaner*innen, aber auch lateinamerikanische, indigene und arme Communities betroffen. Auch der am 25. Mai ermordete George Floyd hatte laut Autopsiebericht selbst eine Corona-Infektion überstanden, aber im Zuge der Pandemie seinen Job verloren.

Der Aufstand in Minneapolis

Vor diesem Hintergrund entwickelten die Proteste schnell eine riesige Wucht. Es dauerte nur wenige Tage, bis das Polizeipräsidium des 3. Bezirks von Minneapolis, in dem die an Floyds Tötung beteiligten Beamten Dienst taten, umzingelt war und die verbleibenden Polizist*innen sich für Flucht entschieden. Wie der Brand im Gebäude begann, ist nicht bekannt. Jedenfalls wurden nach dem Abbrennen des Präsidiums die dort gefundenen Waffen, Munition und anderen Materialien unter den Demonstrant*innen verteilt. Die Proteste waren von Anfang an unerbittlich, und wie die Theoretikerin Keeanga Yamahtta-Taylor es ausdrückte: »Was bei den Protesten in Minneapolis und im ganzen Land unverkennbar ist, ist das Gefühl, dass der Staat entweder mitschuldig ist oder keine wesentlichen Veränderungen bewirken kann.«

Angesichts der inzwischen sicheren Nominierung von Joe Biden als demokratischer Kandidat für die bevorstehenden Wahlen blicken nicht viele Menschen hoffnungsvoll auf die Zukunft der US-Politik. Die Trump-Regierung blockierte in den letzten Monaten Hilfspakete für die arbeitende Bevölkerung, stellte aber Geld für die Rettung von Großunternehmen bereit und lockerte die Quarantänemaßnahmen auf dem Höhepunkt der Pandemie.

Seit ihrem Beginn sind die Proteste gegen den Mord an George Floyd mit massiven Einsätzen von Polizei und Nationalgarde konfrontiert, Donald Trump droht seit Tagen mit dem Einsatz der Armee. Auch Anhänger*innen weißer nationalistischer Gruppierungen tauchten bei Protesten auf, um Demonstrant*innen zu bedrohen oder die Proteste zu infiltrieren und zu Gewalt anzustacheln. Weiße Nationalist*innen haben ihre Präsenz im Bundesstaat Minnesota seit der Wahl Trumps massiv verstärkt, die Zahl rechtsgerichteter Organisationen hat zugenommen.

Die Zahl rechtsgerichteter Organisationen in Minnesota hat seit der Wahl Trumps 2016 zugenommen.

Die Demonstrant*innen haben sich gegen diese Angriffe behauptet und vieles versucht, um sich vor der Polizei zu schützen. Ein Großteil der Selbstverteidigung wurde von antifaschistischen und Nachbarschaftsgruppen organisiert. Das selbstorganisierte Medienkollektiv Unicorn Riot senden seit Beginn der Proteste fast ununterbrochen von den Straßen von Minneapolis, ebenso Hunderte Bürgerjournalist*innen – während sich die Massenmedien auf Sachschäden konzentrierten.

Die Zerstörung von Eigentum und die gezielte Anwendung von Gewalt verändern, könnte man denken, die Bedingungen des Protests. Die Gefahr der gewaltsamen Unterdrückung durch den Einsatz des Militärs wächst, dennoch bleibt die Zustimmung zu den Protesten trotz der Riots unverändert hoch.

Inzwischen ist auch eine wachsende Zustimmung zu Forderungen festzustellen, die Polizeibudgets massiv zu kürzen und die Mittel in gemeindebasierte Gesundheitsinitiativen, Schulen und soziale Infrastruktur zu reinvestieren. Die Ankündigungen, die manche Städte in diese Richtung gemacht haben, klingen fast, als seien sie vom Forderungskatalog der Black-Lives-Matter-Bewegung der vergangenen Jahre inspiriert.

Nach den Erschießungen mehrerer unbewaffneter Schwarzer unter anderem in Ferguson/Missouri im August 2014, in Baltimore, in Los Angeles und New York hatte die Black-Lives-Matter-Bewegung in vielen Orten in den USA Wurzeln geschlagen und auch auf der anderen Seite des Atlantiks Proteste inspiriert. Doch nachdem 2016 Donald Trump ins Weiße Haus gewählt worden war, wurde es stiller um die Bewegung, aus den Mainstream-Nachrichten verschwand sie weitgehend. Was ist mit Black Lives Matter passiert?

Was ist aus Black Lives Matter geworden?

Hinter den Kulissen, nachdem die Kamerateams Ferguson, Baltimore und andere Orte des Widerstands verlassen hatten, bauten die Initiativen, die im Zuge des Ferguson-Aufstands entstanden waren (2), ein Netzwerk von über 150 von Schwarzen geführten Organisationen in den Vereinigten Staaten und darüber hinaus auf.

Die Movement for Black Lives (M4BL), wie das Dachnetz heißt, hat seitdem weiter gearbeitet und das Themenspektrum, entsprechend der Bedürfnisse der Communities, stetig erweitert: von der Bekämpfung von Polizeigewalt bis zur Umgestaltung der öffentlichen Gesundheitsversorgung und dem Gespräch über Generationen-Traumata. Am 6. Juni dieses Jahres sendete die Bewegung eine Email an ihre Abonnent*innen mit der Bitte, Breonna Taylor, eine Schwarze Rettungssanitäterin, die am 13. März in ihrem Haus in Louisville /Kentucky von einem Polizisten erschossen worden war, posthume Geburtstagskarten zu schreiben. Einige Stunden später bat die nächste Mail um Spenden für die #defundpolice-Kampagne. Seit die ersten Proteste in Minneapolis ausgebrochen sind, hat die Movement for Black Lives Hunderttausende Masken verschickt und Desinfektionsmittel verteilt, um den Demonstrant*innen Schutz gegen Infektionen zu bieten.

Die Bewegung mag aus den Nachrichten verschwunden sein, aber ihre Entwicklung vom Protest gegen die Tötungen Schwarzer Menschen durch die Polizei zu ganzheitlichen Visionen von einer Zukunft ohne Polizei ist in vollem Gange.

Das Fundament der aktuellen Proteste

Ein Ergebnis der Arbeit, die die Bewegung in den letzten Jahren in Zusammenarbeit mit bereits früher gegründeten Organisationen geleistet hat, ist, dass als die Proteste in Minnesota begannen, die Protest-Infrastruktur innerhalb weniger Stunden in Gang kam. Kautionsfonds wie die des Black Visions Collectives in Minnesota, von Critical Resistance in Kalifornien oder des Bail Projects in Missouri halfen Demonstrant*innen aus der Klemme. Die Social-Media-Strategie der Proteste wurde auf nationaler Ebene koordiniert, einschließlich Direktiven für die Verwendung von Hashtags und die Priorisierung von Inhalten.

M4BL erarbeitete auch einen Aktionsplan für die Unterstützung der Proteste. Dieser war USA-weit koordiniert, enthielt Vorschläge zur Verteidigung gegen die Polizei und Forderungen wie die nach Beendigung der Kriminalisierung Schwarzer Menschen. Er wurde vor Ort um lokale Forderungen wie der nach Schließung des Gefängnisses »The Workhouse« in St. Louis oder nach Kürzung des Polizeibudgets in Minneapolis um 45 Millionen US-Dollar ergänzt.

Auch für die Einführung neuer Proteststrategien spielte die USA-weite Organisierung eine wichtige Rolle. »Die Redner beim BLM-Protest am Freitagabend sagten den Weißen in der Menge ausdrücklich, dass es unsere Aufgabe bei Protesten ist, Schwarze Körper vor der Polizei zu schützen und Schwarze Stimmen zu verstärken«, erzählte mir Eliza Bryant, Mitglied der Chicagoer Lehrergewerkschaft Anfang Juni.

In Minneapolis weigerten sich Busfahrer*innen, festgenommene Demonstrant*innen in den Polizeigewahrsam zu transportieren.

Abgesehen von den Anstrengungen Tausender Organisator*innen und Aktivist*innen trug die spontane Solidarität, teils von unerwarteter Seite, zum Schneeballeffekt der ersten Protesttage bei: In Minneapolis weigerten sich Busfahrer*innen, festgenommene Demonstrant*innen in den Polizeigewahrsam zu transportieren. Die Schulbehörde erwägt, die Verbindungen zur Polizei zu kappen. Und Michelle Higgins, eine Organisatorin der Movement for Black Lives und aktiv bei Faith for Justice in St. Louis/Missouri, sagte mir am Telefon: »Eines der Dinge, die mir aufgefallen sind, ist, dass gerade am Anfang auch viele Weiße zu den Aktionen erschienen sind, viele von ihnen sehr jung, 18 Jahre und jünger. Das ist eine Generation, die mit TikTok, Teen Vogue und Ferguson aufgewachsen ist und durch die aktuellen Ereignisse nun erstmals auf die Straße geht.«

Die Aktivist*innen haben seit Ferguson gelernt, dass, selbst wenn es gelingt, Proteste und Demonstrationen ein Jahr lang aufrechtzuerhalten, die Ressourcen des Staates im Vergleich dazu unerschöpflich erscheinen, sagt Jonathan Fenderson, Aktivist und Dozent in St. Louis, der zu Schwarzen sozialen Bewegungen forscht. Die langfristige Strategie besteht darin, »Macht aufzubauen«, wie mir Kayla Reed, Organisatorin der Schwarzen Kampagnenorganisation Action St. Louis und prominentes Mitglied von M4BL, vor zwei Jahren erzählte.

Ferguson wählte Anfang Juni mit Ella Jones seine erste Schwarze Bürgermeisterin – ein Ausdruck davon, wie sich die Stimmung gewandelt hat. Schon im Jahr 2016 zwang die Bewegung die Polizei der Stadt zu Reformen. »Natürlich ist das ein Manöver, um ihre vollständige Abschaffung zu vermeiden«, sagte mir ein Aktivist 2018. Das war das Jahr, in dem die Mobilisierungen gegen die Masseninhaftierung in einer Kampagne zur Schließung des Workhouse gipfelten, jenes berüchtigten Gefängnisses, in dem vor allem Schwarze und arme Leute unter erbärmlichen Bedingungen bis zu ihren Prozessen inhaftiert sind. Das Workhouse saugt jedes Jahr 16 Millionen US-Dollar aus dem Haushalt der Stadt St. Louis ab, die nach Ansicht der Aktivist*innen besser in die öffentliche Gesundheitsversorgung und in Rehabilitationsprogramme investiert werden sollten.

Geld für Gesundheit statt für die Polizei

Angela Davis schrieb 2003 das Buch »Are Prisons Obsolete?« (deutscher Titel »Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse?«). Robin D.G. Kelley erinnerte sich Anfang Juni im Gespräch mit ihr daran, dass die Leute sie seinerzeit für verrückt hielten, weil sie diese Frage stellte. Das hat sich grundlegend geändert. Am 5. Juni erklärte Lisa Bender, die Präsidentin des Stadtrates von Minneapolis: »Wir werden die Polizei von Minneapolis auflösen.« An ihre Stelle solle eine Behörde für öffentliche Sicherheit treten, so Bender, die sich auf Gewaltprävention und soziale Angebote für die Nachbarschaften konzentriert. »Situationen, in denen man früher die Polizei gerufen hat, könnten in Zukunft von Sozialarbeitern oder medizinischem Personal bewältigt werden«, erklärte Bender.

Ob die Ankündigung umgesetzt werden kann, ist noch offen. Minneapolis‘ Bürgermeister Jacob Frey lehnt die Auflösung der Polizei ab, müsste sich aber theoretisch dem Beschluss des Stadtrats mit Dreiviertelmehrheit beugen. Die Ankündigung kommt, während sich die M4BL darauf vorbereitet, ihre #defundpolice-Kampagne USA-weit zu starten. »Es gab auch eine Zeit, in der die Abschaffung der Sklaverei als ein unmögliches und unrealistisches Projekt erschien«, sagte ein Demonstrant mit #abolitionnow-T-Shirt am 5. Juni in St. Louis.

Ein Schwarzer Mann steht vor einer Gruppe von Polizisten und scheint ihnen etwas zuzurufen.
Ein Demonstrant am 28. Mai 2020 vor dem Polizeipräsidium in Minneapolis, das am Abend desselben Tages in Brand gesetzt wurde. Foto: Lorie Shaull / Flickr, CC BY-SA 2.0

Blake Strode, Direktor der linken Rechtshilfeorganisation Arch City Defenders, argumentierte in einer Stellungnahme: »Bei vielen wächst die Einsicht, dass ein Strafvollzugssystem, das staatlich sanktionierten Mord ermöglicht, sinnlos und selbstzerstörerisch ist. Wenn wir wirklich glauben, dass Schwarze Leben zählen und dass die anhaltende Polizeigewalt und Tötungen inakzeptabel sind, müssen wir aufhören, auf die Wirksamkeit der Polizei zu vertrauen. Wir müssen den Einfluss der Polizeiarbeit auf unsere Gesellschaft und unser Leben reduzieren. Wir müssen der Polizei die Finanzierung entziehen.«

Einige nennen es den neuen Abolitionismus, aber Anti-Gefängnis-Initiativen wie die von Angela Davis mitbegründete Critical Resistance in Kalifornien oder die Close-the-Workhouse-Kampagne in St. Louis arbeiten schon lange daran, die Abschaffung der Polizei vorstellbar zu machen. Entscheidend für diese Vision waren nicht nur Aufklärungskampagnen, sondern auch Kautionsfonds wie das USA-weite Bail Project und ähnliche, die für arme und Schwarze Inhaftierte, die zwar angeklagt, aber nicht vor Gericht gestellt wurden – aber dennoch inhaftiert sind, weil sie es sich nicht leisten konnten, eine Kaution zu bezahlen –, die Kautionskosten übernehmen und sie aus dem Gefängnis holen.

Repression und Solidarität

In vielen Ereignissen der aktuellen Protestwelle kommt die Priorität für eine Politik der solidarischen Fürsorge zum Ausdruck. Ein Symbol dafür sind die Menschenketten vor Polizeieinheiten, ein anderes die Unterstützung von black-owned Businesses, die besonders schwer von der Pandemie betroffen waren, ein drittes Gesten der Solidarität von Eigentümer*innen abgebrannter Geschäfte, die die Proteste trotz der erlittenen Schäden verteidigten – und sich damit dagegen wandten, dass die Empörung über Sachbeschädigungen den Anlass der Riots, die Polizeimorde an Schwarzen Menschen, verdrängt.

Als das Hashtag #JusticeforGeorgeFloyd in den sozialen Medien trendete, wiesen viele darauf hin, dass noch nichts unternommen worden war, um Gerechtigkeit für Breonna Taylor zu erreichen. Die Bewegung hat auf diese und ähnliche Kritiken reagiert, in denen es darum geht, dass die Ermordung Schwarzer Männer eher Empörung hervorruft als die Schwarzer Frauen, Transsexueller und nicht-binärer Menschen. Sie organisierte Geburtstagsfeiern und Auto-Demos im ganzen Land für Breonna Taylor und machte Druck für die Wiederaufnahme der Ermittlungen – mittlerweile mit Erfolg.

Der Diskurs hat sich verlagert, zum Beispiel wenn die alltägliche Gewalt in armen Gemeinden nun als Krise des Gesundheitswesens diskutiert wird. Auch hat die M4BL, die weitgehend von queeren Schwarzen Frauen geführt wird, eine dezidiert Schwarze feministische Agenda in die öffentliche Debatte eingebracht.

In vielen Ereignissen der aktuellen Protestwelle zeigt sich die Priorität für eine Politik der solidarischen Fürsorge.

Auch dieses Mal hat der Staat mit Gewalt auf die Proteste reagiert. Er hat Tränengas, Pfefferspray, Gummigeschosse, Hunde, Pferde eingesetzt – und Polizeiautos, die in die Protestmengen fuhren. Gleichzeitig versuchten lokale Regierungsbehörden, die Massen zu besänftigen, indem sie versprachen, ihre Forderungen zu erfüllen.

Durch die Verhängung von Ausgangssperren im ganzen Land und ihre wiederholte Verlängerung hat der Staat viele verärgert. In den sozialen Medien kursieren Videos von Polizisten, die mit Pfefferspray um sich sprühen und Passant*innen verprügeln. Aus mehreren Orten gibt es Berichte über Angriffe der Polizei auf Journalist*innen, mehrere ereigneten sich vor laufenden Kameras. Die Polizei hat – Stand Anfang Juni – mehr als 11.000 Menschen verhaftet; im Zusammenhang mit den Protesten ist von 19 Todesopfern die Rede, viele von ihnen Teilnehmer*innen der Proteste und der Großteil Schwarz.

»Die Strafverfolgungsbehörden haben haufenweise Anklagen gegen Demonstranten erhoben«, berichtet Michael Milton, Leiter des Bail Projects in St. Louis. Dies ist eine weitere Taktik, die während des Ferguson-Aufstandes erprobt wurde, um Proteste zu unterdrücken. Das Bail Project arbeitet rund um die Uhr, um sicherzustellen, dass die Menschen keine Zeit hinter Gittern verbringen müssen. Es ist ein wesentlicher Akteur im Netzwerk der Abolitionist*innen. In St. Louis hat es zusammen mit den Organisationen Arch City Defenders and Action St. Louis die Kaution für Tausende Schwarze und arme Menschen gestellt.

Wie es weiter geht

Inzwischen feiern die Demonstrant*innen erste symbolische Erfolge – in Washington D.C. etwa ließ die Bürgermeisterin einen riesigen Black-Lives-Matter-Schriftzug auf eine Straße schreiben, wozu die Demonstrant*innen »Defund the Police M4BL« hinzufügten. Im Fall von George Floyd sollen nun alle vier anwesenden Beamt*innen angeklagt werden. Der Fall von Breonna Taylor wurde wieder aufgenommen. Ein Richter hat einen Grund gefunden, die Mörder von Ahmaud Arbery, der am 23. Februar von zwei Weißen in Georgia beim Joggen erschossen wurde, anzuklagen. Mehrere Städte, darunter New York City, kündigten den Abzug von Geldern von der Polizei und ihre Umleitung in Projekte für Jugend und Soziales an – auch wenn sich noch zeigen muss, wie viel davon wirklich in die Tat umgesetzt werden wird.

Auch dass sich das Bewusstsein innerhalb der Bewegung geschärft hat und etwa die Anliegen Schwarzer trans Menschen oder Schwarzer Menschen mit Behinderung nun mehr Aufmerksamkeit erhalten (»Trans and All Black Lives Matter«), ist ein Erfolg. Abgesehen davon, dass die Abschaffung der Polizei von einer utopischen Vision zu einer realen Möglichkeit geworden ist, war der größte Erfolg bisher die Aktivierung Hunderttausender junger Menschen.

Doch die Fortschritte haben einen hohen Preis, und der Verlust von Menschenleben, Verletzungen und erlittene Traumata als Folge der Repression hinterlassen in vielen Gemeinden tiefe Spuren. Auch drohen – eine Lehre aus jahrzehntelanger Erfahrung mit Widerstand gegen Rassismus und Polizeigewalt – Kooptation, Spaltungen, Müdigkeit und andere Faktoren, die Dynamik der Bewegung zu brechen.

Reverend Sekou, Autor, Aktivist und Pastor aus St. Louis, der schon in den Ferguson-Protesten aktiv war, warnte: »Die Aufstände nach dem Tod von George Floyd sind in erster Linie Aufstände der armen Arbeiterklasse, und die Organisationen nutzen den Moment – wie sie auch sollten –, um politische Ziele durchzusetzen.« Die professionellen Organisatoren hätten von dieser Rebellion der Armen sehr profitiert, doch bleibe die Frage: »Werden die Armen von ihrer eigenen Rebellion profitieren?«

Wenn sich die Worte der Aktivist*innen materialisieren sollen, dann könnte die fast schon prophetische Rede von Kayla Reed bei einer Veranstaltung über die Abschaffung der Polizei Anfang 2019 in St. Louis ein Hinweis darauf sein, wohin die Bewegung gehen könnte: »Wir wollen die Abschaffung der Polizei, keine Reform. Was unsere Gegner tun werden, ist, dass sie uns ein paar Zugeständnisse machen, dann werden sie reagieren. Und dann werden wir mehr Überwachung bekommen, Fußfesseln und Gefahrenprognosen, was letztlich dazu führen wird, dass die gleichen Leute, die heute hinter Gittern sitzen, hinter Gittern bleiben. Im größeren Kontext sprechen wir über Gefängnisse. Einige Gefängnisse wurden geschlossen, das Rikers-Gefängnis in New York zum Beispiel, und jetzt eröffnet de Blasio (3) stattdessen kleinere Gefängnisse, weil sie nur auf das Problem reagieren, dass Rikers so weit von den Familien der Menschen entfernt war. Die Alternative besteht nicht darin, fünf kleinere Gefängnisse in jedem Bezirk von New York zu bauen, sondern darin, Menschen nicht mehr in Gefängnissen einsperren zu müssen. Punkt. Und gerade weil unsere Forderungen nach den Sternen greifen, müssen wir wachsam sein, dass unsere Gegner nicht unsere Begriffe übernehmen und damit eine Realität schaffen, die noch weiter von unseren Forderungen weg ist.«

Mihir Sharma

ist Mitglied der Arbeitsgruppe Anthropologie globaler Ungleichheiten bei der Bayreuth International Graduate School for African Studies (BIGSAS) und lehrt an der Universität Bayreuth. Er schreibt zu Anti-Rassismus, politischer Ökonomie und sozialen Bewegungen.

Anmerkungen:
1) Der 32-jährige Philando Castile war am 6. Juli 2016 bei einer Verkehrskontrolle in Falcon Heights/Minnesota vom Polizisten Jeronimo Yanez erschossen worden. Castiles Partnerin Diamond Reynolds, die ebenfalls im Auto saß, filmte das Geschehen und streamte es live auf Facebook. Yanez wurde im Juni 2017 von allen Anklagepunkte freigesprochen.
2) Am 9. August 2014 erschoss ein weißer Polizist in Ferguson, einer Vorstadt von St. Louis, den 18-jährigen Afroamerikaner Michael Brown. Der Aufstand, der daraufhin losbrach, versetzte der Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA einen Schub. Als im November 2014 die Anklage gegen den Polizisten fallen gelassen wurde, kam es erneut zu massiven Protesten in der Stadt.
3) Der Bürgermeister von New York City.