Kein Patentrezept
In der Aids-Pandemie wehrte sich die Treatment Action Campaign in Südafrika gegen die globalen Regeln zum geistigen Eigentum
Kapstadt, Südafrika, am 10. Dezember 1998. Vor der St. George’s Cathedral versammelt sich ein Dutzend Protestierende. Auf ihren Plakaten fordern sie, dass die südafrikanische Regierung einen umfassenden Behandlungsplan für alle HIV-positiven Bürger*innen entwickelt und Azidothymidin an HIV-positive schwangere Frauen verteilt werden soll, um eine Mutter-Kind-Übertragung bei der Geburt zu verhindern. In einer Erklärung im Anschluss betonen die Protestierenden, die nun unter Treatment Action Campaign (TAC) firmieren, dass im Kampf gegen HIV/AIDS die hohen Medikamentenpreise ein Hauptproblem seien.
Obwohl sich HIV seit Anfang der 1990er Jahre in Teilen Südafrikas ausgebreitet hatte, wurde es erst Jahre später zu einer landesweiten Epidemie. Die Zahl der Infektionen stiegen von 1990 bis 2000 von einer auf drei Millionen. Ein Viertel der schwangeren Frauen, die das öffentliche Gesundheitssystem in Anspruch nahmen, war infiziert. Aufgrund einer Inkubationszeit von bis zu zehn Jahren sah sich Südafrika erst gegen Ende des letzten Jahrtausends mit einer schweren Epidemie konfrontiert. In der Zwischenzeit hatten Antiretrovirale Therapien (ART) den Verlauf von HIV anderswo erheblich verlangsamt. Aufgrund der Verfügbarkeit von qualitativ hochwertigen ART gingen die AIDS-bedingten Todesfälle in vielen Ländern des Globalen Nordens zurück. In Südafrika war das Gegenteil der Fall.
Die TAC ist vor allem eine weibliche Bewegung armer HIV-positiver Menschen und ihrer Verbündeten.
Trotz der anhaltenden Fixierung auf ihre bürgerlichen, männlichen Mitbegründer ist die TAC, die als eine der innovativsten sozialen Bewegungen des frühen 21. Jahrhunderts gilt, vor allem eine weibliche Bewegung armer HIV-positiver Menschen und ihrer Verbündeten. In den ersten beiden Jahren wurde ihre Arbeit von der Frage der Arzneimittelpreise dominiert. Die TAC unterstützte eine Änderung des südafrikanischen Arzneimittelgesetzes, die darauf abzielte, Wettbewerb auf dem Arzneimittelmarkt zu schaffen, um niedrigere Preise herbeizuführen. Es würde auch den Import von generischen Arzneimitteln erlauben und den generischen Ersatz von Arzneimitteln, deren Patente abgelaufen waren, zur Pflicht machen.
Die TAC-Aktivist*innen erfuhren erst im Nachhinein, dass eine von der US-Regierung unterstützte Koalition von rund 41 multinationalen Pharmakonzernen die Regierung Mandela im Februar 1998 verklagt hatte, um das geänderte Arzneimittelgesetz zu stoppen. Sie versuchten mit Protesten und transnationaler Öffentlichkeitsarbeit die Pharmakonzerne zur Einstellung ihrer Klage zu zwingen. Bei einem Protest im September 1999 forderten sie die Senkung der Preise für Medikamente wie Fluconazol (von Pfizer) und die sofortige Einstellung der Klage, die für die Aktivist*innen ein beschämender Versuch war, ihnen den Zugang zu einer erschwinglichen ART zu verwehren.
Feindliches Terrain
Die globale politische Ökonomie, in deren Rahmen die Regierung Mandela 1997 versuchte, das Arzneimittelgesetz zu ändern, war aus mehreren Gründen feindselig. Der wichtigste Grund war das TRIPS-Abkommen, ein Teil des damals neuen Handelsregimes der Welthandelsorganisation (WTO). Das Abkommen über handelsbezogene Aspekte geistiger Eigentumsrechte, das am 1. Januar 1995 inkraft trat, führte umfangreiche internationale Mindeststandards für den Schutz von Urheberrechten, Marken und Patenten ein. Alle Mitglieder der WTO waren fortan angehalten, diese in nationales Recht umzusetzen.
Textbausteine des Abkommens sowie ihre Narrative wurden in den 1970er bis 1980er Jahren von Industrieverbänden in den USA geschrieben. Das Pharmaunternehmen Pfizer trieb zu der Zeit einen diskursiven Wandel in den Verbänden voran, der einerseits den Bezug geistiger Eigentumsrechte im internationalen Handel etablierte und andererseits ihre Verletzung als Problem des Welthandels darstellte und Handelssanktionen als Lösung ins Feld führte. Unter dem Stichwort der Piraterie wurde im Zuge dessen eine öffentlichkeitswirksame Kampagne gestartet, die jede Art von Verletzung geistiger Eigentumsrechte mit Verweis auf Verluste für die US-amerikanische Wirtschaft kriminalisierte. Von den Verbänden überzeugt und durch die WTO legitimiert, klagte die US-Regierung den Schutz geistiger Eigentumsrechte weltweit ein, auch in Südafrika.
In Pretoria zog sich der Fall in den Gerichten hin. Im Oktober 1999 kehrten zwei TAC-Aktivisten mit 3.000 Kapseln Biozole – einer generischen Marke des Fluconazols von Pfizer – im Gepäck aus Thailand zurück. Sie berichteten öffentlichkeitswirksam von ihrer eigentlich illegalen Aktion, nachdem sie erfolgreich durch den Zoll gegangen waren. Für den Preis der 3.000 Kapseln, die sie in Thailand kauften, hätten sie in Südafrika nur 60 Markenkapseln von Pfizer bekommen. Von strafrechtlicher Verfolgung sahen die südafrikanischen Behörden aus Kulanz ab. Wiederholt wandte die TAC in Zusammenarbeit mit Ärzte Ohne Grenzen und dem Bund der südafrikanischen Gewerkschaften ähnliche Taktiken an, um ART, zum Beispiel aus Brasilien, zu importieren.
Die Erklärung von Doha
Zum Tag der Anhörung der Klage gegen den Südafrikanischen Staat, den 5. März 2001, folgten Aktivist*innen in 30 Ländern dem Aufruf der TAC, zeitgleich Proteste zu organisieren. Sowohl die EU als auch die niederländische Regierung verabschiedeten Resolutionen, in denen die Pharmahersteller aufgefordert wurden, ihre Klage einzustellen. Somit hatte die TAC die erste transnationale Protestkampagne des 21. Jahrhunderts erfolgreich in Gang gesetzt. In Pretoria selbst hatten in der Nacht zuvor 500 Menschen vor dem Gericht kampiert. Am Tag der Anhörung (die prompt vertagt wurde) marschierten 5.000 Menschen zur US-Botschaft. Als der Fall am 18. April 2001 wieder aufgenommen wurde, beantragten die Pharmahersteller erneut die Vertagung und stellten am nächsten Tag ihre Klage ein. Das geänderte Arzneimittelgesetz konnte verabschiedet werden.
Wenige Monate später begann die neue Verhandlungsrunde der WTO, die sogenannte Doha-Runde. Die entsprechende Ministerkonferenz verabschiedete die Erklärung von Doha zu TRIPS und globaler Gesundheit im November 2001. Diese umfasste sieben Paragrafen und griff einige Probleme auf, die die TAC thematisiert hatte. Im Wesentlichen hat die Ministerkonferenz erkannt, dass der Schutz des geistigen Eigentums Auswirkungen auf die Medikamentenpreise hat, obwohl diese gemeinhin als innovationsfördernd gelten. Der Globale Süden, so die Erklärung, sei besonders von Pandemien betroffen, und es bestand die Notwendigkeit, über das TRIPS Schritte zu unternehmen, um diese Probleme zu lösen. Maßnahmen, die den Schutz der öffentlichen Gesundheit zum Ziel haben, sollten von nun an Vorrang vor einer allzu restriktiven Auslegung der TRIPS haben.
Die Erklärung bekräftigte das Recht der WTO, Zwangslizenzen für Medikamente für Mitgliedsstaaten auszustellen und selber festzulegen, wann diese zum Einsatz kommen. Außerdem wurde Ländern ohne eigene Produktionskapazitäten die Möglichkeit eingeräumt, Generika importieren zu können. Die Erklärung appellierte an die Industriestaaten, den Technologietransfer in Länder des Globalen Südens zu fördern, und verlängerte die Frist zur Umsetzung der TRIPS im Bereich der Pharmaprodukte für die »am wenigsten entwickelten« Länder bis Januar 2016. Obwohl die Erklärung seinerzeit als Blaupause für Patente im Pharmabereich fungierte, finden mit der Zunahme bilateraler und regionaler Handelsabkommen seitdem vielerorts die strengeren TRIPS-plus-Bestimmungen Anwendung. Das strukturelle Problem bleibt aus diesem Grund bestehen.
Die Moral von der Geschicht‘
In den Bemühungen um einen Covid-19-Impfstoff ist die Frage der Patente und des globalen Zugangs daher nicht unwesentlich. Obwohl die EU-Geberkonferenz für den Covid-19-Impfstoff auf die »globale« und »öffentliche« Natur dieser Bemühungen verweist, geben die gegenwärtigen Strukturen des multilateralen Welthandels keine entsprechenden politischen Rahmenbedingungen her. Ein TAC-Aktivist berichtete im April 2020, dass sich die Pharmaunternehmen bereits 2005 strategisch wieder rekonstituiert haben. Sie patentierten nun diagnostische und therapiebegleitende Technologien, um auch bei bezahlbaren Medikamenten weiterhin Kasse zu machen.
Es lassen sich wichtige Lehren ziehen: Einerseits garantiert TRIPS den Pharmaunternehmen extrem hohe Gewinne. Andererseits werden ihre Schwachstellen in der Auslegung maßlos ausgenutzt. In beiden Fällen haben Millionen von Menschen keinen oder nur einen erschwerten Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten. Unlängst wurde berichtet, dass Donald Trump einem Tübinger Pharmaunternehmen Geld angeboten haben soll, um einen exklusiven Zugang zu einem potenziellen Covid-19-Impfstoff für die USA zu bekommen. Die Meldung wurde von verschiedenen Stellen zwar zurückgewiesen, aber ihre politische Brisanz liegt auf der Hand.