Impfungen sind Opfer ihrer Erfolge
Der Historiker Malte Thießen über Brüche in der Impfgeschichte und Impfkritik
Interview: Carina Book
Alle Welt wartet in diesen Tagen auf einen Impfstoff gegen Covid-19 – könnte man meinen. Und trotzdem gibt es eine immer lauter werdende Kritik am Impfen. Die wird vor allem von einer neuen Querfront vorgetragen und teilweise mit antisemitischen Ressentiments aufgeladen, es gibt aber auch andernorts eine große Impfskepsis.
Woher kommt die Angst vor dem Impfen?
Malte Thießen: Zunächst ruft das Impfen als Technik schnell Ängste hervor, denn die Vorstellung, dass man sich einen Krankheitserreger spritzt, um gesund zu sein, ist ja schon schwer nachvollziehbar. Die Sorge, dass Impfen schädlich sein könnte, besteht in der Impfgeschichte eigentlich von Beginn an. Dazu kommt, dass wir es hier mit dem sogenannten Vorsorgeparadox zu tun haben: Impfungen sind gewissermaßen Opfer ihrer Erfolge. Sobald Impfungen funktionieren, sieht man die Krankheit nicht mehr, gegen die sie wirken. Die Polio, also Kinderlähmung, oder Diphterie sind beispielsweise Krankheiten, die wir gar nicht mehr kennen. Wir haben es also mit unsichtbaren Bedrohungen zu tun. Und unsichtbare Bedrohungen erhöhen nicht unbedingt den Zuspruch zu Maßnahmen und Verhaltensänderungen. In der Abwägung zwischen individueller Freiheit und dem Allgemeinwohl spielt das Allgemeinwohl eine geringere Rolle – nicht, weil alle unsolidarisch wären, sondern weil die Bedrohung als nicht existent eingeschätzt wird. Deshalb ist es umso wichtiger, aufzuklären und die Risikoeinschätzung wirklich transparent zu machen.
Wann begannen denn die ersten Impfprogramme?
Das erste große Impfprogramm war das gegen die Pocken. Es wurde 1874 im Deutschen Reich als Pflichtmaßnahme in Deutschland eingeführt. Damals geht man davon aus, dass jede 20.000. bis 30.000. Impfung wegen der Nebenwirkungen tödlich ist. Das ist aber etwas, das man in Kauf nimmt angesichts der Gefahr, die von den Pocken ausgeht. Es wird gegeneinander abgewogen, wie viele Tote und wie viele schwere Krankheitsschäden durch die Impfung verhindert werden und wie viele unter den Folgen der Impfung leiden oder sterben.
Schwierige Abwägung, oder?
Ja klar, das macht die emotionale Aufgeladenheit von Impfdebatten auch aus. Die Entscheidung zu impfen trifft man selten für sich selbst – meistens entscheidet man ja für diejenigen, für deren Schutz man verantwortlich ist: für Kinder. Man will sicher gehen, dass man zum besten der eigenen Kinder entscheidet. Und da kommen wir wieder zum Kern der Debatte: Das Spannungsverhältnis zwischen dem Allgemeinwohl, also um die Herdenimmunität, um die es ja bei Impfungen geht, und dem Individualwohl, also der körperlichen Unversehrtheit des Einzelnen.
Im Moment ist die Impfpflicht in aller Munde. Gab es durchgängig eine Impfpflicht – oder gab es Brüche in der Impfgeschichte?
Nur im Fall der Pocken gab es die Impfpflicht durchgängig bis in die 1970er hinein. Das ist schon interessant, denn im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden noch viele weitere Impfprogramme aufgesetzt, zum Beispiel gegen Diphtherie oder Tuberkulose, später auch gegen Polio, also Kinderlähmung. Und bei all diesen anderen Impfungen gab es anfänglich die Überlegung, ob man auch hier eine Impfpflicht einführen soll. Letztlich entschied man sich, das Impfen auf freiwilliger Basis anzubieten. Es setzt sich im Laufe des 20. Jahrhunderts durch, dass es oft effektiver ist, an Bürger und Bürgerinnen zu appellieren, auf die Vernunft zu setzen, aufzuklären, statt mit Druck und Zwang eine Infektionskrankheit »auszumerzen«, wie es heißt.
Wie kam diese Erkenntnis zustande?
Die Diphtherieschutzimpfung wurde als freiwillige Impfung Ende der 1930er Jahre eingeführt, ausgerechnet im »Dritten Reich«. Wir wissen ja, dass es kein System gab, das gesundheitspolitisch stärkere Sanktionen, Verfolgungsmöglichkeiten und verbrecherische Maßnahmen wahrgenommen hat. Und ausgerechnet im Nationalsozialismus wird die Diphtherieschutzimpfung nicht als Zwangsmaßnahme eingeführt, sondern als freiwillige Maßnahme. Das verwundert vielleicht erst einmal. Aber eine Impfpflicht durchzusetzen kostet wahnsinnig viele Ressourcen und bindet viele gesellschaftliche Kräfte: Gesundheitsämter, Polizei, Ärzte, Krankenkassen und so weiter. Vor dem Hintergrund dieses Aufwandes kam die Überlegung auf, ob die Ressourcen nicht sinnvoller in Aufklärung und niedrigschwellige Angebote fließen könnten.
Es ist erstaunlich, dass das NS-Regime, das ja immer wieder auf den „gesunden Volkskörper“ abgestellt hat, es dann mit dem Impfen so locker genommen hat.
Man muss auch sehen, dass es schon vor 1933 eine breite Impfgegnerschaft in Deutschland gab. Die Impfgegner sahen bei der Machtergreifung zunächst ihre Stunde gekommen. Es gibt eine Zeitschrift des deutschen Impfgegner-Vereins, die mit einem großen Titel aufmacht: »Adolf Hitler – unser Führer, der größte Impfgegner«. Sie hatten das Gefühl, dass die Kritik an der Schulmedizin nun auf fruchtbaren Boden fällt. Und das war nicht abwegig. Auch Heinrich Himmler, Rudolf Heß, Julius Streicher und anderen NS-Größen wurde nachgesagt, die Schulmedizin zu kritisieren, Naturheilkundeverfahren zu bevorzugen und sich gegen das Impfen zu wehren.
Dann hat sich die Diphtherieschutzimpfung also nicht durchgesetzt?
Die Gesundheitsbehörden führten die Diphtherieschutzimpfung dann mit einer großen Propagandawelle ein. Es gab umfangreiche Werbung, Broschüren; sogar Theaterstücke wurden aufgeführt, die für das Impfen mobilisieren sollten. Und es wurde dafür gesorgt, dass das Impfen niedrigschwellig umzusetzen war; dass sozusagen die Impfung zu den Leuten kam. Mit dieser Strategie erreichte man eine Impfquote zwischen 90 und 95 Prozent. Zeitgleich gab es immer noch die Impfpflicht gegen die Pocken. Und obwohl diese Pockenimpfung eine Zwangsmaßnahme war, erreichte man nur eine Impfquote von 60-80 Prozent. Vor diesem Hintergrund kam es zu einem Umdenken. Warum sollte man Zwang einsetzen, wenn es freiwillig sehr viel effektiver ging?
Wann und wie kam es denn zur Ökonomisierung des Impfwesens?
Das hängt mit der Erfolgsgeschichte der Pharmaunternehmen zusammen. Tatsächlich war das Impfen lange Zeit erst einmal rein staatliche Sache; da spielten Pharmaunternehmen keine Rolle. Doch ab den 1920er und 1930er Jahren begannen Unternehmen wie die Behringwerke aus Marburg, selbst Impfungen im großen Stil anzubieten und diese auch für die staatlichen Impfprogramme bereitzustellen. Es ist zu beobachten, dass sich der Staat von da an aus den staatlichen Impfprogrammen zurückzog, bis er ab den 1960er Jahren eigentlich nur noch eine kontrollierende Funktion einnimmt.
Das ist immer wieder zentraler Bestandteil der Impfkritik, dass die Impfprogramme eigentlich nur den wirtschaftlichen Interessen der Pharmaindustrie folgen würden.
Dass Unternehmen Gewinne machen und diese maximieren wollen, mag man persönlich nicht toll finden, aber es ist aus Sicht der Unternehmen nur normal, dass die ihre Produkte an den Markt bringen wollen. Ob man Gesundheit als Ware definiert, ist weniger eine Entscheidung von Pharmaunternehmen als eine politische Entscheidung. Es hängt einfach von uns ab, welche politischen Rahmenbedingungen wir da setzen wollen. Wenn man Gesundheit als Grundrecht ansieht, dann ist es sinnvoll, dass staatlicherseits in möglichst viele Kompetenzen investiert wird. Das heißt aber nicht, dass der Staat tatsächlich selbst Impflabore aufbauen und Impfstoffe selbst herstellen muss. Momentan gibt es staatliche Kontrollmechanismen. Es gibt das Robert-Koch-Institut und das Paul-Ehrlich-Institut, die die Impfproduktion kontrollieren und auch die Zweckmäßigkeit im Austausch mit Wissenschaftlern überprüfen. Das ist das Mindeste, was wir haben sollten.
Du hast gerade das Robert-Koch-Institut erwähnt. Was sagen uns die Geschichtsbücher über Robert Koch?
Er ist tatsächlich wegweisend für viele Forschungen gewesen. Und deshalb ist es richtig, auch auf die dunklen Seiten zu verweisen und die Kolonialverbrechen in die Kritik zu nehmen. Es gibt gut aufgearbeitet entsprechende Experimente und Versuchsreihen von Robert Koch in afrikanischen Kolonien. Aber tatsächlich sticht Robert Koch nicht besonders heraus. Das war leider common sense in jener Zeit.
Und das wirkt ja scheinbar bis heute fort. Kürzlich haben zwei französische Ärzte für einen Skandal gesorgt, als sie gefordert haben, dass man einen möglichen Corona-Impfstoff zunächst in afrikanischen Ländern testen sollte. In einigen, besonders in frankophonen Ländern des Kontinents, gibt es manifeste Ängste, zum Versuchskaninchen gemacht zu werden.
Da gibt es in der französischen Geschichte eine unrühmliche Tradition, aber eben in der deutschen und britischen Geschichte genauso. Das hängt auch mit dem Kolonialismus zusammen. So ist das Bild, als Versuchslabor missbraucht zu werden, entstanden.
Das ist also nicht mehr so?
Gegenwärtig ist ein anderes Problem dominierend, nämlich, dass bei Impfstoffen immer dann fieberhaft geforscht wird, wenn es die westlichen Gesellschaften trifft. Viele Infektionskrankheiten, die eine große Bedrohung auf dem afrikanischen Kontinent sind, sind auf der gesundheitspolitischen Agenda hier und auch auf der Agenda der Pharmaunternehmen nicht sehr weit oben angesiedelt. Auch weil es sich nicht gut verkauft oder nicht die politische Relevanz zu haben scheint.
Kannst du dafür ein Beispiel geben?
Die Forschung zu AIDS ist so ein Fall. Im Zuge der Einführung vieler guter Therapeutika kann man in westlichen Ländern sehr viel besser mit AIDS leben als früher. Das heißt aber auch, dass die Impfstoffentwicklung, die eine Zeit lang extrem vorangetrieben wurde, mittlerweile keine Priorität mehr hat. Zynisch gesagt: Im Westen ist AIDS nicht mehr das Problem, sondern eben das Problem der anderen. Bei Ebola war es vergleichbar. Auch was Malaria anbelangt: Da wäre es tatsächlich ein Leichtes, mit verhältnismäßig wenigen zusätzlichen Ressourcen eklatante Verbesserungen herbeizuführen, aber das sind eben Bedrohungen, die nicht in das westliche Aufmerksamkeitsfenster zu passen scheinen. Und damit haben sie eben auch seltener den politischen Rückhalt, den es bräuchte.
In Zeiten von Corona läuft die verschwörungsideologische Impfgegnerszene zu Hochformen auf. Wie beobachtest du das?
Die Vorstellung, die Wissenschaft oder die Pharmaunternehmen würden uns »brainwashen« wollen, ist ein ganz beliebtes antisemitisches Narrativ, das gar nicht neu ist. Geschichte wiederholt sich dann leider doch manchmal … Aber die Wissenschaftsfeindlichkeit, die sich da artikuliert, hat es in diesem Maße und in dieser Verbreitung historisch noch nie gegeben. Es gab diese Vorstellungen zwar schon immer, aber die Sichtbarkeit ist heute größer, weil die entsprechenden Erzählungen sehr viel schneller geteilt und verstärkt wahrgenommen werden. Das macht mir große Sorgen.
Malte Thießen
ist Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte sowie apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zurzeit arbeitet er zur Geschichte der Gesundheit, zur Gesellschaft im Nationalsozialismus, zu Erinnerungskulturen und Zeitzeugen sowie zur Geschichte der Digitalisierung von den 1970er Jahren bis heute. Zur Geschichte des Impfens ist von ihm das Buch »Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert« im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen.