Ausnahmeräume und kollektiver Widerstand
Frauen in Lateinamerika kämpfen mit vielfältigen Strategien gegen die Normalisierung von sexualisierter Gewalt und prekäre Lebensbindungen
Von Jana Flörchinger und Susanne Hentschel
Wer durch das Zentrum von Ciudad Juárez, einer Grenzstadt im Norden Mexikos geht, sieht an zahlreichen Straßenzügen ein bis zwei schwarze Kreuze auf rosafarbenem Hintergrund an Wände, Ampeln, Laternen gemalt. Jedes Kreuz markiert einen Ort, an dem eine Frau ermordet oder zum letzten Mal gesehen wurde, bevor sie verschwand. Am 18. Januar kam ein Kreuz dazu. Es erinnert an Isabel Cabanillas, die nachts auf ihrem Heimweg auf offener Straße erschossen wurde. Die 26-jährige Feministin war Künstlerin, Mutter und Freundin, sie war Teil einer breiten feministischen Bewegung im Norden Mexikos, die unter anderem mehrere Haus- und Kulturprojekte binnen weniger Jahre aus dem Boden gestampft hat. Projekte, die sich Stück für Stück Teile jener Stadt zurückerobern, die Anfang der 2000er internationale Aufmerksamkeit erregte, nachdem dort systematisch Frauen ermordet wurden. Cabanillas war keine besonders prominente Aktivistin. Widerstand leistete sie mit ihrer Kunst. Es liegt nahe, ihre Ermordung als politischen Feminizid zu benennen, weil sie Teil einer Bewegung war, die auf ihre Art alternative Lebensweisen zu der alltäglichen brutalen Gewalt entwirft.
Der Mord an Cabanillas ist einer von vielen. Mexiko verfügt über eine der höchsten Feminizidraten Lateinamerikas. Alleine in Juárez wurden im letzten Jahr 180 Frauen ermordet. Isabel war nicht das letzte Opfer. Seit ihrem Tod wurden mindestens vier weitere Frauenmorde in der Stadt dokumentiert, deren leblose Körper teilweise auf offener Straße gefunden wurden. Auch wenn Femizide zu allermeist im Kontext häuslicher Gewalt geschehen, werden regelmäßig Fälle dokumentiert, in denen Täter sich nicht einmal die Mühe machen, ihre Taten zu vertuschen. Denn Aufklärung gibt es selten. Bei einer Straflosigkeit von 98 Prozent aller Verbrechen, wird auch nur ein Bruchteil der Femizide juristisch verfolgt oder überhaupt als solcher dokumentiert. Zu einer Verurteilung der Täter kommt es fast nie. Somit ist der Staat Komplize der Gewalt: Die Abwesenheit von Rechtsstaatlichkeit stellt Tätern nicht nur absolute Straffreiheit in Aussicht, sondern legitimiert ihre Verbrechen.
Kollektive Stärke des Protestes
So grausam die femizidale Offensive in Juárez ist, so beeindruckend ist auch der Widerstand dagegen. Ein Tag nach dem Mord an Cabanillas sind die Wände in Juárez voll von Grafittis und Murales, die an sie erinnern. Für die feministischen Kollektive ist klar: Die Tat galt auch ihnen. »Tocan a unx, respondemos todxs« (»Rühren sie eine* an, antworten wir alle«). Auch wenn die wenigsten Fälle von Femiziden überhaupt mediale Aufmerksamkeit erhalten, schafft es die feministische Bewegung immer wieder, die Morde zu politisieren und den eigenen Schmerz in eine rebellische Kraft umzuwandeln. So würdigen die Proteste nicht nur Cabanillas, sondern alle ermordeten Frauen in Juárez, Mexiko und weltweit, wie immer wieder betont wird. Gerade dies verleiht den lateinamerikanischen Feminismen eine so große kollektive Stärke.
So unterschiedlich die Auslöser der Proteste und die jeweiligen politischen Gemengelagen auch sein mögen, verbindet die Frauen in Lateinamerika die Wut über normalisierte sexuelle Gewalt und prekäre Lebensformen. In Argentinien hatte der Feminizid an Lucía Peréz im Jahr 2016 Massenproteste ausgelöst, die in der Chronologie der feministischen Bewegung vor Ort eine zentrale Rolle spielen. In wenigen Ländern ist die feministische Bewegung in den letzten Jahren indes so gewachsen wie in Chile.
Dort reißen die Proteste gegen die neoliberale Politik der rechts-konservativen Regierung trotz massiver Repression und Polizeigewalt gegen Demonstratnt*innen seit Monaten nicht ab. Das hat auch damit zu tun, dass die neoliberale Politik des Landes in den letzten Jahrzehnten ein beständig wachsendes soziales Unbehagen erzeugt hat. Feministische Gruppen richten dabei unermüdlich den Blick auf die Verschränkung sexualisierter Gewalt, ökonomischer Ausbeutung und staatlicher Repression.
Die Morde geschehen zwischen Fabrik, Diskothek und Akkordarbeit.
Dies kam auch in der Performance »Un violador en tu camino« (»Ein Vergewaltiger auf deinem Weg«) des Kollektivs Lastesis zum Ausdruck, die erst kürzlich weltweit für Aufmerksamkeit sorgte. Denn harte Sparmaßnahmen verschärfen die Verschuldung prekärer Haushalte, die häufig von Frauen alleine geführt werden. Die argentinischen Sozialwissenschaftlerinnen Verónica Gago und Luci Cavallero (beide aktiv in der Bewegung #NiUnaMenos, »Keine einzige mehr«) argumentieren, dass hieraus ein Verlust ökonomischer Selbstbestimmung erwächst, der Frauen verstärkt patriarchaler Gewalt aussetzt. So entwirft die Bewegung eine feministische Lektüre ökonomisch-struktureller Gewalt, ausgelöst durch neoliberale Politik.
Die Morde geschehen nicht zufällig
Das feministische mexikanische Kollektiv Hijas de su Maquilera Madre (»Töchter der Mütter, die auf Industrieplantagen arbeiten«), in dem auch Isabel Cabanillas aktiv war, leistet seit Jahren wichtige Aufklärungsarbeit hinsichtlich sexueller Gewalt in Juárez. Die Aktivist*innen betonen, dass Femizide und sexuelle Gewalt nur im Kontext ökonomischer Ausbeutung zu begreifen sind. Viele der Betroffenen sind ökonomisch marginalisiert, sie arbeiten in Fabriken, Textilwerkstätten oder der informellen Ökonomie. Die Morde geschehen zwischen Fabrik, Diskothek und Akkordarbeit. So sind die Femizide untrennbar verbunden mit der globalisierten Ökonomie, die Frauen als billige Arbeitskraft ausbeutet und ihren Gehorsam gewaltvoll erzwingt. Die feministische Anthropologin Rita Segato spricht von einer »grausamen Pädagogik« anhand derer Frauen gefügig gemacht werden sollen.
Aus der feminizidalen Offensive spricht eine tiefe Angst vor der Macht von Frauen und Queers, vor ihrem Streben nach Unabhängigkeit und Autonomie. Frauen, die ökonomisch eigenständig sein wollen, Lesben, die keine Männer zum lieben brauchen, Queers, die die eng gesteckten Grenzen der Geschlechter überschreiten – all sie unterwandern die patriarchale Autorität. Wenn sich Frauen und Queers patriarchalen Logiken und männlichen Dominanzen entziehen, erzeugt das eine Form der Entmachtung, die unter bestimmten Umständen in Hass auf diejenigen umschlägt, die sich ihrer Körper und der Räume, die ihnen zustehen, ermächtigen: Frauen und Queers.
Die Räume, die Cabanillas gemeinsam mit der feministischen Bewegung in Juárez geschaffen hat, entziehen sich der Deutungshoheit und dem Zugriff männlicher Dominanz. Es sind Ausnahmeräume, in denen der patriarchale Alltag außer Kraft gesetzt ist – zumindest teilweise. Es sind Entwürfe von Lebensweisen die auf Fürsorge, Gemeinschaft und Solidarität anstatt auf Konkurrenz und Vereinzelung aufbauen und andere Beziehungen schaffen. »Wir haben nur uns. Wir können nur uns selbst vertrauen, um Gerechtigkeit zu fordern, falls wir eines Tages ermordet werden«, heißt es in einem Statement des Kollektivs Hijas de su Maquilera Madre. Man müsse nicht nur protestieren, sondern über eine politische Organisierung hinaus Grenzen kontinuierlich und im Alltag überschreiten, um der Gewalt etwas entgegenzusetzen. Sie entwerfen damit eine politische Praxis, die für traditionelle Lebensweisen und diejenigen, die daran vehement festhalten, zur Bedrohung wird. Sexuelle Gewalt ist damit immer auch als eine Reaktion auf die wachsende Emanzipation von Frauen und Queers zu verstehen, ausgeübt von denjenigen, die meinen, ihre fragile Identität mit brutaler Gewalt gegen Frauen und Queers verteidigen zu können.
Der Widerstand ist überall
Kaum ein Tag vergeht seit dem politischen Feminizid an Cabanillas ohne eine Aktion, die an sie und andere Ermordete und verschwundene Frauen und Queers erinnert. Ihr Kollektiv Hijas de su Maquilera Madre organisierte eine Demonstration durch die Stadt, obwohl diese Art des öffentlichen Protestes lebensgefährlich sein kann. In einer binationalen Aktion von mehreren Hundert mexikanischen und US-amerikanischen Aktivist*innen wurden Teile der Grenzbrücke zwischen El Paso (USA) und Juárez (Mexiko) besetzt – eine der tödlichsten Grenzen und bestüberwachtesten Übergänge weltweit. All diese Aktionen verdeutlichen, dass Schmerz nicht nur in Ohnmacht resultiert, sondern in eine rebellische und zugleich produktive Kraft gewendet werden kann.
Nirgendwo sind zurzeit die Feminismen so kraftvoll, so massenhaft und gesellschaftsverändernd wie in einigen lateinamerikanischen Ländern, allen voran in Argentinien. Dort wurde 2016 der erste feministische Massenstreik organisiert, nachdem die 16-jährige Lucía Pérez brutal vergewaltigt und ermordet wurde. Weitere Aktionen folgten jedes Jahr am 8. März. »Wenn euch unsere Leben nichts wert sind, dann produziert doch ohne uns«, schrieben die Organisator*innen in ihrem Manifest im Jahr 2018.
Hunderttausende Frauen und Queers fluteten die Straßen zahlreicher Städte des lateinamerikanischen Kontinents. Alle Arbeiten, denen Frauen und Queers alltäglich nachgehen, seien sie entlohnt oder unentlohnt, sollten an diesem Tag liegenbleiben. Die Forderungen waren so divers wie die zahlreichen Kollektive, die in den unterschiedlichen Ländern zum Streik aufriefen. Hier ging es um das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche, dort um das Lohngefälle zwischen Frauen und Männern, woanders streikten Frauen und Queers im Gefängnis dafür, überhaupt einen Lohn zu erhalten und überall ging es um sexuelle Gewalt. Mit dem feministischen Streik entwickelte die Bewegung ein Instrument, um den Zusammenhang zwischen ökonomischer Ausbeutung und sexualisierter Gewalt zu politisieren. Ansatzpunkt ist dafür stets der patriarchal geprägte Alltag der Streikenden.
Seien es nun die Streikenden am 8. März, die Proteste in Chile oder die Freund*innen, die nach dem Mord an Isabel Cabanillas die Grenzbrücke blockieren: Sie alle sind dadurch verbunden, dass sie den Schmerz und die Ungerechtigkeit normalisierter Gewalt in eine kollektive, rebellische Kraft umwandeln, die sie aus einer alltäglichen Praxis solidarischer Beziehungen schöpfen. »Aus Versammlungen machen wir Demonstrationen, aus Demonstrationen Feste und aus Festen eine gemeinsame Zukunft«, schrieb das Bündnis #NiUnaMenos. Diese gemeinsame Zukunft wird schon jetzt greifbar: In der Sorge umeinander, in der Vielfalt der Lebensentwürfe und in der Gemeinschaftlichkeit in den Kollektiven entstehen Beziehungen, für die es sich zu kämpfen lohnt.