Schweres Erbe
Bis heute hält die von der Thatcher-Regierung vor 40 Jahren eingeleitete Phase der Austerität an
Von Lene Kempe
Kurz vor den britischen Unterhauswahlen, Ende November 2019, gab sich Boris Johnson weitsichtig. Schon vor Jahren habe er seinen Tory-Kolleg*innen gegenüber die Meinung geäußert, dass Austeritätspolitik nicht der richtige Weg sei, um Großbritannien nach vorne zu bringen. Als Premierminister wolle er einen neuen Kurs einschlagen: weg vom Erbe Thatchers, weg von einer lang geschliffenen Parteitradition, weg von der »Austerity«. Bereits 2018 hatte auch seine Vorgängerin Theresa May auf einer Tory-Konferenz verkündet, die Zeit der Austerität sei zu Ende. Jenseits der Frage nach der Glaubwürdigkeit solcher Beteuerungen, zeigen diese Schlaglichter: Im Ringen um den Brexit wurde nicht nur die Idee von einem politischen Projekt Europa verhandelt, sondern auch 40 Jahre Neoliberalismus im Vereinigten Königreich.
Aber worum genau geht es eigentlich in diesen Debatten, die sich zumeist auf die vergangenen zehn Jahre Krisenpolitik, also die Zeit nach 2007/2008, beziehen und zugleich selten ohne einen Verweis auf jene Frau auskommen, die vor nunmehr 40 Jahren Premierministerin des Vereinigten Königreichs wurde?
Der Begriff der Austerität ist in Großbritannien bis heute aufs engste verbunden mit dem Namen Thatcher. Die Tory-Politikerin führte von 1979 bis 1990 die Regierung. Unmittelbar nach ihrem Regierungsantritt leitete Thatcher mit großer Härte einen Politikwechsel ein. Was vielfach als konservative Transformation des Staates und der Gesellschaft beschrieben wurde, bedeutete in der Praxis einen ungewöhnlich schnellen und radikalen Prozess der De-Industrialisierung, die Entmachtung der Gewerkschaften, den weitgehenden Rückbau des britischen Wohlfahrtsstaates und einen erheblichen Machtzuwachs für das britische und internationale Finanzkapital.
Das britische Sozialstaatsmodell
Um die Tragweite dieses Umbruchprozesses zu verstehen, lohnt ein kurzer Blick zurück in die unmittelbare Nachkriegszeit. Etwa dreißig Jahre lang, bis Mitte der 1970er Jahre, hatte Großbritannien – wie nahezu alle westliche Staaten – an einer keynesianisch geprägten, das heißt an einer nachfragestützenden und dirigistischen Variante staatlicher Wirtschaftspolitik festgehalten. Der Staat wurde als ein wichtiger wirtschaftlicher Akteur angesehen, der steuernd in Marktprozesse eingreifen durfte und sollte.
Die Nationalisierung von Schlüsselindustrien, die Regulierung und Kontrolle des Finanzsektors (Kapitalverkehrskontrollen) und eine deutliche Steigerung der öffentlichen Ausgaben symbolisierten diese Wirtschaftspolitik ebenso wie die stärkere Einbindung von Gewerkschaften in die Arbeitsmarktpolitik und der Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Die Wirtschaftspolitik orientierte sich dabei an dem Ziel der Vollbeschäftigung.
Während andere europäische Länder wie Westdeutschland, Frankreich oder Italien in den 1950ern ihr Wirtschaftswunder erlebten, galt Großbritannien indes schon bald als der »kranke Mann Europas«. Die wirtschaftliche Entwicklung war geprägt durch ein stetiges Auf und Ab sowie regelmäßig wiederkehrende Währungskrisen. Der Eintritt in die Europäischen Gemeinschaften 1972 sollte neue Handelsbeziehungen stärken, aber die strukturellen Probleme der britischen Wirtschaft, insbesondere eine langanhaltende Investitionsschwäche, blieben bestehen. Die Arbeitslosigkeit stieg spürbar. Seit Ende der 1960er Jahre kam es in Folge von Massenentlassungen zu gewerkschaftlich organisierten, aber auch zu wilden Streiks und militanten Aktionen. Die Auseinandersetzungen weiteten sich auf weite Teile der Ökonomie aus und es gelang den Arbeiter*innen, teils erhebliche Lohnsteigerungen durchzusetzen.
Abkehr vom Nachkriegskonsens
Die Macht der Gewerkschaften war den konservativen Kräften zunehmend ein Dorn im Auge. Doch trotz dieser Turbulenzen wurde das britische Nachkriegsmodell bis Mitte der 1970er Jahre politisch sowohl von der sozialdemokratischen Labour-Party, als auch von den konservativen Tories im Kern mitgetragen.
Es war Margaret Thatcher, die mit dem bis dato gültigen Konsens brach. Sie wurde 1979 zur Regierungschefin gewählt, als streikende Arbeiter*innen weite Teile der Wirtschaft und der öffentlichen Infrastruktur lahmgelegt hatten und sich in Politik und Bevölkerung eine zunehmend antigewerkschaftliche Stimmung breit machte. Thatcher trat an, um eine radikale Transformation des britischen Sozialstaatsmodells sowie einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik einzuleiten.
Sie orientierte sich dabei an der Lehre Milton Friedmans, der mit dem Monetarismus den Gegenentwurf zur keynesianischen Nachfrageorientierung lieferte. Nicht die Sicherung der Beschäftigung, sondern die Verhinderung von Inflation, das heißt der Anstieg des allgemeinen Preisniveaus und eine damit verbundene Geldentwertung, ist aus monetaristischer Sicht die zentrale Aufgabe staatlicher Wirtschaftspolitik. Der Staat hat dafür nur die Rahmenbedingungen zu garantieren und soll sich ansonsten aus dem Wirtschaftsleben zurückziehen.
Thatcher forcierte also gleich nach ihrem Amtsantritt eine Politik des knappen Geldes. Zu hohe Staatsausgaben standen diesem Ziel ebenso entgegen wie hohe Lohnzuwächse. Eine rigide Haushalts- und Fiskalpolitik sollte sicherstellen, dass der Staat nur so viel ausgab, wie er einnahm. Ein ausgeglichener Staatshaushalt war das oberste Ziel, »Austerity«, was übersetzt so viel heißt wie »Sparsamkeit«, »Disziplin« oder auch »Entbehrung«, das Gebot der Stunde.
Der neoliberale Umbau des Staates
»There is no alternative« – es gibt keine Alternative: Dieser Satz begleitete in den folgenden elf Jahren den neoliberalen Umbau des Staates. Thatcher setzte den Rotstift an. Zuerst bei der Verwaltung, im Bildungswesen und im Bereich der öffentlichen Investitionen. Personal wurde entlassen, Kosten eingespart und das Bildungswesen auch ideologisch reformiert: Managementmethoden und der Konkurrenzgedanke hielten Einzug in Unis und Schulen. Darüber hinaus ließ sie Staatshilfen für Industrieunternehmen streichen und kündigte die Re-Privatisierungen von Staatsunternehmen an.
Der radikale Sparkurs zeigte seine Wirkung in Gestalt einer mehrere Jahre andauernden Rezession (Wachstumsschwäche) der Wirtschaft und rapide steigenden Arbeitslosenzahlen. Allein 1980 verloren 836.000 Menschen ihren Arbeitsplatz, ihre Gesamtzahl stieg bald auf über drei Millionen.
Schon in ihrer ersten Amtszeit nahmen vor diesem Hintergrund die sozialen Spannungen im Land zu, ebenso wie rassistische Übergriffe. Heftige Riots erschütterten 1981 England. Thatcher reagierte unnachgiebig. Anstatt die sozialen Folgen ihrer Politik finanziell abzufedern, ließ sie die Polizei aufrüsten. Als ihre Popularitätswerte sanken, spielte sie die nationale Karte. Im britisch-argentinischen Konflikt um die Falklandinseln, 1982, startete Thatcher einen Seekrieg und gewann: den Krieg wie auch die folgenden Wahlen.
In ihrer zweiten Amtszeit setzte sie den Kurs umso drastischer fort, ließ 40 Staatsunternehmen und lokale Versorgungsunternehmen privatisieren. Der einmalige Erlös wurde genutzt, um das Haushaltsloch zu stopfen. Viel Geld floss aber auch in den Ausbau des Dienstleistungs- und Finanzsektors. Davon profitierte vor allem der Süden des Landes und das Zentrum London, während sich Prekarität und Arbeitslosigkeit im vormals stark industriell geprägte Norden weiter ausbreiteten.
Die Wut über diese Politik entlud sich abermals, in dem einjährigen Streik britischer Bergarbeiter 1984/1985. Thatcher nutzte diesen für eine Machtprobe mit den Gewerkschaften. Mit Erfolg: Für die Minenarbeiter endete der Konflikt in einer Niederlage. Thatcher war es gelungen, die Macht der Gewerkschaften langfristig zu beschneiden.
Die Privatisierung des, bis dato zu einem großen Teil in staatlicher Hand befindlichen Wohnungsmarktes, war ein weiterer »Meilenstein« auf Thatchers Reformagenda. Mehr als eine Million Sozialwohnungen wurden verkauft. Die Bewohner*innen konnten ihr Haus zu einem deutlich reduzierten Preis erwerben. Dafür wurde der Zugang zu Krediten auf dem Finanzmarkt erleichtert, den Thatcher umfassend dereguliert hatte. Hohe Kreditsummen konnten ohne Sicherheiten und Rücklagen vergeben werden. Die Hausbesitzer*innen erhielten massive Steuererleichterungen.
Das brachte der Premierministerin nicht nur hohe Zustimmung ein, es stärkte auch den britischen Finanzplatz. Ohnehin waren der Finanz- wie auch der Dienstleistungssektor die Gewinner der neoliberalen Reformagenda. Die Abschaffung der Kapitalverkehrskontrollen und die Schwächung der Gewerkschaften war nicht zuletzt von dem Vorhaben getrieben, die Standortbedingungen der britischen Wirtschaft im globalen Wettbewerb zu verbessern.
Mit Erfolg: Ausländische Investor*innen und institutionelle Anleger kauften sich in großer Zahl in den britischen Markt, übernahmen ganze Unternehmen oder hielten Anteile. Damit gewann auch das Shareholder-Value-Prinzip, das auf kurz- und mittelfristige Rendite ausgelegt ist, an Bedeutung.
Zugleich schwächte Thatcher systematisch die regionalen und lokalen Verwaltungs- und Regierungsstrukturen und damit die oppositionellen Zentren der Labour-Party. Sie kürzte die Zuschüsse durch die Londoner Zentralregierung und beschränkte die finanzielle Autonomie der Verwaltungen. Marode Infrastruktur, hohe Arbeits- und Obdachlosigkeit, sinkende Einkommen und prekäre Erwerbsarbeit waren und sind insbesondere im Norden des Landes die Folgen dieser Politik.
Hatte Großbritannien 1976 im Rahmen des Nachkriegskonsens einen Höchststand an sozialer Gleichheit erreicht, fand unter der Regierung Thatcher eine gigantische Umverteilung von unten nach oben statt.
Von der Austerity zum Brexit
Thatcher war ohne Frage eine Vorkämpferin der neoliberalen Wende und eine der eifrigsten Verfechter*innen der »Austerity«. In gewisser Weise setzte sie damals allerdings »nur« den herrschenden Zeitgeist um. Neoliberale Ideen waren überall auf den Vormarsch. Sie wurden 1970, während der blutigen Pinochet-Diktatur in Chile erstmals und auf besonders perfide Art und Weise von den »Chicago Boys« in großem Stil umgesetzt.
Zudem änderten sich die globalen Rahmenbedingungen für solche Politiken seit Mitte der 1970er Jahren rapide: Der Übergang zu frei schwankenden Wechselkursen und die Liberalisierung der Finanzmärkte hatte neue Akteure in Gestalt großer institutioneller Anleger und global operierender Privatbanken hervorgebracht, die nun Anlagemöglichkeiten rund um den Globus suchten.
Viele der Reformschritte, die Thatcher eingeleitet hatte, waren in diesem veränderten globalen Setting kaum noch rückgängig zu machen. Die Rede von der Alternativlosigkeit bekam durch die neoliberale Globalisierung sozusagen einen materiellen Kern. So setzte auch (New-)Labour Thatchers Kurs Ende der 1990er Jahre unter Tony Blair unvermindert fort.
Nach zehn Jahren verschärfter »Austerity« im Rahmen der Krisenpolitik nach 2007/2008 allerdings ist dieses Politikmodell mehr denn je in Verruf geraten. Der Brexit lässt sich vor diesem Hintergrund auch als Suche nach einer gangbaren Alternative interpretieren.
Der Versuch Labours, mit einem ambitionierten Wahlprogramm, das unter anderem Rückverstaatlichungen vorsieht, Begeisterung für eine radikale Wende in der Wirtschafts- und Haushaltspolitik und eine Abkehr von der Austerität zu erzeugen, scheiterte zugleich. Und dass es wiederum mit Boris Johnson ausgerechnet einem rechts-konservativen Politiker gelungen ist, dieses Thema für sich zu vereinnahmen und sich als Anwalt der Abgehängten und Armen zu profilieren, empfinden viele linke Beobachter*innen zurecht als das eigentlich Drama des Brexits.