Das Gelbe vom Ei hängt an der Weste
Seit einem Jahr protestieren die Gilets Jaunes in Frankreich jeden Samstag - sie haben einiges erreicht
Von Bernard Schmid
Wie wird der erste Geburtstag gefeiert werden? Laut und lärmend? Mit öffentlich wahrnehmbarem Gepolter und vielen Gästen? Diese Fragen wurden im Vorfeld des ersten Jahrestages der Proteste der Gilets Jaunes, der Gelbwesten, in Frankreich aufgeworfen. Die ersten Verkehrsblockaden und Demonstrationen im Zusammenhang mit dieser neuartigen Protestbewegung hatten am Samstag, den 17. November 2018 stattgefunden. An diesem Tag folgten etwa 300.000 Menschen den Aufrufen, die in sozialen Netzwerken verbreitet worden waren, und besetzten im ganzen Land über 3.000 Kreisverkehre. Zunächst richteten sich die Proteste gegen eine ab 2019 geplante Spritsteuererhöhung – diese ist mittlerweile längst aus dem Fokus gerückt. An jedem der seitdem vergangenen Samstage gab es in französischen Städten und Kommunen Proteste im Zeichen des neuen Unmutssymbols.
Welche Aktionen am ersten Jahrestag stattfinden sollen, darüber beriet eine dreitägige Delegiertenversammlung Anfang November im südfranzösischen Montpellier, an der rund 600 Delegierte von Basiskollektiven aus ganz Frankreich teilnahmen. Es handelte sich bereits um das vierte Treffen dieser Art. Diese »Versammlungen der Versammlungen« beruhen auf einem Delegiertenprinzip mit durch örtliche Treffen verliehenem imperativem Mandat. Die Idee für das erste überregionale Treffen in Commercy stammte von einer örtlichen Zusammenkunft in der früheren Industriestadt: Das Mikrofon war ausgefallen, so dass man spontan beschloss, auf die Tribüne am vorderen Ende des Saals zu verzichten und sich stattdessen im Kreis hinzusetzen, damit alle besser hören konnten. Aus der Not wurde alsbald eine Tugend: Die »horizontale« statt »vertikale« Funktionsweise gefiel vielen Beteiligten. Daraus entwickelte sich der Aufruf zu einer überregionalen gemeinsamen Versammlung. An ihr nahmen Ende Januar rund 300 Delegierte aus 100 örtlichen Gruppen teil.
Organisierungs- und Diskussionsbedürfnis
Bei den Folgetreffen Anfang April in Saint-Nazaire sowie Ende Juni in der früheren Bergbaustadt Montceau-les-Mines und nun in Montpellier waren es jeweils etwa 600 bis 700 Delegierte aus 200 bis 250 örtlichen Treffen. Diese Zusammenkünfte spiegeln einerseits den progressiven Teil einer Protestbewegung wider, die vor allem zu Beginn politisch-ideologisch und sozial sehr heterogen zusammengesetzt war. Andererseits sind sie auch Ausdruck eines offensichtlichen Organisierungs- und Diskussionsbedürfnisses, das mit dem Rückgang der Beteiligung an den Protesten wuchs. Im November und Dezember 2018 lagen die Teilnehmerzahlen bei den Samstagsprotesten der Gilets Jaunes frankreichweit im sechsstelligen Bereich, seither liegen sie regelmäßig im fünf-, mittlerweile teilweise im vierstelligen Bereich. Die besetzten Kreisverkehre sind inzwischen geräumt. Ein Teil der dort während der Besetzungen geführten Diskussionen hat sich in die örtlichen Treffen und die frankreichweiten Delegiertenversammlungen verlagert.
Dabei führte der dortige Diskussionsprozess zur Definition eines ziemlich klaren Selbstverständnisses, auch wenn dieses in der Praxis noch mit konkreten Inhalten ausgefüllt werden muss. Nach längeren, anfänglich kontroversen Debatten einigte sich die dritte Delegiertenkonferenz Ende Juni darauf, dass man sich als »antikapitalistisch« verstehe. Eine Selbstdefinition, die durch rechte Kräfte nicht mitgetragen werden kann: Zwar bezeichnet sich die stärkste rechtsextreme Partei – der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen – selbst als Gegnerin wirtschaftsliberaler Politik, lehnt jedoch eine Positionierung als antikapitalistisch ab; die neofaschistische Partei versteht sich als Anhängerin eines stärker staatlich regulierten Kapitalismus. Andere außerparlamentarische rechtsextreme Organisationen wie die »Identitäre Bewegung« zeichnen sich durch ein stärkeres Desinteresse für die »soziale Frage« aus.
Bedeutet dies nun, dass die anfänglich vielfach von linker Seite geäußerte Kritik, bei der neuartigen und heterogenen Protestbewegung der Gilets Jaunes machten auch rechte Kräfte mit, falsch war? Nein. Vor allem während der ersten ein bis zwei Monate war diese Behauptung durchaus zutreffend. Zu den in den sozialen Netzwerken meistbeachteten Videos, in denen Anfang November 2018 zu den ersten Protesten am 17. November aufgerufen worden war, zählte jenes von Frank Buhler – einem in Südwestfrankreich ansässigen Politiker, den der Rassemblement National wegen zu weitgehender rassistischer Ausfälle zuvor ausgeschlossen hatte. Einer der ersten Verletzten an den Verkehrsblockaden war im November 2018 ein Kommunalparlamentarier des RN in Etaples-sur-Mer. Und glaubt man den durch demoskopische Institute durchgeführten Umfragen, dann stimmten bei den Europawahlen Ende Mai von denjenigen, die bei Befragungen erklärten, mit den Gelbwesten zu sympathisieren – eine allerdings reichlich vage Selbsterklärung, die nicht notwendig mit irgendeiner Aktivität korrespondiert – 44 Prozent für den RN. Das Durchschnittsergebnis der Partei in allen Bevölkerungsgruppen lag bei knapp 24 Prozent, wobei die Wahlbeteiligung 50,1 Prozent betrug.
Internationale Solidarität
Alles in allem hat eine »Entmischung« stattgefunden. Das anfänglich im Zentrum stehende Protestthema – eine Steuererhöhung bei Treibstoff für Kraftfahrzeuge – war geeignet, auch rechte Potenziale in der Gesellschaft zu mobilisieren. Reiner Anti-Steuer-Protest ist in Frankreich seit dem »Poujadismus« – einer mittelständisch geprägten, und antisemitisch grundierten Protestpartei mit Erfolgen in den 1950er Jahren unter Führung von Pierre Poujade – ein »rechts« angesiedeltes Thema.
Doch war die geplante Steuererhöhung nicht der einzige Beweggrund für den Protest. Schnell wurde das Thema als soziale Frage diskutiert. Zum einen, weil die umstrittene Erhöhung eine einkommensunabhängige Verbrauchssteuer und damit eine als besonders ungerecht betrachtete Steuerform betraf. Zum anderen, weil vor allem die Bevölkerung im ländlichen Raum ungleich stärker betroffen ist, die aufgrund des Wegsparens »unrentabler«, kleiner Bahnlinien in den letzten 15 bis 20 Jahren durch den Staat systematisch von öffentlichen Verkehrsmitteln abgehängt wurde. Auch deshalb sind die Gilets Jaunes von Beginn an eine Bewegung gewesen, die sich nicht – wie oft in der Vergangenheit – auf die urbanen Zentren Frankreichs beschränkte, sondern im Gegenteil ihre Kerne in den Provinzen im ganzen Land hat.
Schnell brachten die Debatten vor Ort, zunächst vor allem auf den besetzten Verkehrskreiseln, auch viele andere soziale Protestmotive aufs Tapet. In Westfrankreich bereits ab Ende November 2018, andernorts verstärkt ab Dezember 2018 beteiligten sich örtliche Gewerkschaftsgruppen – vor allem aus den linkeren Verbänden CGT und Solidaires/SUD – an den Protesten. Dies wiederum zum Ärger und Verdruss von rechtsorientierten Kräften. Letztere zogen sich oftmals aus den konkreten Protestaktivitäten zurück, allerdings gab es hier beträchtliche örtliche Unterschiede. Überdies verloren Rechte im Laufe der Monate aufgrund der wachsenden »Unübersichtlichkeit«, wegen der Präsenz auch von Linksradikalen und von Menschen aus der Einwanderungsbevölkerung und aufgrund der Auseinandersetzungen mit der Polizei in der Regel die Lust an den Protesten.
Hinzu kommt, dass Angriffe organisierter Rechtsextremer auf Linke innerhalb der Demonstrationen – wie am 26. Januar 2019 in Paris und Anfang Februar in Lyon – massiv zurückgeschlagen wurden. Geblieben ist unterdessen das rechte Narrativ, unter Berufung auf die im Zusammenhang mit den Gelbwesten-Protesten verzeichnete Repression und Polizeibrutalität (25 Menschen verloren durch den Einsatz von Gummigeschossen ein Auge, fünf Menschen je eine Hand durch Gasgranaten) zu behaupten, man lebe in einer »Diktatur« und sei Opfer eines Regimes, das nicht im Volksinteresse, sondern für »globalistische Kreise« herrsche. Bei jeder Diskussion über die Repression in anderen Staaten, wie zuletzt etwa im Irak, wird von rechter Seite wahrheitswidrig, aber vehement behauptet, in Frankreich sei es mindestens genau so schlimm, deswegen gebe es im übrigen auch keine legitimen Fluchtursachen.
Erfolgreicher als die Gewerkschaften
Auf die Straße geht die organisierte Rechte jedoch nicht mehr, zumindest nicht samstags mit den Gilets Jaunes. Diese haben sich seit dem Herbstbeginn 2019 eher für Themen der internationalen Solidarität geöffnet, etwa mit der kurdischen Bevölkerung in Rojava oder mit den sozialen Protesten in Chile. Auch wenn dies in den WhatsApp-Gruppen der Gelbwesten-Kollektive nicht unwidersprochen blieb, wo auch Nachrichten zu lesen waren, in denen behauptet wurde, die Protestbewegung verzettele und entferne sich von ihrer Natur. Bei vielen gewerkschaftlichen Protestaktivitäten, die seit dem Ende der diesjährigen Sommerpause wieder zunehmen, laufen Menschen mit, die sich gelbe Westen übergezogen haben. Die Gilets-Jaunes-Delegiertenversammlung in Montpellier Anfang November beschloss außerdem, zu einer aktiven Teilnahme an gewerkschaftlichen Streiks am 5. Dezember aufzurufen, die sich gegen die von der Regierung geplante Renten»reform« richten.
Dennoch bleibt die Distanz vieler Gilets Jaunes zu den Gewerkschaften bis heute bestehen. Dass die Bewegung von Beginn an keine Repräsentanten akzeptierte, war dabei zunächst auch ihre Stärke: Der Regierung jagte dieser unüberschaubare, spontan agierende Haufen eine Heidenangst ein. Frankreich hat in den vergangenen Jahren durchaus größere Mobilisierungen erlebt als die Samstagsproteste der Gilets Jaunes, die eher eine Art Avantgardebewegung (jedoch ohne einheitliche Ideologie) denn eine Massenbewegung bilden und nicht an die Teilnehmerzahlen etwa der Streiks von 1995, 2003, 2006 oder 2010 heranreichten. Doch waren die Gilets Jaunes erstens in ganz Frankreich präsent, und zweitens fehlte der Bewegung eben eine Spitze, mit der Verhandlungen hätten geführt, über die die Bewegung eingehegt und beruhigt hätte werden können. So ist zu erklären, weshalb am 8. Dezember 2018 ein Hubschrauber im Garten des Élysée-Palastes bereitstand, um Emmanuel Macron zu evakuieren: Die Gelbwesten hatten angekündigt, zum Élysée marschieren zu wollen. Und so ist auch zu erklären, weshalb die Regierung in kurzer Zeit Zugeständnisse machen musste: Die Steuererhöhung wurde verschoben, im Dezember 2018 außerdem ein Maßnahmenpaket und eine nationale Debatte angekündigt. Weitere Zugeständnisse folgten in Macrons TV-Ansprache Ende April.
Die Gilets Jaunes weisen dies alles als unzureichend zurück – eine Mindestlohnerhöhung etwa wurde durch die Erhöhung der staatlichen Zuschüsse, also aus Steuern finanziert, während die geforderte höhere Besteuerung von Reichtum und Gewinnen von Macron weiter vehement abgelehnt wird. Und doch stimmt es auch, dass die Bewegung in kurzer Zeit erfolgreicher war als alle gewerkschaftlichen Massenproteste der Jahre zuvor. Und auch wenn die Teilnehmerzahlen der Samstagsproteste zurückgegangen sind, haben die Gilets Jaunes eine bemerkenswerte Ausdauer unter Beweis gestellt. Tot ist die Bewegung noch lange nicht. Im Gegenteil: Sie feiert ihren ersten Geburtstag, während in anderen Teilen der Welt ganz ähnliche Begehren nach sozialer Gerechtigkeit ganz ähnlich spontan und radikal unorganisiert artikuliert werden.