Auf Sand gebaut
Internationale Großmächte sichern ihren Einfluss in Haiti über korrupte Strukturen – und Korruptionsvorwürfe
Auf den ersten Blick sehen die Wohnungen in Village Lumane Casimir nicht wie das Zentrum von irgendetwas aus. Sie stehen allein am Rande eines trostlosen Überschwemmungsgebietes, ein Dutzend Meilen außerhalb von Port-au-Prince, Haiti. 2011 zahlte die haitianische Regierung einer Firma aus der benachbarten Dominikanischen Republik 49 Millionen Dollar, um 3.000 Wohneinheiten für die Überlebenden des Erdbebens von 2010, das den größten Teil der Hauptstadt zerstört hatte, zu bauen. Weniger als die Hälfte dieser Wohnungen wurde jemals realisiert. Viele andere blieben halbfertig, zerstört oder leer.
Die allgemeine Verlassenheit der Wohnanlage täuscht hinweg über ihre entscheidende Rolle in Haitis größtem Skandal der letzten Jahren. Enthüllungen über massive Regierungskorruption bei öffentlichen Bauprojekten wie Village Lumane Casimir haben eine Protestbewegung ausgelöst, die Präsident Jovenel Moïse zu stürzen drohte.
Der Wohnkomplex wurde mit Mitteln gebaut, die das Land durch seine Teilnahme am Petrocaribe-Programm Venezuelas eingespart hate: Die venezolanische Regierung hatte der haitianischen Regierung erlaubt, Öl im Rahmen eines Zahlungsaufschubs zu kaufen und die verbleibenden Einsparungen zur Stärkung staatlicher Programme zu nutzen. Doch der traurige Zustand der Wohnungen stützt die Behauptungen unter Bewohnerinnen und Nachbarinnen, dass hochrangige Beamtinnen, Bürokratinnen und Bauunternehmen diese Mittel selbst eingesteckt haben.
Es gibt guten Grund zu dieser Annahme. Im Jahr 2017 veröffentlichte eine haitianische Senatskommission einen Bericht, in dem sie behauptete, dass Moïse und andere, darunter zwei Premierminister, fast zwei Milliarden Dollar an Petrocaribe-Geldern veruntreut und verschwendet hätten, die für Initiativen zur Wiederherstellung des Erdbebens bestimmt waren.
Village Lumane Casimir ist nur ein Beispiel für Hunderte von Bauprojekten, die die Regierung seit der Katastrophe bezahlt hat, die aber entweder nie begonnen, nie beendet oder nicht das wurden, was versprochen worden war. Die Veröffentlichung des Berichts erfolgte inmitten einer größeren Wirtschaftskrise. Proteste, die Transparenz, Rechenschaft und ein Ende der Ungleichheit forderten, legten den Handel und den Verkehr lahm. Seit August 2018 starben 40 Menschen. Der Wert der haitianischen Währung ist gesunken, während inmitten der um sich greifenden Ernährungsunsicherheit die inländische Agrarproduktion weiter abnimmt. Theoretisch muss Haiti irgendwann das Petrocaribe-Geld zurückzahlen.
Der Bausektor ist anfällig – nicht nur in Haiti
Die Verbindungen zwischen Korruption und dem Bausektor sind weder neu noch spezifisch für Haiti. Der Aufbau großer Infrastrukturen ist mit enormen Summen, mehreren Stufen und hochkomplexen Transaktionsnetzen verbunden. Dies erschwert die Übersicht und eröffnet Möglichkeiten für Bestechung, Preisinflation und Bezahlung trotz unvollständiger oder schlampiger Arbeit.
Expert*innen zufolge sind Bestechung, Betrug und Absprachen Hauptquellen für Korruption im Bauwesen, gefolgt von Veruntreuung, Vetternwirtschaft und Erpressung. (1) Weltweit gehen laut Weltwirtschaftsforum durchschnittlich 10 bis 30 Prozent des Wertes großer Bauprojekte durch Korruption verloren. Die Korruption geht auf Kosten der Lebensdauer von Gebäuden und von Menschenleben.
Haiti wurde als ultimative Kleptokratie geboren: eine Kolonie, die auf dem Diebstahl von Menschenleben basiert. Französische Sklavenhalter entführten und kauften Hunderttausende Menschen aus Afrika und brachten sie auf eine Insel, die den ursprünglichen Bewohnerinnen gestohlen wurde, um sie auf den Zucker- und Kaffeefeldern arbeiten zu lassen. Es brauchte einen 13-jährigen Krieg, bis die Haitianerinnen dieses System stürzten und 1804 schließlich die Unabhängigkeit erlangten. Doch trotz der Zerstörung der Sklavenhaltergesellschaft durch eine bewaffnete Revolution blieben viele der übergreifenden wirtschaftlichen Extraktionsstrukturen nach der Unabhängigkeit intakt.
Mit François Duvaliers Präsidentschaft ab 1957 veränderten sich diese. Mit ausgeprägtem politischem Geschick, Rücksichtslosigkeit und völliger Missachtung der Rechtsstaatlichkeit konsolidierte Duvalier ein repressives Regime unter dem Vorwand des Schwarzen Nationalismus. Durch den Ausbau eines Systems staatlich kontrollierter Monopole, das von seinen Vorgängern übernommen wurde, errichtete Duvalier eine Infrastruktur der Korruption, die zur Grundlage für drei Jahrzehnte autokratischer Herrschaft wurde.
Das staatliche Monopolamt, bekannt als Régie du Tabac, wurde zum Zentrum dieser Infrastruktur. Zunächst konzentrierte sich die Régie ausschließlich auf Tabakwaren, doch im Laufe der Zeit erweiterte die Regierung ihre Kontrolle auf Dutzende von Grunderzeugnissen. Die Régie erlaubte es, das Angebot und die Preise von Waren auf dem Inlandsmarkt zu kontrollieren. Sie berechnete eine Gebühr für alles, was durch ihre Türen kam. Die Nettobelastung durch die Zahlung höherer Preise für Grundverbrauchsgüter belastete natürlich Familien mit niedrigem Einkommen verhältnismäßig stärker.
Die durch die Régie eingenommenen Steuereinnahmen wurden kaum in den Staatshaushalt integriert oder in die Gesellschaft reinvestiert. Steuern wurden direkt auf persönliche Konten überwiesen, die von der Familie Duvalier kontrolliert wurden. Für die Einhaltung der Vorschriften durch die breitere Bevölkerung sorgte ein parteiisches paramilitärisches Netzwerk, das allgemein als Tonton Macoutes bekannt ist.
Zementproduktion: neokoloniale Abhängigkeiten
Dieses System hat die haitianische Bauwirtschaft stark beeinflusst. Der gesamte Zement des Landes stammt aus einem einzigen französischen Zementwerk außerhalb von Port-au-Prince, Ciment d’Haiti. Die Régie war einziger Abnehmer der Fabrik, die eine Steuer in Form einer »Vertriebsprovision« jedem einzelnen Zementsack hinzufügte, bevor sie ihn an Groß- und Einzelhändler im ganzen Land weiterverkaufte.
Trotz dieses Rufs der Korruption seit den ersten Jahren seiner Amtszeit genoss Duvalier zunächst die Unterstützung der Vereinigten Staaten. Die Ängste der USA vor dem Aufstieg Fidel Castros im benachbarten Kuba und das Vertrauen in Duvaliers Terror gegen die kleinen kommunistischen Fraktionen Haitis machten die Unterstützung seines Regimes für mehrere Jahre zu einem strategischen Gebot. Als sich in den frühen 1960er Jahren die regionale Dynamik änderte, wurde Duvalier für die Pläne der USA für Lateinamerika weniger wichtig.
Die Beziehung verkümmerte schließlich 1963, als Duvalier nicht bereit war, sich der US-Aufsicht über die für den Bau eines internationalen Flughafens in Port-au-Prince vorgesehenen Mittel zu unterwerfen. Unter Anführung der Korruptionsprobleme wollte die Kennedy-Administration die Autorität über das Projekt. Duvalier weigerte sich, ein geplantes Baudarlehen der US-Regierung anzunehmen. Stattdessen schloss er das Projekt mit Geld ab, das der haitianischen Bevölkerung durch Steuern, Razzien und sogar eine korrupte Lotterie entzogen wurde.
Trotz der Verschlechterung der offiziellen Beziehungen blieben die US-Beamt*innen daran interessiert, das Leben in Haiti zu beeinflussen. Im Dezember 1965 schrieb der Außendienstmitarbeiter Melville E. Osborne an den US-Botschafter in Port-au-Prince, um ein neues Hilfemodell vorzuschlagen, das die Autorität von Duvalier umgehen sollte. Osborne schlug vor, das Land in Einflussbereiche zu unterteilen, die unterschiedlichen US-amerikanischen Nichtregierungsorganisationen zugeordnet würden. Diese Agenturen wiederum würden US-Gelder nutzen, um Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheit, Ernährung, Wasser, Bildung, Landwirtschaft, Wirtschaft und Sicherheit anzubieten. Die Übernahme von sozialen Diensten, die üblicherweise mit der Regierung in Verbindung gebracht werden, sollte langfristigen US-Einfluss in Haiti trotz Duvalier sichern.
In den folgenden Jahren wurden die von Osborne geäußerten Ideen zum Grundpfeiler der US-Politik gegenüber Haiti. Hilfsgelder sollten durch ein weit verzweigtes Netz von Agenturen fließen, die Prioritäten und die Verteilung der Mittel kontrollieren würden. Heute ist die Kritik an dieser »Republik der NGOs« groß, insbesondere infolge der schlecht koordinierten internationalen Hilfsmaßnahmen nach dem Erdbeben.
Liberalisierung und Verstaatlichung
Als François Duvalier 1971 starb, folgte ihm sein Sohn Jean-Claude nach. Jean-Claude förderte ausländische Investitionen, leitete Liberalisierungsreformen ein und bezog Haiti in internationale Hilfsabkommen ein. Die USA und andere Länder erneuerten ihre Beziehungen zur haitianischen Regierung – doch diese neuen Beziehungen machten Haiti anfällig für die Forderungen der Vereinigten Staaten, des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank nach Strukturanpassungen und Steuerreformen.
Der Diskurs von Steuerreform bot technokratische Tarnung für das Ziel, die Souveränität Haitis unter ein System US-amerikanisch dominierter internationaler Herrschaft zu stellen. Die zentrale Forderung war die Abschaffung der Régie und die Einspeisung aller Einnahmen in den Staatshaushalt. So würde die finanzielle Umstrukturierung die Korruption reduzieren – und alle haitianischen Staatseinnahmen unter ausländische Kontrolle bringen. 1978 stimmte die haitianische Regierung schließlich unter internationalem Druck der Schließung der Régie zu, was sie jedoch erst 1984 umsetzte.
Um in einem veränderten internationalen Gefüge zu überleben, begannen haitianische Beamt*innen über neue Formen der finanziellen Extraktion nachzudenken. Nur wenige Monate nach der Zustimmung zur Schließung der Régie im Jahr 1979 geschah etwas, das in der antikommunistischen Blütezeit undenkbar gewesen wäre: Ciment d’Haiti wurde verstaatlicht.
Dies führte zu einer diplomatischen Krise: Beamt*innen des ehemaligen Sklavenhalters Frankreich kämpften darum, das Monopol über diesen wichtigen Wirtschaftszweig zu behalten. Auf die Verstaatlichung der Zementfabrik folgte die Übernahme anderer einheimischer Industrien, darunter eine Mehlmühle, eine Speiseölfabrik und eine Zuckerfabrik. Die Industrien verfielen unter der Aufsicht der Diktatur und das führte zu einer wirtschaftlichen Rezession. Ein Finanzcrash bereitete den Boden für die Protestbewegung, die 1986 die Diktatur stürzte und die Duvaliers ins Exil schickte.
In den folgenden Jahrzehnten nutzte die internationale Finanzwelt weiterhin den Begriff der Korruption, um durch Strukturanpassungsreformen und die »Republik der NGOs« mehr Macht über die inneren Angelegenheiten des Landes zu erlangen; die meisten haitianischen Führungspersonen taten wenig, um diese Stereotypen zu widerlegen.
Reaktion von unten
Hunderttausende Gebäude wurden in diesem politischen und wirtschaftlichen Klima errichtet. Viele Gebäude bestehen aus minderwertigem Beton, dem es an ausreichend Zement mangelt – zum Teil aufgrund der hohen Preise für inländisch hergestellten Zement. 2010 lösten sich Gebäude in Port-au-Prince während des Erdbebens 2010 in Sand auf.
Heute ist das Wohnungsproblem in Haiti nach wie vor gravierend. Einige Haitianerinnen haben zwei Meilen vom gescheiterten Wohnprojekt Village Lumane Casimir entfernt Canaan errichtet, eine ungeplante Stadt, die seit dem Erdbeben entstanden ist und heute rund 300.000 Einwohnerinnen hat. In Village Lumane Casimir gibt es sowohl ein sorgfältig vermessenes Straßennetz als auch leerstehende und vandalisierte Wohnungen. In Canaan haben Hunderttausende von Menschen eine Stadt aus dem Nichts erbaut, voll von Geschäften, Restaurants und Friseurläden. Die Einwohner*innen kämpfen derzeit darum, von der Regierung anerkannt zu werden. Sie erhoffen sich gepflasterte Straßen und Wasser.
Während Canaan wächst, stagniert Village Lumane Casimir. Indem man in Canaan den Staat nicht einbezog, floss ein größerer Teil der für die Stadt gesammelten Mittel tatsächlich in die Stadt. Doch jenseits der rechtlichen und administrativen Grenzen haben die Bewohner*innen nur einen prekären Anspruch auf das von ihnen genutzte Land.
Der Artikel erschien zuerst in englischer Sprache im Journal NACLA Report on the Americas Jahrgang 51, Heft 2.
Übersetzung und Kürzung: ak-Redaktion
Anmerkung:
1) Zu diesem Schluss kommt ein Literaturüberblick von Albert P.C. Chan und Emmanuel Kingsford Owusu im Journal of Construction Engineering and Management aus dem Jahr 2017.