Aus der Armut gegraben
In Ecuador ist die Linke hin- und hergerissen zwischen dringendem Entwicklungsbedarf und den Folgen des Ressourcenabbaus
Von Thea Riofrancos
Am 8. März 2012 machten sich einige Hundert Demonstrant_innen aus Pangui, Ecuador, einer Stadt in der Nähe der riesigen Kupfermine El Mirador im südöstlichen Amazonasgebiet, auf den Weg. Die Demonstrant_innen zogen kreuz und quer durch die südlichen Anden, wo weitere Minen in den Hochmooren geplant waren. Zahlreiche Menschen aus dem nördlichen Amazonasgebiet schlossen sich an. Als sie nach 700 Kilometern Quito, die Hauptstadt Ecuadors, erreichten, war die Zahl der Marschierer_innen auf 25.000 gewachsen.
Die Demonstrant_innen waren nach Quito gelaufen, weil dort jener Komplex aus Wirtschaftsinteressen, demokratischer Legitimität und militärischer Unterdrückung beheimatet ist, der das Fördermodell des Landes am Laufen hält. Sie waren Vorreiter_innen jener Bewegungen gegen die rücksichtslose Rohstoffausbeutung, den sogenannten Extraktivismus, die in den letzten Jahren überall auf der Welt den Kampf gegen Fracking, Ölpipelines und Umweltverschmutzung aufgenommen haben. Naomi Klein nennt diese Politik »Blockadia«. Die »Barrikaden der Blockadia« würden nicht nur gegen die sozialökologische Zerstörung errichtet, sondern auch, um die demokratische Kontrolle über die natürlichen Bedingungen unserer Existenz zu fordern. Am wichtigsten aber sei, dass die Bewegungen mit ihrem Kampf gegen die Gewinnung fossiler Brennstoffe auch den Klimawandel bremsen könnten.
Besonders in Südamerika traten solche Bewegungen auf den Plan – zu einem Zeitpunkt, als ein Boom der Rohstoffpreise die Region prägte. Als die Linke Anfang der 2000er Jahre in Venezuela, Ecuador, Brasilien und Bolivien an die Macht kam, verstaatlichte sie wichtige Wirtschaftszweige, reduzierte die Armut, verbesserte das Gesundheits- und Bildungssystem, demokratisierte den Staat und bezog Gruppen ein, die lange von politischen Entscheidungen ausgeschlossen waren.
In den letzten Jahren haben indigene und ökologische Gruppen eine entgegengesetzte Haltung eingenommen. Eine postextraktive Ökonomie – nicht die Vergesellschaftung der Extraktion – ist ihre Vision. Am intensivsten wurde dieser innerlinke Kampf in Ecuador geführt. Indigene Gruppen, die den Weg für den Aufstieg von Rafael Correa und seiner Alianza PAÍS im Jahr 2006 geebnet hatten, brachen mit der Regierung, die von Januar 2007 bis Mai 2017 amtierte. Sie verbanden den Anspruch auf territoriale Souveränität mit einem radikalen Umweltschutz, der sich energisch gegen neue Förderprojekte wandte.
Ressourcennationalismus
Ecuador ist seit Jahrzehnten von Ölförderung und -export abhängig. In den frühen 1970ern, inmitten des globalen Ölbooms, förderte die Militärregierung Rodríguez Lara eifrig neu entdeckte Ölreserven; sie sah sie als antiimperialistischen Weg zu wirtschaftlicher Entwicklung. Die Junta gründete eine staatliche Erdölgesellschaft, investierte in heimische Industrien und verteilte Land um.
Die Armut ging zurück, der Lebensstandard stieg. Sinkende Ölpreise und die Gegenmaßnahmen ausländischer Ölgesellschaften setzten dem Modell jedoch bald ein Ende. Obwohl das Experiment des Ressourcennationalismus nur von kurzer Dauer war, hinterließ es das immer wiederkehrende Bestreben, dem ausländischen Kapital die Herrschaft über das Öl zu entreißen und mit dem Rohöl ein nationales Entwicklungsprojekt zu begründen.
Mit dem Einzug des Neoliberalismus in den frühen 1980ern wurde dieser Ansatz zunächst begraben. Eine Reihe von Regierungen, die Investitionen aus dem Ausland anlocken wollten, senkten die Steuern, reduzierten die Umweltauflagen und erteilten neue Konzessionen für Abbauverträge. Als Reaktion darauf entwickelte eine breite Koalition – allen voran die nationale indigene Föderation (CONAIE), Ölarbeitergewerkschaften und eine Dachorganisation der sozialen Bewegungen – einen neuen radikalen Ressourcennationalismus.
Die Koalition und ihre Ideologie waren von den sozialen Konflikten der Zeit geprägt. Die CONAIE war zugleich eine soziale Bewegung der indigenen Bevölkerung und ein zentraler Akteur in einem breiteren Block der Unterdrückten, der gegen einen rassistischen Staat kämpfte. Soziale Konflikte sahen sie als Kampf zwischen »dem Volk« oder »den Armen« und »der Oligarchie«. Ressourcen, die von ausländischen Unternehmen in Absprache mit der einheimischen Bourgeoisie gestohlen wurden, bezeichnete CONAIE als das rechtmäßige Eigentum des Volkes. Für sie war das Problem nicht die Extraktion oder der Export, sondern dass die Einnahmen in private Kassen flossen, was Armut und Unterentwicklung zur Folge hatte.
Auch die Ölarbeiter waren Schlüsselarchitekten des Ressourcennationalismus. Ab Mitte der 1990er organisierte die Ölarbeitergewerkschaft (FETRAPEC) mehrfach Streiks und Demonstrationen gegen den privatwirtschaftlichen Bau oder die Privatisierung von Pipelines.
Anfang der 2000er Jahre wurde ein Fördervertrag mit Occidental Oil zu einem weiteren Brennpunkt der Auseinandersetzung. Im August 2005 begann ein achttägiger Ölstreik in den Amazonasprovinzen Orellana und Sucumbíos. Streikende besetzten Flughäfen, Straßen und Ölquellen. Sie forderten die Verstaatlichung von Öl und bestanden darauf, dass keine Ölverträge mehr ohne Zustimmung der Amazonasgemeinden abgeschlossen werden sollten. Am 15. Mai 2006 kündigte die Regierung Palacio den Vertrag mit Occidental.
Während sich die Ölförderung weiter ausdehnte, nahm eine neue Form des Widerstands immer deutlicher Gestalt an. Indigene Aktivist_innen erweiterten ihre Opposition gegen einzelne Ölgesellschaften um eine Kritik am ölbasierten Entwicklungsmodell insgesamt. Nach Jahrzehnten des Kampfes gegen Abholzung, Agroindustrie und die Kolonisierung des Hochlands sahen sie die Ölförderung als eine weitere Bedrohung ihrer territorialen Autonomie.
Correa an der Macht
Viele lokale Ölkonflikte legten den Grundstein für den Antiextraktivismus. Aber erst mit dem Machtantritt Rafael Correas versammelten sich oppositionelle soziale Bewegungen unter diesem Banner. Correa, der stolz den Beitritt Ecuadors zum »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« verkündete, behauptete, dass seine Regierung für den Bruch mit der »langen Nacht des Neoliberalismus« stehe und die Wirtschaft, insbesondere die natürlichen Ressourcen, unter staatliche Kontrolle stellen werde. Die Praxis erwies sich als weniger radikal: Statt auf Enteignungen setzte Correa auf neue Förderverträge, höhere Steuern und Lizenzgebühren. Das ausländische Kapital war weiterhin von großer Bedeutung. Öl finanzierte im Schnitt ein Drittel des ecuadorianischen Staatshaushalts. Doch die Staatsausgaben überstiegen die Einnahmen.
Obwohl die Verfassung von 2008 neue kollektive Rechte, das Konzept des buen vivir (gutes Leben) und die Rechte der Natur anerkannte, prägten Konflikte über Umfang der indigenen Selbstbestimmung und das extraktive Entwicklungsmodell den Verfassungsprozess. Antineoliberale soziale Bewegungen begannen, auf nationalistische Rhetorik (»Ressourcen für das Volk«) zu verzichten, und nahmen eine neue Haltung ein: gegen Extraktion, Punkt.
Der Antiextraktivismus wandte sich gegen die entwicklungspolitische und »anthropozentrische« Pathologie, in der sich die Essenz einer vom Kolonialismus geprägten »westlichen Zivilisation« abbilde. Er konzipierte den Platz des Menschen in der Welt radikal neu, auf eine Weise, die durch die Anerkennung der Natur als Rechtssubjekt in der Verfassung geprägt war: Rohöl und Erz sind Akteure, Feuchtgebiete und Berge Entitäten mit Rechten.
Der Staat reagierte widersprüchlich. Einige Vertreter_innen übernahmen Elemente des Diskurses, andere erklärten antiextraktive Aktivist_innen zu Staatsfeinden und Werkzeugen des Imperialismus. Ihre politische Macht bezog die Bewegung zum Teil aus ihrer Fähigkeit, Öl- und Bergbauprojekte zu blockieren. Die Folgen der Extraktion zeigen sich an weit entfernten Orten. Sie vermitteln sich durch die komplexen Beziehungen zwischen den Abbauorten und den Orten des Verbrauchs, sei es in Form verbrannter fossiler Brennstoffe oder staatlicher Investitionen, die durch Ölrenten finanziert werden.
Für einige Staatsbeamte stimmte die antiextraktive Kritik mit ihrem Ziel überein, die Abhängigkeit von Primärexporten mit geringer Wertschöpfung zu verringern und durch Forschung und Ökotourismus zu ersetzen. Eine andere, mächtigere Gruppe erklärte den Widerstand zum Verrat an der Nation und kriminalisierte ihn. In dem Konflikt kommt eine innerlinke Auseinandersetzung darüber zum Ausdruck, wie ein fortschrittliches Entwicklungsmodell im Globalen Süden aussehen soll. In einem Interview mit New Left Review von 2012 sprach sich Correa dafür aus, die Extraktion in diese Vision aufzunehmen: »Es ist Wahnsinn, nein zu den natürlichen Reichtümern zu sagen, wie es ein Teil der Linken vorschlägt – nein zum Öl, nein zum Bergbau, nein zu Gas, nein zu Wasserkraft, nein zu Straßen. Aber diese absurde Idee scheint zu einem Grundbestandteil des linken Diskurses geworden zu sein. (…) Wir dürfen nicht vergessen, dass das Hauptziel eines Landes wie Ecuador darin besteht, die Armut zu beseitigen. Und dafür brauchen wir unsere natürlichen Ressourcen.«
Correa benennt eine reale Herausforderung. Der radikale Ressourcennationalismus brachte ein politisches Massensubjekt gegen eine verhasste Figur, den ausländischen Kapitalisten, in Stellung. Er beschwor den Widerstand gegen den Neoliberalismus und schmiedete eine Koalition aus indigenen Organisationen, Gewerkschaften, städtische Bewegungen. Er forderte Veränderungen in der Eigentumsstruktur und Regulierung. Seine Erzählung versprach eine strahlende Zukunft mit nationaler Souveränität und breitem Wohlstand für die Massen.
Die Erzählung des Antiextraktivismus ist komplizierter. Viele indigene und Umweltaktivist_innen sprechen sich gegen die Förderung aus, definieren aber selten ihre Grenzen: Zählt der Kleinbergbau dazu? Die industrielle Landwirtschaft? Und welche alternative Vision gibt es? Ihre Vorschläge beschwören nicht selten eine imaginäre präkoloniale Vergangenheit oder eine nebulöse extraktionsfreie Zukunft.
Neue Koalitionen
Trotzdem hat der Antiextraktivismus Erfolge vorzuweisen. Mehrere Mobilisierungen haben neue Koalitionen zwischen Stadt und Land geschaffen. Einwohner_innen von Cuenca, der drittgrößten Stadt Ecuadors, haben sich mit Campesino-Aktivist_innen verbündet, die im ländlichen Hochland, direkt vor den Stadtgrenzen leben. Sie wehren sie sich gegen Bergbauprojekte, die ihre gemeinsame Wasserversorgung gefährden. Die Mobilisierung trug dazu bei, den Bau der geplanten Quimsacocha-Goldmine zu stoppen, eines der fünf »strategischen« Bergbauprojekte der Regierung. 2013 organisierte ein Aktivistennetzwerk im ganzen Land eine beeindruckende Kampagne zur Verhinderung der Ölförderung im Yasuní-Nationalpark. Es gab große Proteste in Großstädten, weit weg von den Abbaugebieten.
Zugleich verdeutlichte der letztlich erfolglose Widerstand in Yasuní auch ein zentrales Problem der Bewegung: Wie kann die Mehrheit der armen Ecuadorianer_innen mobilisiert werden, die die direkten Folgen von Öl- und Bergbauprojekten nicht erlebt und denen Correa Verbesserungen gebracht hat?
Eine Antwort auf das extraktive Modell müsste deutlich machen, dass es nicht nur Umweltzerstörungen verursacht, sondern auch neue Formen der Ungleichheit und Bereicherung hervorgebracht hat. Paradoxerweise ermöglichte die Verfügbarkeit der Ressourcenrenten es der Regierung Correa, von links zu regieren, indem sie die Sozialausgaben erhöhte, ohne die Machtverhältnisse radikal zu verändern. Heute ist das Land nach wie vor sehr ungleich verteilt, und oligarchische Unternehmensgruppen dominieren die Wirtschaft. Das Ölgeld wurde in die Taschen der Armen umgeleitet, aber sobald sie es ausgaben, strichen private Unternehmen die Gewinne ein.
Der Verfall der Ölpreise zwang die Regierung dann zu massiven Einschnitten. Gleichzeitig stieg die Verschuldung Ecuadors bei Kreditgebern wie China. Die Vorteile, die die Regierung Correa den Armen gebracht hat, waren real. Aber sie werden unter dem gegenwärtigen Entwicklungsmodell, bei dem die Klassenbeziehungen unberührt bleiben, immer in Gefahr sein.
Der Text ist eine bearbeitete Kurzfassung des Artikels »Digging Free of Poverty«, der in der Ausgabe »Earth, Wind & Fires« des Jacobin Magazines von Sommer 2017 erschien.
Übersetzung: Jan Ole Arps