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|Thema in ak 599: Islamismus

24 Stunden konzentriert für Allah

Ideologie und Zielgruppe der salafistischen Szene in Deutschland

Von Jean Rokbelle

Das Treiben salafistischer Gruppierungen kommt vielen Menschen mittelalterlich, wenn nicht steinzeitlich vor. SalafistInnen pflegen nicht nur ein längst überholt geglaubtes Menschenbild, militante Gruppen wie der »Islamische Staat« (IS) praktizieren sogar Körperstrafen und Sklaverei. Dennoch ist der Salafismus ein Phänomen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er hat in seiner gegenwärtigen Form keine Entsprechung in der islamischen Geschichte.

Aber wo liegen die Wurzeln des Salafismus und seiner militanten Variante, des salafistischen Dschihadismus? Konfrontiert mit einem in ökonomischer, technologischer und militärischer Hinsicht geradezu übermächtig erscheinenden Westen setzte im 19. Jahrhundert in vielen islamischen Ländern eine Debatte über die »Schwäche« der MuslimInnen ein. Auf der einen Seite sah man sich im Gegensatz zum »christlichen Westen« als die BesitzerInnen und AnhängerInnen von Gottes letzter und unverfälschter Offenbarung. Auf der anderen Seite war man jedoch mit Fremdherrschaft und der Dominanz durch die mächtigen westlichen Staaten konfrontiert.

Als Antwort auf diesen Widerspruch konkurrierten unterschiedliche Deutungen. Während viele MuslimInnen eine Modernisierung nach dem Vorbild westlicher Staaten forderten, sahen andere die Lösung in der Rückkehr zu einer angeblich unverfälschten Form des Islams. Aus dieser zweiten Krisendeutung entwickelte sich der Islamismus, der in seiner Geschichte wiederum viele unterschiedliche Strömungen hervorbrachte. Den Grund für die »Rückständigkeit« der islamischen Welt gegenüber den modernen westlichen Staaten suchten viele IslamistInnen nicht in sozioökonomischen Faktoren, sondern in einer geradezu kollektiven Abkehr vom wahren Islam. Westliche »Importgüter« wie Nationalismus, Säkularismus und moderne Bildung hätten die muslimische Gemeinschaft geteilt, geschwächt und vom rechten Glauben abgebracht.

Rückkehr zur »goldenen Frühzeit« des Islams

Als idealisiertes Gegenbild dient vor allem im Salafismus die angeblich »goldene Frühzeit« des Islams, also die Zeit des Propheten und seiner GefährtInnen, der Salaf as-Salih (zu deutsch etwa »die frommen Altvorderen«), nach denen diese Strömung auch benannt ist. Im Unterschied zur kläglichen Gegenwart sei die muslimische Gemeinschaft damals mächtig gewesen – ein Zustand, der durch die Rückbesinnung wiederhergestellt werden soll.

SalafistInnen streben eine Gemeinschaft an, die in jeder Hinsicht nach dem Vorbild der idealisierten frühislamischen Gemeinde eingerichtet ist. Die Moderne soll nicht wie bei manch anderer islamistischen Strömung mit dem Islam vereinbart werden, sondern wird – mit Ausnahme ihrer technologischen Errungenschaften – abgelehnt. Sozialismus, Demokratie und Menschenrechte gelten als gottlose Ideologien, denen der Salafismus eine Gemeinschaft im Rahmen der Scharia entgegenstellt.

Das islamische Recht, aus dem Koran und den Überlieferungen über das Wirken des Propheten und seiner Gemeinde abgeleitet, gilt als ultimative Richtschnur und Handlungsmaxime. Dies betrifft oft selbst das äußere Erscheinungsbild der Gläubigen. Viele Salafisten lassen sich einen faustlangen Bart wachsen, bei dem nur die Haare auf der Oberlippe rasiert sind, tragen knöchellange Gewänder und lederne Socken oder putzen sich die Zähne mit einem Wurzelstöckchen. Frauen tragen häufig lange, schwarze Kopftücher, Gewänder und vermehrt auch den Gesichtsschleier (Niqab).

Über die Einhaltung der Sitten soll eine »Religionspolizei« wachen. Gerade in den chaotischen Verhältnissen von Bürgerkriegsgebieten treten salafistische Gruppen dadurch auch als Ordnungsmacht auf. Alles menschliche Handeln überprüfen sie dahingehend, ob es – nach salafistischem Maßstab – göttlich erlaubt ist oder nicht. Abweichungen von der Schariaauslegung der SalafistInnen fallen in den Bereich des Ungehorsams gegen Gott und sind letzten Endes Manifestationen des Unglaubens. Das betrifft vor allem andere Menschen muslimischen Glaubens, weshalb SalafistInnen sich von ungläubigen Feinden geradezu umzingelt sehen. Das Ergebnis ist eine extreme Schwarz-Weiß-Zeichnung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Salafismus lebt von dieser strikten und umfassenden Trennung der Welt in Gut und Böse, Gläubig und Ungläubig. Seine Antworten auf komplexe Zusammenhänge und historische Ereignisse sind deshalb so simpel wie die von Verschwörungstheorien.

Für wen ist der Dschihadismus attraktiv?

Als Krisendeutung mit einfachen Antworten konnte der Salafismus weltweit eine beachtliche Zahl AnhängerInnen gewinnen. Diese haben ihrerseits verschiedene Strategien entwickelt, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Manche wollen die Gesellschaft von unten konservativ reformieren, andere versuchen am politischen System teilzuhaben, wieder andere wählen den Weg der Militanz – oder wie sie es nennen: den Dschihad.

AnhängerInnen der letztgenannten Variante haben in den vergangenen Monaten besondere Prominenz erlangt. So sollen seit 2012 zwischen 450 und 1.800 DschihadistInnen aus Deutschland nach Syrien und in den Irak ausgereist sein. (1) Eine Zauberformel zur Erklärung des Phänomens gibt es nicht. Blickt man auf Deutschland, ergeben sich dennoch Muster. So will das Bundesamt für Verfassungsschutz in einer Studie, bei der die Biografien von 378 ins syrische Kriegsgebiet ausgereisten SalafistInnen ausgewertet wurden, herausgefunden haben, dass nur jedeR vierte Dschihad-TouristIn einen Schulabschluss hat. Eine abgeschlossene Ausbildung können lediglich sechs Prozent vorweisen. Die Anzahl derjenigen, die vor ihrer Ausreise bereits mit Drogen-, Eigentums- oder Gewaltdelikten aufgefallen sind, ist dagegen wesentlich höher.

Viele DschihadistInnen stammen zudem aus problematischen Familienverhältnissen. ExpertInnen weisen darauf hin, dass überdurchschnittlich viele IS-Kämpfer aus Europa ohne Vater aufgewachsen sind. Zudem handelt es sich bei den NachwuchsdschihadistInnen keineswegs nur um »gebürtige« MuslimInnen. Auch viele Konvertierte haben sich dem Dschihad in Syrien angeschlossen. Rassistische Ausgrenzungserfahrungen sind daher nur ein Faktor unter vielen.

Übergreifend spielt aber ein Gefühl der »Fremdheit« eine Rolle, ein Motiv, das im Salafismus unter dem Begriff »ghurba« bekannt ist. In der Entfremdung gegenüber der Gesellschaft treffen sich ausgegrenzte MigrantInnen, SozialhilfeempfängerInnen, Konvertierte aus schwierigen Familienverhältnissen und andere, die sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen. Auch banale Dinge wie Abenteuerlust oder Freundschaft zu anderen Ausgewanderten spielen eine Rolle.

Gelockt werden sie mit der Aussicht, ihren unterdrückten »muslimischen Geschwistern« im Kampf gegen die »Ungläubigen« beistehen zu können. Im Gegensatz zur oft recht trostlosen Perspektive für SchulabbrecherInnen und Kleinkriminelle in ihren deutschen Herkunftsorten sehen junge SalafistInnen auf den Schlachtfeldern im Nahen Osten die Möglichkeit, HeldInnen zu werden, Beute zu machen und für Schlagzeilen zu sorgen.

Eine deutsche Dschihad-Bloggerin mit dem Namen Muhajira (»die Ausgewanderte«) etwa schwärmt von ihrer neuen Heimat im Kriegsgebiet. Hier sei man frei und nicht gefangen in einer wertlosen und »zugemüllten« Welt. Muhajira weiter: »Wo auch immer der Mensch lebt, immer ist er Gesetzen und Befehlen untergeordnet. Im Land der Kuffar (Ungläubigen, Anm. JR) unterliegst du deren Gesetzesbüchern und machst, was dein Chef dir in der Arbeit sagt, wenn du nicht grad irgendwelche Hartz IV Formulare ausfüllst und mit den Ämtern kämpfen musst.« All das glaubt Muhajira nun hinter sich gelassen zu haben. Statt in der Fabrik oder im Büro arbeite man im syrischen Kriegsgebiet »24 Stunden konzentriert für Allah«.

Politische Fallstricke im Kampf gegen IS

Was können Linke gegen diese reaktionäre soziale Bewegung tun? Die Frage dürfte wesentlich schwerer zu beantworten zu sein als die danach, was man nicht tun sollte. Auf der einen Seite besteht die Gefahr, den Salafismus zu verharmlosen, auf der anderen Seite schießen auch viele Linke über das Ziel hinaus und reden antimuslimischen RassistInnen das Wort. So nachvollziehbar der Schrecken über die Glaubensinhalte und Praktiken des Salafismus ist, so wichtig ist es, das Phänomen richtig einzuordnen.

Auch wenn es verharmlosend klingt: Selbst die Brutalität des IS sticht im Vergleich mit vielen anderen Bürgerkriegsfraktionen im Irak und Syrien nicht sonderlich heraus. Dennoch ist die Aufregung mittlerweile so groß, dass in linken Zusammenhängen darüber debattiert wird, ob der religiöse Fundamentalismus nicht eine größere Gefahr für die Gesellschaft ist als rechte und rechtsextreme Tendenzen. So stellt eine Antifa-Gruppe aus dem Ruhrgebiet angesichts salafistischer Umtriebe in Deutschland die Frage, inwiefern eine »Fokussierung auf deutsche Nazis überhaupt noch Sinn macht«.

Dabei zeigen die Mobilisierungen der rechtsextremen »Hooligans gegen Salafisten«, dass der antimuslimische Rassismus das Potenzial hat, in kurzer Zeit Massen auf die Straße zu bringen. (Siehe Seite 24) Sympathien für rassistische und antimuslimische Argumente reichen bis tief ins bürgerliche Lager und in die etablierten Parteien hinein.

Dagegen stehen deutsche SalafistInnen keineswegs vor einer »Machtübernahme«. Sie sind nicht in Parteien organisiert, entscheiden nicht über Zuwanderungsbegrenzungen oder Kürzungen des Sozialstaats und haben hierzulande – außer einem nicht zu unterschätzenden sozialen Druck auf andere Muslime – kaum Mittel, ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen durchzusetzen. Der Grund ist einfach: Der Salafismus ist eine Sache von »underdogs«.

Am heftigsten wird der Salafismus ohnehin von staatlicher Seite bekämpft. Am 12. November gab es eine Razzia gegen Dutzende IslamistInnen in Nordrhein-Wesfalen, die die Ausreise von IS-AnhängerInnen ins syrische Kriegsgebiet organisiert haben sollen. Auch mit Abschiebungen, Versammlungs- und Vereinsverboten und Deradikalisierungsprogrammen geht der Staat gegen die Salafistenszene vor. Linke werfen den Strafverfolgungsbehörden immer wieder vor, auf dem rechten Auge blind zu sein. Für den Kampf gegen den Salafismus gilt das sicher nicht. Hier nutzen die Behörden die Angst vor dem religiösen Fundamentalismus eher dazu, den Überwachungsapparat und repressive Kontrollmaßnahmen auszubauen.

In der berechtigten Gegnerschaft zum Salafismus finden sich Linke also auf einer Seite mit dem Staat und sämtlichen gesellschaftlichen Strömungen wieder. Dem Opfermythos (»Wir gegen den Rest der Welt!«) der SalafistInnen kommt dies gerade recht.

Jean Rokbelle

studierte u.a. in Kairo und Berlin Religions- und Islamwissenschaft und twittert unter @jeanrokbelle.

Anmerkung:

1) Die höhere Zahl von 1.800 Ausgereisten tauchte Ende Oktober in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) auf. »Wir müssen die offiziellen Angaben mit dem Faktor vier multiplizieren, um eine realistische Zahl zu erhalten«, erklärte dort ein nicht namentlich genannter Verfassungsschützer, der im selben Atemzug über Personalmangel klagte, weil »wegen des NSU-Skandals viele Kollegen in den Verfassungsschutzämtern in den Bereich Rechtsextremismus umgesetzt« worden seien (FAS). Die hohe Zahl dürfte also mindestens personalpolitisch motiviert sein. Dennoch dürfte es neben den 450 Ausgereisten, von denen beim Verfassungsschutz bislang die Rede war, eine hohe Dunkelziffer nicht entdeckter Ausreisen geben.